Tichys Einblick
Machtübernahme vor 90 Jahren

90 Jahre Machtergreifung – ein düsterer Jahrestag

Hitler verstand sich selbst ohne Wenn und Aber als Revolutionär. Es gelingt Dr. Zitelmann anhand zahlreicher Originalzitate der Nachweis, dass Hitler auf politischer, sozialer wie auch ökonomischer Ebene eine grundlegende Umgestaltung der bestehenden Verhältnisse anstrebte.

Tichys Einblick: Herr Zitelmann, diese Frage zuerst: Machtergreifung oder Machtübernahme?

Zitelmann: Wenn man nur auf den 30. Januar 1933, also die Ernennung von Hitler zum Reichskanzler, schaut, kann man von einer Machtübernahme oder auch einer Machtübergabe sprechen. Der Prozess der Machtergreifung begann an diesem Tag und endete erst im Sommer 1934. Die Nationalsozialisten selbst sprachen von einer „Revolution“. Und wenn man unter einer Revolution eine radikale Umgestaltung der gesamten politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Institutionen und Lebensverhältnisse versteht, dann muss man in der Tat von der nationalsozialistischen Revolution sprechen. Das Widerstreben dagegen hängt vor allem damit zusammen, dass bei manchen Leuten das Wort „Revolution“ eine positive Konnotation hat.

Die NSDAP hat in der Novemberwahl 1932 gegenüber der Wahl im Juli desselben Jahres an Unterstützung eingebüßt. Dennoch bekam die NSDAP einen Regierungsauftrag, obwohl ihr Stern wieder am Sinken war. Hätte man die Situation aussitzen können?

Eine kontrafaktische Geschichtsbetrachtung ist immer schwierig. Da die Arbeitslosigkeit jedoch ihren Höhepunkt bereits überschritten hatte, könnte es in der Tat sein, dass die NSDAP weiter an Stimmen eingebüßt hätte, wenn Hindenburg Hitler nicht zum Reichskanzler ernannt hätte.

Wie groß ist die Schuld der politischen Eliten am Aufstieg und der Machtübernahme Hitlers und wer hat Ihrer Ansicht nach die größte Verantwortung für die Kabinettsbildung im Januar? (Hindenburg, Papen, Schleicher …?)

TICHYS LIEBLINGSBUCH DER WOCHE
Eine Verteidigung des Kapitalismus – sachlich, empirisch, überprüfbar
Man muss hier differenzieren, was gemeint ist, wenn man von den „Eliten“ spricht. Die beliebte linke Legende, „das Großkapital“ habe Hitler an die Macht gebracht, wurde durch die historische Forschung eindrucksvoll widerlegt. Ich habe die Ergebnisse dieser Forschungen jüngst noch einmal in einem Kapitel meines Buches „Die 10 Irrtümer der Antikapitalisten“ zusammengefasst. Der amerikanische Historiker Henry A. Turner fasst als Ergebnis seiner umfangreichen Forschungen zu dieser Frage zusammen, „dass die Mittel der Wirtschaft, die den Nationalsozialisten zuflossen, nur einen kleinen Teil der Gelder ausmachten, die an ihre Gegner und Rivalen verteilt wurden. Wenn man alles gegeneinander abwägt, waren die finanziellen Zuwendungen aus der Wirtschaft ganz überwiegend gegen die Nationalsozialisten gerichtet.“

Was die politische Elite anlangt, so liegt deren Schuld in der grenzenlosen Naivität, die für das Bürgertum oft charakteristisch ist. „In zwei Monaten haben wir Hitler in die Ecke gedrückt, dass er quietscht!“ Mit diesen Worten verlieh Franz von Papen seiner fatalen Fehleinschätzung Ausdruck, man werde die Nationalsozialisten in dem am 30. Januar 1933 gebildeten Reichskabinett schon unter Kontrolle zu halten wissen. Der Historiker Karl-Dietrich Bracher wiederholte zu Recht immer wieder, die Geschichte Hitlers sei die Geschichte seiner Unterschätzung.

Welche biografischen Ereignisse sehen Sie als grundlegend an, die Hitlers späteres politisches Leben prägten? Gibt es eine bestimmte Zäsur in seinem Leben, die seinen Werdegang beeinflusste? War Hitler Symptom der „Lost Generation“ des Ersten Weltkrieges?

Deutschlands Niederlage im Ersten Weltkrieg war sicher eine entscheidende Zäsur, die Hitler prägte. Aber das traf für viele andere Deutsche auch zu.

Von welcher Bevölkerungsschicht hat Hitler am meisten Unterstützung bei den Wahlen und danach erfahren, auf welche konnte er wenig oder gar nicht zählen? Gibt es Überschneidungen zu späteren Wegbegleitern und Widerstandsgruppen?

Die NSDAP war sozial gesehen eine „Volkspartei“. Der Mittelstand spielte eine große Rolle, aber 40 Prozent der NSDAP-Wähler kamen auch aus der Arbeiterschaft, wie der Politikwissenschaftler und Wahlforscher Jürgen W. Falter gezeigt hat. Am wenigsten zählen konnte Hitler auf überzeugte Katholiken. Im Juli 1932 bekam die NSDAP 37 Prozent der Stimmen. Hätten nur die Katholiken wählen dürfen, wären es gerade mal 16 Prozent gewesen – umgekehrt: Hätten nur die Protestanten wählen dürfen, hätte Hitler 44 Prozent der Stimmen bekommen.

