Tichys Einblick
Neue moralische Ständeordnung

Die zersplitterte Gesellschaft

Menschen werden wieder nach Herkunft oder Geschlecht sortiert. Warum?

© Getty Images

Frauen gegen Männer. Schwarze gegen Weiße. Homos gegen Heteros. Transgender gegen Homos. Wer sich heute im Raum der veröffentlichten Meinung bewegt, gewinnt den Eindruck, dass ein veritabler Kulturkampf tobt. Dabei steht nicht mehr Partei gegen Partei, den Wettkampf politischer Ideen und Programme hat man längst aus den Augen verloren. Vielmehr ist es so, als wäre die Gesellschaft buchstäblich in verschiedene Stämme zerfallen. In welcher Sippe man sich wiederfindet, entscheidet man nicht selbst. Klar ist nur: Die neuen Kollektive stehen sich feindselig gegenüber.

Eine solche Situation erinnert an Thomas Hobbes’ Krieg aller gegen alle. Damit beschrieb der Autor des «Leviathan» eindrücklich den mutmaßlichen Naturzustand des Menschen, in dem Angst und Aggressivität regieren. Im Gegensatz zu Hobbes’ Phantasie wird der Stammeskampf heute jedoch in der Blase der hochzivilisierten westlichen Gesellschaften ausgefochten. Er spielt sich in einer Zeit ab, in der es den Bewohnern der Wohlstandswelt besser geht als jemals zuvor.

Das ist die neue Dogmatik

Douglas Murray, erfolgreicher Buchautor, unerschrockener Freigeist und Redakteur des konservativen britischen Wochenmagazins «The Spectator», spürt der Ursache des neuen kulturellen Bürgerkriegs in seinem neuen Buch «Wahnsinn der Massen» nach. Er kleidet seine provokanten Ausführungen in ein Gedankenexperiment. Um herauszufinden, welches die blinden Flecken unserer Gegenwart sind, sollten wir uns die Frage stellen: «Worüber wären kommende Generationen ebenso entsetzt wie wir, wenn wir an den Sklavenhandel denken?»

Die alte und die neue Linke
Identitätsgerechtigkeit fragmentiert die Gesellschaft
Seine Antwort: über eine neue moralische Ordnung, die Menschen wieder kategorisiert und in höherwertig und minderwertig einteilt. Nach Murray beruht sie auf einer neuen Religion oder Metaphysik, deren Jünger seit dem Fall der Berliner Mauer erfolgreich missionieren. Entwickelt wurde die Dogmatik an den geisteswissenschaftlichen Fakultäten insbesondere der angelsächsischen Akademien. Über eine Menge universitärer Abgänger, die sich als getreue Aktivisten erweisen, wanderte sie in die Medien, in die staatlichen Verwaltungen und begann auch manche HR-Abteilung internationaler Unternehmungen zu animieren. Mittlerweile bestimmt sie ganz selbstverständlich den öffentlichen Diskurs.

Die Dogmatik der neuen Menschenkategorisierung fußt nach Murray auf marxistischen Denkmustern, und da liegt er goldrichtig. Erstens: Es gibt die Kategorie der Ausbeuter, und es gibt die unterdrückten Kollektive, genannt Minderheiten. Zweitens: Die neue Metaphysik zielt nicht darauf, den Menschen adäquat zu beschreiben, sondern will eine neue Beschreibung des Menschen wahr machen. Drittens: Der Mensch ist eine manipulierbare Masse – ändere die Art und Weise, wie er über sich selbst und die anderen denkt, so bringst du einen neuen Menschen und irgendwann eine neue gesellschaftliche Ordnung hervor.

So wie nach Marxscher Lesart die Produktionsverhältnisse die Stellung eines Menschen in der Gesellschaft gänzlich determinieren, so sind es heute die Merkmale Geschlecht, sexuelle Orientierung, Ethnie. War es bei Marx der Kapitalist, der alle ausbeutete, ist es heute der weiße heterosexuelle Mann, wahlweise wütend oder alt. Und wenn – wie Marx meinte – das Sein das Bewusstsein bestimmt, dann gibt es nicht mehr eine richtige oder falsche Darstellung der gemeinsamen Welt, auf die man sich verständigen kann. Es gibt vielmehr nurmehr eine veraltete weiße männliche Realität und darüber hinaus eine schwarze, weibliche oder transsexuelle Wirklichkeit, die wie Paralleluniversen nebeneinander existieren.

