Tichys Einblick
Moral und Politik in „Avatar 2“

Was verrät „Avatar“ über die politischen und moralischen Befindlichkeiten von heute?

Avatar 2 ist wie sein Vorgänger ein actionreicher und bildgewaltiger Film, der jedem gefallen soll. Und wer sich auf diesen Film und diese Welt einlässt und interessante Charaktere oder gute Dialoge nicht so wichtig findet, der wird in der Tat auf seine Kosten kommen. Von Carl Lang

IMAGO / ZUMA Wire

„Avatar – The Way of Water“ ist wieder ein enorm erfolgreicher Film mit einer scheinbar klaren Botschaft. Um den Erfolg nicht zu gefährden, stellt Avatar 2 aber keinen Anspruch an sein Publikum – auch keinen moralischen. Da dieser Film einen guten Einblick in die politischen und moralischen Befindlichkeiten seines globalen Publikums bietet, möchte ich seine Botschaft und seine Widersprüche etwas genauer analysieren.

Noble Wilde und hochentwickelte Zivilisationen

Avatar spielt auf einem Mond namens „Pandora“. Dieser Mond ist der Garten Eden, bedeckt mit leuchtenden Urwäldern und Ozeanen, bevölkert mit größtenteils netten Tieren (darunter sprechende Wale) und mit den nobelsten aller noblen Wilden. Alles Leben auf Pandora ist durch eine Art Naturgottheit harmonisch miteinander verbunden und existiert im Einklang miteinander.

Die noblen Wilden sind sehr ästhetische, drei Meter große, schlanke und durchtrainierte Kraftbündel. Leni Riefenstahl hätte am Muskelspiel und an der Athletik dieser Außerirdischen namens „Na’vi“ ihre Freude gehabt.

Die Na’vi werden bedroht durch kolonialistisch veranlagte Immigranten (die „Himmelsmenschen“), die mit Raumschiffen ankommen, um Pandora zu besiedeln und die Ressourcen auszubeuten, denn die Erde ist aufgrund gewissenloser Umweltzerstörung nahezu unbewohnbar geworden.

Der Konflikt spielt sich also zwischen gewissenlosen Zivilisationsmenschen und noblen Wilden ab. Der noble Wilde ist eine Figur, die von Philosophen wie Jean-Jacques Rousseau entwickelt wurde. Rousseau glaubte, dass der Mensch im Kern gut ist und nur durch die Zivilisation verdorben wird. Auf der Gegenseite stehen Philosophen wie Thomas Hobbes, der über den Menschen im gesetzlosen Naturzustand schrieb: „Es gibt keinen Ackerbau, keine Schifffahrt, keine Waren, […] keine Künste, keine Literatur, keine gesellschaftlichen Beziehungen, und es herrscht […] beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes — das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz.“

James Cameron, der neben Avatar auch Klassiker wie „Terminator“ und „Titanic“ gedreht hat, steht wohl auf der Seite von Rousseau. Wenn alle Menschen in Avatar böse und unverbesserlich wären, dann könnte man Avatar vielleicht als menschenfeindlichen Film interpretieren, wenngleich die Na’vi stark an die Indianer und die Maori erinnern und somit auch sehr menschenähnlich sind. Ohnehin gibt es im Film aber nicht nur böse, sondern auch viele gute Menschen. Am deutlichsten wird Camerons positives Menschenbild bei „Spider“, dem Adoptivsohn des Helden und dem leiblichen Sohn des Bösewichtes. Obwohl Spider ein Mensch ist und von seinem Vater besonders bösartige Gene geerbt haben muss, ist er dank dem positiven Einfluss der unzivilisierten Na’vi zu einem sehr anständigen, sympathischen und tapferen Held herangewachsen. Avatar ist also bestenfalls ein antizivilisatorischer oder – wer das so interpretieren will – vielleicht ein antikapitalistischer Film. Eine wirklich menschenfeindliche Botschaft gibt es nicht.

