Tichys Einblick
»Bürger« kommt von »Burg«

Über die Gefährdung und Verteidigung der bürgerlichen Demokratie

Anders als der Fundamentalist und der Romantiker schwärmt der Bürger nicht von der Einheit der Gegensätze, sondern er müht sich in steter Arbeit um deren Ausgleich: zwischen Rechten und Pflichten, individuellen und gesellschaftlichen Interessen, Freiheit und Ordnung.

Die bürgerliche, auf Ausgleich der Interessengegensätze bedachte Demokratie wird heute weniger als im 20. Jahrhundert von diktatorischen Machtergreifungen und vielmehr von Oligarchien gefährdet, die Gesellschaft und Märkte zu ihren Gunsten manipulieren. Oligarchien unterscheiden sich neben vielem anderen nach reiner Vorteilsnahme in der Vettern- bzw. Stammeswirtschaft, wie in Rußland und weiten Teilen Afrikas, und nach Oligarchien wie der Kommunistischen Partei Chinas, in denen restideologische, aber auch meritokratische Elemente gegeben sind.

Gerade Kulturen, die keinen Anschluß an die zunehmend wissensbasierte Weltzivilisation finden, verhärten sich oft zum Kulturalismus. Der totalitäre Islamismus will die Einheit von Gott und Welt erzwingen. Die weltanschaulich merkwürdige Sympathie der postmodernen Linken im Westen selbst für radikale Varianten des Islams erklärt sich nur aus der gemeinsamen Gegnerschaft zum unvollkommenen bzw. unreinen Westen, der in der Tat weder den utopischen Ansprüchen diesseitiger noch denen jenseitiger Heilslehren gerecht zu werden vermag.

Eine weitere Bedrohung der bürgerlichen Gegenseitigkeit liegt im Globalismus von Eliten, die sich statt der eigenen Gesellschaft der ›Einen Welt‹ verbunden fühlen. »No  border, no nation«, so steht es auf Stickern unserer Studenten, Träume von einer Welt, in der es keine Nullsummenspiele, Gegner, Rivalen oder Feinde mehr gibt  – außer denen, die diese Weltsicht nicht teilen.

Dieses neue Weltbürgertum umfaßt ehemals ideologisch verfeindete Gruppen. Neoliberale Global Player halten jede Zoll- und Handelsgrenze für überflüssigen Ballast auf dem Weg zu totalem Wettbewerb und grenzenlosem Export. Die  Plattformwirtschaft entzieht sich den nationalstaatlichen Steuern und Abgaben und schwächt die umgrenzten Gemeinschaften. Amazon zahlt in Irland nur geringe Steuern, während die ortsgebundenen Einzelhändler den öffentlichen Belastungen nicht ausweichen können. Eine Europäische Union, die solche Strukturen begünstigt, wird keine große Zukunft haben.

Notizen eines Unangepaßten
Die Kneipe als Zeigerpflanze oder wie Max Otte die Welt sieht
In der Finanzkrise von 2008 haben sich die Marktkräfte als den globalen Interessen unterlegen erwiesen. Auf Kosten der öffentlichen Hand wurden Banken gerettet und auf abenteuerliche Weise die Leitzinsen gesenkt. Zu  den Verlierern gehört der bürgerliche Sparer. Der Großinvestor Warren Buffett sprach von einem Klassenkampf von oben nach unten, den die Reichen gewonnen hätten. Max Otte erkennt in Deutschland nur noch einen »Restmittelstand«. Die Mittelschicht sei immer Deutschlands Stärke gewesen, heute aber längst am Minimum angekommen. Für Arbeiter und den gewerblichen Mittelstand ist Weltoffenheit in Schutzlosigkeit umgeschlagen.

Für die neue Oligarchie der Davos-Eliten ist Globalität wichtiger als Freiheit. Im ›Great Reset‹ sollen digitale, physische und soziale Identitäten vereint und überwacht werden. Dieser Digitalismus könnte sich als Einfallstor für einen neuen Totalitarismus erweisen, der – etwa im Dienst der Gesundheit  – Grundrechte außer Kraft setzt. Danach steht der Klimawandel bereit, um die Menschheitsmoral mit Hilfe sozialer Bewegungen gegen überkommene bürgerliche Rechte und Interessen, von der Familie bis zum Eigenheim, voranzutreiben.

Denn auch der heutigen humanitären Linken geht es im Rahmen ihrer internationalistischen Tradition nicht um den Staatsbürger oder um eine eigene Arbeiterklasse, sondern um ›die  Menschheit‹. Der kaum auflösbare Widerspruch zwischen nationalem und internationalem Sozialismus kann durch ihre Identitätspolitik und ihren ›Kampf gegen rechts‹ nur verdeckt, aber nicht aufgehoben werden.