In solch verkapptem Neomarxismus geht es nicht mehr um die Diktatur des Proletariats, sondern um die Dekonstruktion des Patriarchats. Das klingt nach einem schlechten Drehbuch aus dem 19. Jahrhundert, als der Ernährer sturzbetrunken nach Hause kam, seine Frau verprügelte und sich dessen ungeachtet als Krone der Schöpfung fühlte. Obwohl heute Männer ihre Babys im Kinderwagen spazieren führen, derweil Frauen Zentralbanken leiten und große europäische Staaten lenken, wird die neue Dogmatik im universitär-medialbürokratischen Komplex nachgebetet, als wäre es zu Recht der letzte intellektuelle Schrei einer akademisch gebildeten Avantgarde.

Douglas Murrays „Wahnsinn der Massen“
Angriff auf die Kultur des Westens
Hier treffen wir nach Douglas Murray auf den theoretischen Kern der neuen Missionsbewegung. Menschen werden wie früher in einer Ständegesellschaft willkürlich in Klassen eingeteilt, die deren Wahrnehmung und Position innerhalb der Gesellschaft angeblich determinieren. Die neue moralische Hierarchie, die etabliert werden soll, beruht auf dem Prinzip der Opferwürde. Dabei wird moralisch aufgeladen, was nichts mit Moral zu tun hat – Merkmale, die nach liberalem Verständnis ebenso wenig kategorienbildend sein dürften wie Haar- oder Augenfarbe oder die Frage, ob ich die Musik von Beethoven oder von David Bowie lieber mag. So hanebüchen das klingt, so glühend wird die neue Menschentrennung von den Missionaren dennoch vertreten – wahr ist, was wahrgemacht wird. Die wichtigsten Leitsätze lassen sich leicht formulieren: Frau ist besser als Mann. Nichtweiß ist besser als weiß. Homosexuell ist besser als heterosexuell. Transsexuell wiederum ist besser als homosexuell.

Es findet ein Opferwettbewerb statt, wobei sich die verschiedenen Opfer Bonus-Punkte problemlos addieren lassen und wechselseitig verstärken. Genau dies meint das neue Zauberwort Intersektionalität: Eine nichtweiße Frau hat mehr moralische Autorität als eine weiße Frau oder ein schwarzer Mann. Eine homosexuelle schwarze Frau ist wiederum moralisch höhergestellt als eine homosexuelle weiße Frau. Schwieriger wäre die Frage zu beantworten, ob sie in der neuen moralischen Hierarchie weiter oben anzusiedeln wäre als ein transsexueller schwarzer Mann. Hier sind im öffentlichen Diskurs noch Austarierungsprozesse im Gange. Dabei gilt die Regel: Die moralisch besser gestellte Person kann die minderbemittelte verstehen, aber nicht umgekehrt. Die höhere moralische Stellung beruht zugleich auf einem höheren moralischen Wissen.

Drei Beispiele

Derselbe Mechanismus greift auch im Bereich des intellektuellen Schlagabtauschs. Es zählt nicht mehr, was jemand sagt, sondern allein, wer mit welcher moralischen Autorität etwas vorbringt. Eine Frau darf einem Mann jederzeit Misogynie vorwerfen, ein Mann aber einer Frau nie Männerfeindlichkeit – das bedeutet seinen sicheren öffentlichen Tod. Ein Schwuler darf einen Hetero locker der Homophobie zeihen, derweil ein Hetero auch dann besser um Verzeihung bittet, wenn er sich nichts hat zuschulden kommen lassen. Ein Schwarzer kann einen Weißen gar nicht rassistisch verunglimpfen, ein Weißer hingegen ist schon aufgrund seiner Hautfarbe ein Rassist, auch wenn er gegenteilig von sich denkt. Eine letzte Chance bleibt ihm dennoch. Moralisch aufwerten kann er sich, indem er sich öffentlich zur neuen moralischen Hierarchie bekennt – und Asche auf sein weißes Haupt streut.