In Avatar 2 ist der Held aus Avatar 1 ein richtiger Na’vi geworden. Er ist mit einer Na’vi verheiratet und hat vier Na’vi-Kinder sowie den schon erwähnten Adoptivsohn „Spider“. Cameron wollte den Helden und seine Familie aber unterscheidbar machen. Deshalb wurde der Held von der Naturgottheit zwar in einen richtigen Na’vi umgewandelt, aber trotzdem ist so viel menschliche DNA übrig geblieben, dass seine Kinder im Gegensatz zu den anderen Na’vi vier Finger haben.

Der Bösewicht aus Avatar 1, der eigentlich am Ende des ersten Films getötet wurde, ist körperlich ebenfalls zu einem richtigen Na’vi geworden (ich glaube, bei ihm stimmen sogar die Finger). Man hat seine Persönlichkeit und seine Erinnerungen in einen Na’vi-Körper transferiert und ihm den Auftrag gegeben, den Verrat des Helden zu vergelten. Diese Rache ist ihm eine Herzensangelegenheit.

Flüchtlinge und Integration

Die Himmelsmenschen und die Na’vi führten schon vor der Rückkehr des Bösewichtes einen Krieg miteinander. Nachdem der Bösewicht die Familie des Helden aber direkt bedroht, verlässt dieser seine Kameraden aus dem Urwald, flieht mit seiner Familie aufs Meer und bittet einen Inselstamm (die Metkayina) um Asyl. Er hofft, dass seine Familie dort in Sicherheit sein wird.

Die Metkayina sehen etwas anders als die Urwald-Na’vi aus. Sie haben Tätowierungen und dickere Schwänze (gemeint sind tatsächliche Schwänze – Avatar ist ein sehr familienfreundlicher Film). Die Metkayina sind außerdem ein wenig rassistisch veranlagt und machen es der Familie des Helden ziemlich schwer: Erstens, weil die Heldenfamilie zur Urwaldrasse und nicht zur Wasserrasse gehört, und zweitens, weil sie mit ihren Extrafingern auch noch an Himmelsmenschen erinnern. Aus diesen Gründen musste der Häuptling der Metkayina mit seiner Frau ausdiskutieren, ob sie der Heldenfamilie überhaupt Asyl gewähren, obwohl es sich nur um eine einzige Familie handelt und die Ressourcen der Metkayina endlos wirken. Man kann den Matkayina also nicht vorwerfen, eine Merkel-Politik der offenen Grenzen zu befürworten.

Der Held und seine Familie erweisen sich als vorbildliche Flüchtlinge. Der Held ermahnt seine Kinder regelmäßig, auch Erniedrigungen duldsam hinzunehmen und dankbar für die Gastfreundschaft der Metkayina zu sein. Die Familie assimiliert sich schnell, lernt „den Weg des Wassers“ kennen und versucht, sich nützlich zu machen.

Dann findet der Bösewicht heraus, dass der Held sich bei einem der Wasserstämme versteckt hält. Zuerst terrorisiert er diese Völker, um sie zur Herausgabe des Helden zu bewegen. Sie verhalten sich aber loyal und geben ihren Flüchtling nicht auf. Dann findet der Bösewicht heraus, dass diese Wasserstämme ein unheimlich inniges Verhältnis zu sprechenden Walen pflegen. Jeder Matkayina hat einen seelenverwandten Wal, mit dem er eng befreundet ist. Die Himmelsmenschen sind ohnehin schon erfahrene Walfänger und haben dafür ein hochmodernes Walfängerschiff. Um den Held aus seinem Versteck zu locken, beginnt der Bösewicht also damit, an der Küste der Metkayina solche Wale zu jagen.

Fleischkonsum und Lebenskraft

Nun wird Avatar moralisch ziemlich interessant. In amerikanischen Filmen wird ein inniges Vater-Sohn-Verhältnis immer dadurch verdeutlicht, dass der Vater einen Baseball wirft und der Sohn ihn mit einem Handschuh fängt, oder dass Vater und Sohn gemeinsam fischen. Da Baseball nicht zu unzivilisierten Eingeborenen passt, hat Cameron sich für das Fischen entschieden. Am Anfang und am Ende des Films sieht man eine idyllische Vater-und-Sohn-beim-Fischen Szene. Die Na’vi sind also keine Vegetarier und die moralische Botschaft von Avatar lautet nicht, dass man Tiere nicht töten darf. Man braucht nur einen guten Grund, zum Beispiel  Lust auf ein leckeres Essen.