Das Subsidiaritätsprinzip wird vom Globalismus auf den Kopf gestellt. Die eigene Kultur darf nichts Besonderes sein. Wenn sie dies – etwa auf wissenschaftlich-technischer Ebene – dann doch ist, macht sie sich am Gleichheitsideal der Kulturen schuldig. Die Anywheres üben beinahe demonstrativ mehr Solidarität gegenüber Fremden als gegenüber den Armen im eigenen Land. Die Aufspaltung der Gesellschaft in Gewinner und Verlierer schreitet voran und wird oft nur noch vom Sozialstaat in erträglichen Bahnen gehalten.

Selbstauflösung des Bürgertums

Der zunächst paradox erscheinende Zusammenhang zwischen Globalismus und dem radikalisierten Individualismus unserer Tage liegt, so Roger Scruton, in deren gemeinsamer Ablehnung von Nahraumverpflichtungen. Jedwede anstrengende Loyalität, die individuelle Freiheiten einschränken könnte, wird mit gutem Gewissen verweigert. Die neuen Weltbürger definieren ihre Ziele und Ideale gegen die alten Zugehörigkeiten: gegen Familie, Klasse und Nation. Statt ihren Nationalstaat unterstützen sie ferne, internationale Organisationen und verfolgen im Namen universeller Werte politische Visionen, die keinerlei Bezug mehr zu ihren historischen Gemeinwesen haben. Ihre Dreh- und Angelpunkte suchen sie außerhalb ihrer eigenen Gesellschaft, manche nutzen diese sogar, um die Fundamente der ererbten Gemeinschaft auszuhebeln.

Mit der Selbstvergöttlichung des Individuums geht eine Abweisung oder Herabstufung Gottes einher. Der Mensch selbst ist nun das höchste Wesen und übernimmt von Gott die Rolle als Schöpfer der Geschichte. Noch vor einer Generation war der Glaube dominant, daß jeder Mensch von der Erbsünde beschwert durchs Leben geht, auf Buße und Gnade angewiesen ist. Heute gilt er als autonom. Der sich steigernde Individualismus ist schließlich in Narzißmus umgeschlagen, der durch seine Massenhaftigkeit wirkliche Individualität zur Ausnahme macht.

Eine Anleitung für Gegenwart und Zukunft
Ohne Zugehörigkeit kann es keine Freiheit geben
Der Individualismus der Achtundsechziger war gegen alles Bürgerliche gerichtet. Das Subjekt sollte aus den Fesseln der repressiven industriellen Moderne und der kleinbürgerlichen Alltagskultur befreit werden. Emanzipierter sollte das Subjekt sein, hedonistischer und sensibler, mehr am eigenen Leben als an den Normen der Selbstdisziplin orientiert. Während die industrielle Moderne auf der Reproduzierbarkeit von Standards, von Normalität und Gleichförmigkeit basierte und noch eine Vorherrschaft des Allgemeinen galt, ruft die spätmoderne Gesellschaft nach der Verfertigung von Besonderheiten und Einzigartigkeiten, nach der Prämierung von Differenzen. Das interessante Leben des spätmodernen Subjekts dient in der Aufmerksamkeitsökonomie der Schaffung von »Singularitätskapital« (Andreas Reckwitz).

Der Niedergang der sozialen Nahraumsolidarität wird durch eine Parteinahme für kulturelle Mikroidentitäten kompensiert, vornehmlich entlang ethnischer, religiöser oder sogar geschlechtlicher Merkmale. Die identitären Ideologien, wie Feminismus, Antirassismus und Multikulturalismus, sind wiederum antisolidarisch, weil sie nur den Interessen bestimmter Identitätsgruppen dienen und an die Stelle des gesellschaftlichen oder staatlichen Gemeinwohls treten.

Diese identitären Bedrohungen einer individuellen und freiheitlichen Ordnung könnten die große Stunde des bürgerlichen Liberalismus sein. Zumal der seit 1979 radikalisierte Scharia-Islam alles in Frage stellt, was eine liberale Ordnung ausmacht: Säkularität, Ausdifferenzierung der Funktionssysteme, Rechtsstaatlichkeit, Rechte des Individuums, Beschränkung der Staatsgewalt, Meinungs- und Religionsfreiheit, Bejahung von wissenschaftlich-technischem Fortschritt.

Anders als die Linken hegen Liberale gegenüber dem Islam keine Freundschaft, aber sie verzichten mit ihrer einseitigen Toleranz auf Gegenseitigkeit und Wehrhaftigkeit. Damit ist im Ergebnis die Toleranz selbst bedroht. Diese Naivität setzt sich fort, wenn neuerdings ›Vielfalt‹ undifferenziert und immerzu als etwas Positives gilt, so als ob sich in ihr nicht auch viel Übles verbergen könnte. Selbst in der Außenpolitik unterminiert diese Haltung unsere Ordnung, weil sie nicht mehr zwischen Freunden, Gegnern und Feinden zu unterscheiden weiß.

Dieser Mangel an Selbstbehauptungswillen beruht auch auf der Unkenntnis des Zusammenhangs von Kultur und Freiheit und zudem auf der ideologischen Dominanz von Links-Liberalen, die sich mit allem Progressiven zum Endsieg des Guten verbünden. Konservative Liberale sorgen sich dagegen um den Bestand von mühsam errungenen und immer gefährdeten Freiheiten.

