Tichys Einblick
Die Rückkehr der Räterepublik

Das Los entscheidet: Beteiligung der Bürger durch «Bürgerräte»

Ralf Schuler wird auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse der Jürgen-Moll-Preis 2023 für verständliche Sprache in der Wissenschaft verliehen werden. Mit ihm wird ein Autor ausgezeichnet, dessen Texte sich mühelos lesen lassen und die dennoch gehaltvoll sind, wie folgender kurzer Auszug aus seinem jüngsten Buch belegt.

Daran, dass der vertrackte Bürger partout nicht in die Richtung der Progressiven marschieren möchte oder wenn, viel langsamer als gewünscht, daran ist mitunter auch diese lästige Demokratie schuld. Nahezu alle Parteien kennen es: Man hat ein tolles Programm, will das Land «zukunftsfest» machen, weil die Zukunft im Falle des Einflusses von Mitbewerbern womöglich gänzlich ausbleibt, und der Wähler verweigert einfach die zum «Durchregieren» nötigen Mehrheiten.

Bitter.

Da muss sich doch etwas machen lassen, ohne gleich zu Putsch und Notstand greifen zu müssen.

Eine besonders raffinierte Idee, mit Meinungen, Mehrheiten und Mandaten im Sinne des gewünschten Gleichschritts zu jonglieren, ist das Projekt sogenannter «Bürgerräte»: Bis Ende 2022 sollten nach dem Willen von Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) die ersten Gremien dieser Art etabliert werden. Die Idee stammt aus der vorherigen Legislaturperiode und war ein Zugeständnis der Union an die SPD, um zu verhindern, dass weitere plebiszitäre Elemente auf Bundesebene eingeführt werden.

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In den «Bürgerräten» sollen per Los ermittelte Bürger – unter der Schirmherrschaft von Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble und dem früheren bayerischen Ministerpräsidenten Günther Beckstein – konkrete Einzelthemen (z. B. Impfpflicht oder Ähnliches) beraten und am Ende ein Votum vorlegen.

Der Trick: Durch das Losverfahren soll verhindert werden, dass die klassischen Kräfteverhältnisse entlang der parteipolitischen Linien abgebildet werden. Auch die proportionale Entsendung von Teilnehmern aus großen gesellschaftlichen Verbänden und Einrichtungen liefe in den Augen der Initiatoren auf eine Reproduktion bestehender Einflusssphären hinaus. Wählt man die Bürgerräte per Los aus, so entscheidet vermeintlich der Zufall über die Zusammensetzung des Gremiums.

Allerdings nicht ganz: Eine Jury sichtet vor der eigentlichen Themenarbeit die ausgelosten Teilnehmer und wählt den endgültigen Personenkreis aus. Der unausgesprochene Hintergedanke besteht darin, dass in einem solchen «Bürgerrat» sich Mehrheiten finden könnten, die sich im parlamentarischen Betrieb nicht finden.

Das Thema ist für die reichweitenstarke Berichterstattung zu «unerotisch», um große Wellen zu schlagen, und wenn doch berichtet wird, klingt es durchweg sympathisch: «Bürgerräte». Wer könnte dagegen etwas haben?

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Wirkliche Demokraten zum Beispiel. Denn es ist durchaus problematisch, neben den klassisch per Wahlen und Mandat demokratisch legitimierten Entscheidungsgremien ein weiteres, gewissermaßen freischwebendes Forum zu etablieren, das am Ende öffentlichkeitswirksam seine Beschlüsse verkündet und damit die gewählten Volksvertreter unter Druck setzt, dem entweder zu folgen oder als Verächter des Bürgerwillens zu gelten.

Um es klar zu sagen: «Bürgerräte» sind in der Verfassung nicht vorgesehen. In der repräsentativen Demokratie werden Abgeordnete gewählt und in Parlamente entsandt, die sich für ihre politischen Entscheidungen am Ende verantworten müssen und abgewählt werden können. Auf «Bürgerräte» trifft nichts von all dem zu.

Den Trend zu dieser Art von Entkernung der Verfassungsordnung gibt es schon länger. Angela Merkel (CDU) setzte 2011 eigens eine «Ethikkommission» ein, um über den Atomausstieg beraten zu lassen. Ein Mandat hatte diese Kommission nicht, ihr Votum wurde später übernommen und umgesetzt. Auch der Ausstieg aus der Kohle-Verstromung wurde von einem externen Gremium mit Vertretern der Wirtschaft, Politik, Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen beschlossen. Die eigentlich zuständigen Volksvertreter der Legeordneten, konnten am Ende nur noch vollziehen, was extern festgezurrt wurde, weil sonst ein mühsam gefundener Kompromiss in Gefahr geraten wäre.

Die aktuelle Ampel-Regierung will das System der Bürgerräte noch ausbauen und damit die Klarheit der politischen Entscheidungsfindung weiter aufweichen. So verführerisch die «Bürgerräte» auch klingen, sie ermöglichen auch ein munteres manipulatives Jonglieren mit Meinungen: Ist die Ratsmeinung genehm, betont man den basisdemokratischen Aspekt der Bürgerräte. Passt die vermeintliche Bürgermeinung nicht, kann man sich auf die Beschlussfassung in den regulären parlamentarischen Gremien zurückziehen. Im Kern wird hier unter dem Bürger-Etikett mit dem Engagement der Basis Schindluder getrieben.

Ralf Schuler, Generation Gleichschritt. Wie das Mitlaufen zum Volkssport wurde. Fontis Verlag, Hardcover, Lesebändchen, 208 Seiten, 22,90 €.


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