Cameron macht deutlich, dass Walfang und Fischfang nicht dasselbe sind. Erstens reden die Wale und die Fische nicht. Zweitens sind die Wale so pazifistisch, dass sogar Notwehr gegen Walfänger für sie nicht in Frage kommt – ausgenommen ein Außenseiterwal, der wegen seiner Aggressivität von der Herde ausgeschlossen wurde. Die Fische sind zwar womöglich auch pazifistisch, können es aufgrund ihrer Kleinheit aber nicht beweisen. Drittens hält ein Wissenschaftler (um ganz sicher zu gehen) einen Vortrag darüber, wie hoch die kognitive und emotionale Intelligenz dieser Wale ist.

Warum sind die Himmelsmenschen und ihre Konzerne aber überhaupt interessiert an den Ressourcen des Planeten und an diesen Walen? In „Der mit dem Wolf tanzt“ werden die weißen Imperialisten dafür kritisiert, dass sie die Büffel nur für ihre Felle töten und den Rest des Tieres vergammeln lassen, wohingegen die Indianer das ganze Tier verwerten. In ähnlicher Weise werden die Wale in Avatar nur für ein wenig Flüssigkeit gejagt, das Walfänger den Gehirnen der Wale entnehmen. Der Rest des Wals wird im Meer versenkt. Diese Flüssigkeit ist so wertvoll, weil sie den Alterungsprozess aufhält – sie ist also im wahrsten Sinne des Wortes überlebenswichtig. Der Film ist hier allerdings etwas widersprüchlich, denn da der Bösewicht in Avatar 1 gestorben ist und sich in Avatar 2 der allerbesten Jugend und Gesundheit erfreut, ohne dafür Walfischserum gebraucht zu haben, ist Unsterblichkeit in diesem Universum offenbar nichts Besonderes.

Ich bin Vegetarier und dachte mir beim Schauen dieses Filmes, dass ich im Gegensatz zum Helden für ein leckeres Gericht keinen Fisch töten würde. Ich wäre aber womöglich bereit, meine Ersparnisse für etwas Walfischserum auszugeben, wenn ich meinen ohnehin schon viel zu weit fortgeschrittenen Alterungsprozess dadurch stoppen könnte. Man stirbt ja nicht, wenn man auf Fisch und Fleisch verzichtet. Man stirbt aber auf jeden Fall, wenn man den Alterungsprozess nicht aufhält. Cameron weiß aber, wie sein Publikum tickt: Die meisten Menschen essen Fisch und stören sich nicht am Angeln, aber die wenigsten essen Walfleisch und befürworten Walfang. Also sind die Guten in Avatar eben Fischesser und die Bösen Walfänger.

Neben diesem Speziesismus (Säugetiere sind wertvoll, andere Tiere nicht so sehr) ist bei Menschen außerdem der „Distance Bias“ (Distanz-Fehlschluss) weit verbreitet. Menschen stören sich also nur an unmoralischen Handlungen, wenn sie in der Nähe passieren. In Avatar wird dieser Fehlschluss explizit ausgesprochen: Die Metkayina sind empört, als an ihrer Küste ein Wal getötet wird. Der Häuptling sagt, dass Walfang draußen auf der See ja altbekannt sei – dort jagt man also schon lange ihre Seelenverwandten – aber nun, wo man einen Wal direkt an ihrer Küste getötet hat, erklärt er den Walfängern den Krieg. Genau wie dem Publikum ist es den noblen Protagonisten in Avatar also nicht so wichtig, was in der Welt passiert, sondern eher, wo es passiert.