Wie sehr sich ein undifferenziertes Fortschrittsdenken in falsche Bündnisse verirren kann, zeigt die Rolle der Liberalen im Zarenreich. Schon lange vor der bolschewistischen Machtergreifung wurde Rußland von Terror heimgesucht. Das russische Bürgertum schlug sich nicht auf die Seite des Zaren. Anwälte, Lehrer, Ärzte und Industrielle sammelten Geld für Terroristen und Radikale, um ihre fortschrittliche Gesinnung zu demonstrieren. Dabei verschwiegen die Extremisten nicht einmal, was mit ›der Bourgeoisie‹ nach ihrer Revolution geschehen würde. Dem iranischen Bürgertum erging es nicht besser: Sie wurden nach dem gemeinsamen Kampf gegen den Schah von den Ajatollahs zu Tausenden hingerichtet.

Warum Europa sich beschränken muss
Risse im ökonomischen Netz des Globalismus
Eine Achillesferse des spezifisch bürgerlichen Liberalismus ist sein notorischer Geschichtsoptimismus, dem zufolge Freiheit als das Telos der Geschichte gilt. Eine liberale Demokratie ist jedoch nicht das selbstverständliche Ziel der Geschichte, sondern – sowohl im historischen als auch im internationalen Vergleich  – eine Ausnahme, die immer bedroht ist und immer neu behauptet werden muß. Wo Liberale nicht mehr im Bündnis mit Konservativen die Freiheit bewahren, sondern sie progressiv immerzu erweitern wollen, verfehlen sie heute das Thema. Neue autoritäre Kräfte stoßen fast zwangsläufig in dieses Vakuum. Wutbürger treten den Weltbürgern entgegen, die Spaltung der Gesellschaften nimmt ihren Lauf.
Wiederaufbau eines kulturchristlichen Bürgertums

Der linke ›Kampf gegen rechts‹ höhlt die politische Mitte weiter aus, weil in ihm nicht einmal zwischen denjenigen differenziert wird, die als Konservative die Demokratie bewahren, und denjenigen, die als Rechtsextreme die Demokratie bekämpfen wollen. Sowohl das Besitz- als auch das Bildungsbürgertum sind selbst in Global und Local Player gespalten. Nur mühsam kann sich demgegenüber ein neuer bürgerlicher Selbstbehauptungswille formieren.

Der Wiederaufbau eines neuen bürgerlichen Selbstbewußtseins scheint am ehesten in jenen Ländern zu gelingen, in denen noch Bezüge zu den kulturellen und religiösen Quellen vorhanden sind, wie in Mittelosteuropa oder den USA. Ohne den erkannten Zusammenhang zwischen kulturellen Quellen und zivilisatorischen Fortschritten fehlt das wichtigste Narrativ des Bürgertums. Es war nicht erst die protestantische Ethik, sondern die zukunftsorientierte Theologie des Christentums überhaupt, die ein Element immanenter Vernunft und Logik in die mittelalterliche Welt warf und damit, so Rodney Stark, das rationale Wirtschaften und den kapitalistischen Fortschritt auf den Weg gebracht hatte.

Eine Rekonstruierung des Zusammenhangs von Wissen, wirtschaftlicher Freiheit, Wohlstand und der christlichen Doktrin moralischer Gleichheit würde dazu beitragen, bürgerliche Freiheiten und Ordnung wieder zu versöhnen. Dem christlichen wie dem bürgerlichen Menschenbild zufolge sind Menschen zum Guten und zum Bösen fähig. Deshalb bedarf es des Förderns und Forderns und der Belohnungen und Sanktionen.

Im geistigen Gefolge der christlichen Soziallehre könnten Personalität, Subsidiarität und Solidarität  – zunächst mit dem Nächsten, nicht dem Fernsten – die Gegenseitigkeiten des Bürgertums wiederherstellen helfen. Sie wären sowohl links als auch rechts und, insofern sie Eigentum und Selbstverantwortung des einzelnen fördern, auch noch liberal. Die Orientierung am Naturrecht und am Gemeinwohl wäre wiederum mit den Idealen ökologischer Nachhaltigkeit vereinbar.

Die Spaltung des innerbürgerlichen Gegensatzes zwischen Liberalen und Konservativen ließe sich durch Differenzierungen zwischen Kultur, Gesellschaft und Staat relativieren. Die Voraussetzung kultureller und gesellschaftlicher Vielfalt wäre die Loyalität gegenüber den staatlichen Leitstrukturen, von der säkularen Gewaltenteilung über den Gesetzesgehorsam bis hin zur Schulpflicht und zum Gewaltmonopol des Staates.


Heinz Theisen, Bürgerlichkeit. Gekürzter Beitrag aus:
David Engels (Hg.), Europa aeterna. Unsere Wurzeln, unsere Zukunft. Manuscriptum, Klappenbroschur, 443 Seiten, 24,00 €.


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