Wer gegen die Hierarchie verstößt, also seine Opferpunkte nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt, geht seiner Privilegien verlustig. Murray listet Dutzende solcher Fälle auf. Nehmen wir Peter Thiel, den Tech-Unternehmer und Trump-Unterstützer. Thiel wagte es, 2016 an der Republican National Convention in Cleveland zu sagen: «Ich bin stolz darauf, schwul zu sein. Ich bin stolz darauf, Republikaner zu sein. Aber am stolzesten bin ich darauf, Amerikaner zu sein.» Daraufhin wurde er vom Schwulenmagazin «Advocate» aus der Gemeinde der Schwulen exkommuniziert. Die Begründung: Thiel ist ein Beispiel für Männer, die mit Männern schlafen, aber nicht schwul sind. Schwulsein ist also gemäß der neuen Ideologie nicht bloß ein Faktum, sondern immer auch ein Bekenntnis zu einer Lebensform – und zur neuen moralischen Ständeordnung.

Taliban unterm Regenbogen
Christopher Street Day ohne "Einigkeit und Recht und Freiheit"
Dasselbe gilt fürs Schwarzsein – der schwarze Rapper Kanye West wurde vom afroamerikanischen Schriftsteller Ta-Nehisi Coates als Weißenversteher hingestellt, weil er Trump eine politische Liebeserklärung machte. Oder Germaine Greer. Nachdem sie sich darüber lustig gemacht hatte, dass transsexuelle Männer sich einen weiblichen Klischeekörper wünschen, galt die Australierin in ihren Kreisen nicht mehr als progressive Feministin, sondern als reaktionäre alte weiße Frau.

Murrays Darstellung ist pointiert und an angelsächsischen Verhältnissen orientiert. Aber der amerikanische Kulturexport ist längst in Mitteleuropa angekommen. Die neue Metaphysik ist Schwachsinn. Es geht in ihr gerade nicht um eine klassenlose Gesellschaft – im Gegenteil. Eine Gesellschaft ohne künstliche, an letztlich arbiträren Merkmalen festgemachte Kategorien wäre ja ganz im liberalen Sinn: Wer will, der soll. Und wer kann, der darf. Doch eine solche Farbenblindheit unterlaufen die neomarxistischen Aktivisten mit ihrer neuen Menschenkategorisierung. Was für sie einzig zählt, sind neue moralische Opferklassen. Sie arbeiten im Namen der Gleichberechtigung an einer neuen Ständegesellschaft, die streng hierarchisch aufgebaut ist.

Das Ende naht

Die große Mehrheit der Menschen – die meisten Frauen, Nichtweißen, Homosexuellen und Transgender inbegriffen – teilt diesen Wahnsinn selbstverständlich nicht. Doch legt das anwaltschaftliche Sprechen im universitär-medial-bürokratischen Komplex dessen ungeachtet an Intensität zu, weil die Adepten der neuen Ideologiekritik kaum auf Widerstand treffen und sich erfolgreich als Wächter von Moral und Tugend zu inszenieren vermögen.

Die 90 oder gar 99 Prozent der Gesellschaft, die dies für Schwachsinn halten, arrangieren sich zumeist, weil sie ihren Frieden wollen. Um nicht verrückt zu werden, vollführen sie an sich eine Subjektspaltung: Sie leben fortan in zwei Selbstsphären, einem ehrlichen und einem unehrlichen, einem privaten und einem offiziellen Ich. Sie versuchen sich an den moralischen Neusprech zu gewöhnen. Sie reden sich ein, dies alles sei nicht so schlimm, es gehe ihnen ja gut, und das seien nun mal die neuen Zeiten. Doch die Ich-Spaltung demoralisiert sie auf Dauer. Irgendwann werden sie aufstehen und sagen, was sie wirklich denken: Das Patriarchat ist ein Pappkamerad. Der Neomarxismus ist Bullshit. Es gibt keine moralische Hierarchie. Die neue Metaphysik ist rassistisch. Der Kaiser ist nackt.


René Scheu ist Feuilletonchef der Neuen Zürcher Zeitung. Dort ist seine Rezension zuerst erschienen. Wir danken Autor und Verlag für die Genehmigung zur Übernahme.


Douglas Murray, Wahnsinn der Massen. Wie Meinungsmache und Hysterie unsere Gesellschaft vergiften. Edition Tichys Einblick im FinanzBuch Verlag, 346 Seiten, 24,99 €.


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