Tichys Einblick
Kennst Du das Land, wo die Neurosen blühen?

Die Deutschen brauchen mehr Vernunft dringender als mehr Vaterlandsliebe!

Wolfgang Herles reflektiert über die „neurotische Nation“ und seziert die bundesrepublikanische Geschichte vom Wirtschaftswunder bis zur Willkommenskultur.

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TE-Kolumnist Wolfgang Herles hat ein Buch aktualisiert und neu veröffentlicht, das vor zehn Jahren nicht die Resonanz fand, die es verdient. Glänzend zerlegt er in seiner anderen Geschichte der Bundesrepublik das gern erzählte Narrativ vom Wiederaufstieg der kapitalistischen und demokratischen Bundesrepublik. Die fürchterlichen Morde und die totale Zerstörung durch den Nationalsozialismus haben zwar die Teilung des Landes zur Folge. Aber die weltweit bewunderte „soziale Marktwirtschaft“ beschert den Deutschen im Westen als Folge des Wirtschaftswunders zumindest einen Wohlfahrtsstaat erster Güte.

Zum vollkommenen Glück fehlt dem Land nur die Vereinigung mit den Schwestern und Brüdern im sozialistischen Osten. Erst mit dem „Mauerfall“ hat die Geschichte endlich ein Einsehen. Das wiedervereinigte Deutschland wird zum Motor der europäischen Einigung, der Euro löst die DM ab. Die Berliner Republik gewinnt an Ansehen und wirtschaftlicher Kraft. Eine Frau aus dem Osten, die viermal gewählte Kanzlerin, gilt lange als mächtigste Frau der Welt, wird geschätzt und bewundert. Die Deutschen haben aus ihrer Geschichte gelernt und dem finstersten Kapitel ein Happy End folgen lassen.

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Doch diese Erklärung liefert laut Herles ein Zerrbild. Schon Konrad Adenauer, der erste Kanzler Westdeutschlands, hatte Angst vor der Wiedervereinigung, weil sie in einem sozialistischen Deutschland zu münden drohte. Zwar hielt er öffentlich immer am Ziel der Vereinigung fest, setzte aber gegen härteste Widerstände die Westbindung und später auch die Wiederbewaffnung durch. In der Bevölkerung und selbst in seiner CDU gab es starke Sympathien für eine andere Wirtschaftsordnung. Der Nationalsozialismus hatte durchaus nachhaltig sozialpolitischen Kollektivismus im Volk gezüchtet und die Sehnsucht nach dem starken Staat ja geradezu pervers erfüllt. Soziale Sicherheit war damals und ist der Mehrheit der Deutschen heute mehr wert als Freiheit. Wer das Ahlener Programm der CDU vom Februar 1947 heute liest, könnte ganze Passagen der Linkspartei zuordnen.

Dass sich heute die Linke Sahra Wagenknecht auf Ludwig Erhard und die soziale Marktwirtschaft beruft, pervertiert das freiheitliche Mantra des ersten deutschen Wirtschaftsministers. Erhards Credo lautete: „Ich will mich aus eigener Kraft bewähren, ich will das Risiko des Lebens selbst tragen, will für mein Schicksal selbst verantwortlich sein. Sorge Du, Staat, dafür, dass ich dazu in der Lage bin.“ Zeit seines Lebens warnte Erhard vor Kollektivismus, weil er die Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft unterminiert. Doch schon Adenauer bremste bekanntlich seinen Wirtschaftsminister bei der Rentenreform der Fünfziger Jahre aus. Außer der Agenda 2010-Reform in der Ägide Gerhard Schröders und der Erhöhung des Renteneintrittsalters in der ersten großen Koalition unter Angela Merkel besteht die Sozialpolitik in Deutschland aus einer immer größeren Abkehr vom Postulat der Eigenverantwortung.

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Herles bemüht als Erklärung für die Haltung der Deutschen wie ihrer Politiker die Psychologie. Nicht nur Individuen könnten Neurosen ausbilden, sondern auch ganze Gesellschaften. Verursacht durch das Trauma des Nationalsozialismus hätten die Deutschen ihr Heil im Verdrängen gesucht. Die Nazi-Verbrecher seien dämonisiert und gleichzeitig verharmlost worden. Die millionenfachen Mitläufer und tausendfachen Mittäter wurden von einer Justiz aus überwiegend ehemaligen NSDAP-Mitgliedern geradezu skandalös verschont. Das Volk wollte einen Schlussstrich und redete nicht mehr über das tausendjährige Reich. Die Elterngeneration verweigerte sich der rebellischen 68-Generation mit ihren bohrenden Fragen nach der individuellen Mitschuld. Die Folge war ein Generationenkonflikt in Wertefragen, wie er in dieser Schärfe in keiner anderen Gesellschaft diagnostiziert werden konnte.

Ähnlich wie nach der Nazi-Diktatur verlief übrigens auch die Aufarbeitung der SED-Diktatur. Die alten Kader wurden nur in wenigen Einzelfällen zur Verantwortung gezogen. Stasi-Mitarbeiter und SED-Aktivisten genießen unbehelligt gute Renten und Pensionen oder wurden sofort für neue Aufgaben im demokratischen Deutschland akquiriert. Die Schwamm-Drüber-Haltung ist im Osten genauso ausgeprägt wie im westlichen Nachkriegsdeutschland. Viele glorifizieren im Nachhinein die sozialen Segnungen des SED-Staats, beklagen die unerfüllten materiellen Wohlstandsversprechen, die man im Osten mit dem BRD-Wohlstand verband. „Die Mehrheit wollte den Wohlstand des Westens zu den Bedingungen des Ostens“, schreibt Herles. Auch dieser säkulare Systemumbruch, der die Lebensbiografien von Millionen Menschen in wenigen Monaten umkrempelte, dient ihm als Erklärung für die neurotische Disposition in Deutschland.

Kollektiv lenkbar
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Resultat dieser neurotischen Verdrängung ist ein merkwürdiges Reaktionsmuster der Deutschen. Sie wollen immer auf der moralisch richtigen Seite stehen, resümiert Herles. Die Willkommenskultur im Spätsommer/Herbst 2015 ist anschaulicher Beleg dafür, wie selbst rational berechtigte Fragen nach den Kosten der Massenmigration sofort „politisch korrekte“ Abwehrreaktionen provozieren: Achtung, hinter solchen Fragen verstecken sich Rassismus und Rechtspopulismus! Die darf man deshalb erst gar nicht stellen.

Ergebnis einer solchen angstverstellten und irrationalen öffentlichen Debatte ist dann eine „alternativlose“ Politik, die sich in den etablierten politischen Parteien ebenso eingenistet hat wie in den öffentlich-rechtlichen Medien. Dabei braucht eine demokratische Gesellschaft eine offene Debatte, zivilcouragierte Citoyens mit Mut zur Freiheit. Doch „Sozialstaat, Steuerstaat, Regulierungswut reduzieren in Deutschland die Freiheit des Einzelnen über das Maß des Erträglichen hinaus“, bilanziert Herles. „Nur Individuen können frei sein, nicht Kollektive!“

Mein Fazit: Unbedingt lesen! Eine kluge, gut geschriebene und aufschlussreiche andere deutsche Geschichte von 1945 bis heute.

Wolfgang Herles, Die neurotische Nation. Eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland von Adenauer bis Merkel.
Edition Tichys Einblick, 320 Seiten, 22,99 €.

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