Sie haben neulich in mehreren Aufsätzen die These vertreten, dass der Antikapitalismus eine viel größere Rolle in Hitlers Denken spielte als bislang angenommen. War Hitler ein Sozialist?

Wenn man unter Sozialismus ein System versteht, in dem das Privateigentum abgeschafft ist und alles verstaatlicht wird, dann war Hitler kein Sozialist. Aber er war auch auf keinen Fall ein Anhänger von Marktwirtschaft und Kapitalismus. Ich zeige in meinem Buch „Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs“, dass er ab Mitte der 30er Jahre und insbesondere ab Anfang der 40er Jahre zunehmend ein Anhänger der Planwirtschaft wurde.

Klassiker neu gelesen
Ohne Massenbewegung ist totale Herrschaft nicht möglich
Die Nationalsozialisten planten für die Zeit nach dem Krieg den Ausbau der Planwirtschaft, wie wir aus vielen Bemerkungen Hitlers im internen Kreis wissen. Er bewunderte das sowjetische Wirtschaftssystem zunehmend. „Wenn Stalin noch zehn bis fünfzehn Jahre an der Arbeit geblieben wäre“, so sagte Hitler im August 1942 im kleinen Kreis, „wäre Sowjetrussland der gewaltigste Staat der Erde geworden, da können 150, 200, 300 Jahre vergehen, das ist so eine einmalige Erscheinung! Dass der allgemeine Lebensstandard sich gehoben hat, daran ist kein Zweifel. Hunger haben die Menschen nicht gelitten. Alles in allem gesehen, muss man sagen: Die haben Fabriken hier gebaut, wo vor zwei Jahren noch unbekannte Bauerndörfer waren, Fabriken, die die Größe der Hermann-Göring-Werke haben.“

Bei anderer Gelegenheit sagte er, ebenfalls im internen Kreis, Stalin sei ein „genialer Kerl“, vor dem man „unbedingten Respekt haben“ müsse, besonders wegen seiner umfassenden Wirtschaftsplanung. Es stehe für ihn außer Zweifel, so fügte er hinzu, dass es in der UdSSR, im Gegensatz zu den kapitalistischen Staaten wie etwa den USA, Arbeitslose nicht gegeben habe.

Politische Klüngeleien, Mehrparteienkoalitionen, eine unruhige Republik mit extremen Gruppierungen – Bonn ist nicht Weimar, aber ist Berlin womöglich mehr Weimar, als wir zuerst dachten?

Ich finde, mit historischen Analogien, besonders zur NS-Zeit, sollte man vorsichtig sein, da dies allzu oft der Diffamierung politisch Andersdenkender dient. Mir macht eine Sache allerdings Sorgen, nämlich die zunehmende Diffamierung des „Ich“ und des „Individualismus“ und die ständige einseitige Betonung von „Wir“ und „Zusammenhalt“. Alles sollte der „Volksgemeinschaft“ untergeordnet werden. Totalitäre Ideologien wie Nationalsozialismus und Kommunismus wollten das „Ich“ kleinmachen, es sollte sich dem „Wir“ unterordnen. „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ oder „Gemeinwohl vor Eigenwohl“, lauteten die Maximen des Nationalsozialismus.

Hitler sagte in einer Rede im November 1930: „Im gesamten Wirtschaftsleben, im Gesamtleben an sich, wird man aufräumen müssen mit der Vorstellung, dass der Nutzen des Einzelnen das Wesentliche ist und dass auf dem Nutzen des Einzelnen sich der Nutzen der Gesamtheit aufbaut, also zunächst der Nutzen des Einzelnen den Nutzen der Gesamtheit überhaupt erst ergibt. Das Umgekehrte ist richtig: Der Nutzen der Gesamtheit bestimmt den Nutzen des Einzelnen … Wenn dieser Grundsatz nicht anerkannt wird, dann muss zwangsläufig ein Egoismus eintreten, der die Gemeinschaft zerreißt.“ Ich fürchte, dem würden heute viele Menschen in Deutschland zustimmen.

Diese Überzeugung eint aber alle totalitären Denker, Revolutionäre und Diktatoren, von Robespierre in der Französischen Revolution über Lenin, Stalin, Hitler und Mao. Hannah Arendt, eine der größten Denkerinnen des 20. Jahrhunderts, schrieb in ihrem Werk „Über die Revolution“: „Nicht nur in der Französischen Revolution, sondern in allen Revolutionen, die ihrem Beispiel folgten, erscheint das Einzelinteresse als eine Art gemeinsamer Feind, und die Terrortheorien von Robespierre bis Lenin und Stalin nehmen alle als selbstverständlich an, dass das Gesamtinteresse automatisch und ständig in Feindschaft liege mit dem Eigeninteresse jedes einzelnen Bürgers.“

Rainer Zitelmann, Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs. Olzog Edition im Lau Verlag, 724 Seiten, 38,00 €.


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