Blutsverwandtschaft, Fortpflanzung und Familie

Die Familie – in diesem Fall sogar die Großfamilie – als Kern jeder Gesellschaft ist eine konservative Idee, der Cameron scheinbar viel abgewinnen kann. Zuerst wird der Adoptivsohn Spider und dann werden die leiblichen Kinder des Helden entführt. Die Entführung des Adoptivsohns ist dem Helden relativ egal. Am Ende des Filmes befindet sich der Adoptivsohn ständig in Lebensgefahr, ohne dass seine Adoptiveltern davon auch nur Notiz nehmen. Ihnen geht es nur um die Rettung ihrer leiblichen Kinder.

Tatsächlich geht der Film sogar noch weiter: Der Bösewicht nimmt eine Tochter des Helden als Geisel. Daraufhin nimmt die Frau des Helden ihren eigenen Adoptivsohn Spider, der ja gleichzeitig der Sohn des Bösewichtes ist, genauso als Geisel und droht damit, ihm die Kehle durchzuschneiden, wenn der Bösewicht ihre Tochter nicht freigibt. Auch der Bösewicht ist durch die Bande des Blutes gefesselt. Er zeigt sich von seiner freundlichsten Seite und gibt die Tochter frei, um seinen Sohn zu retten. Obwohl Spider fest auf der Seite der Na’vi steht und seinen leiblichen Vater hasst, folgt er später denselben familiären Instinkten und rettet ihn vorm Ertrinken. Dann schwimmt er zu seiner Adoptivfamilie zurück, die ihn relativ gleichgültig wieder bei sich aufnimmt. Die Botschaft von Avatar könnte also eindeutiger kaum sein: Ein Kind in Not zu adoptieren ist vielleicht eine gute Sache, aber letzten Endes zählen nur die Blutsverwandten, und grundsätzlich gibt es keinen höheren Wert als die Familie.

Ein Thema, um das Cameron sich dagegen keine Gedanken zu machen scheint, ist Überbevölkerung. Die Na’vi sind zwar naturverbundene Ökos, aber wenn sie sich alle mit derselben Entschlossenheit wie der Held vermehren würden, dann wäre Pandora auch ohne die Hilfe der Himmelsmenschen schnell übervölkert, überjagt und überfischt, zumal Pandora nicht wie ein Ort wirkt, in dem die Kindersterblichkeit hoch und die Lebenserwartung niedrig ist. Auch hier appelliert Cameron also klar an die Intuitionen seines globalen Publikums: Wale und Regenwälder sind wichtig, aber Fleischkonsum, Familie und Fortpflanzung sind noch wichtiger.

Fazit

Was ist also letztlich wirklich die politische und moralische Botschaft von Avatar 2? Worauf kommt es Cameron wirklich an? Bei den Na’vi spielen Geld und Profit keine Rolle, in Hollywood aber schon. Cameron sagte im Vorfeld, dass Avatar über 2 Milliarden Dollar einspielen muss, um als Erfolg zu gelten. Für dieses Einspielergebnis muss der Film international erfolgreich sein – nicht nur bei Greta Thunberg und ihrer Gefolgschaft, sondern auch in relativ konservativen asiatischen Ländern oder im konservativen Amerika.

Im Kern sagt Cameron seinem Publikum: „Ihr seid in Ordnung, so wie ihr seid, ihr braucht Eure moralischen Intuitionen nicht zu hinterfragen und ihr braucht an Eurem Lebensstil nichts zu ändern. Umweltzerstörung ist schlimm, aber daran seid nicht ihr, euer Lebensstil und eure Nachfrage schuld, sondern die gierigen Konzerne, die diese Nachfrage mit einem entsprechenden Angebot befriedigen.“ Das ist eine Botschaft, die fast jeder gerne hört.

Avatar 2 ist wie sein Vorgänger ein actionreicher und bildgewaltiger Film, der jedem gefallen soll. Und wer sich auf diesen Film und diese Welt einlässt und interessante Charaktere oder gute Dialoge nicht so wichtig findet, der wird in der Tat auf seine Kosten kommen.


Carl Lang betätigt sich nach einem Studium der Literaturwissenschaft, Linguistik und Philosophie als Essayist und Liedtexter. Er fühlt sich keinem politischen Lager zugehörig und interessiert sich besonders für Moralphilosophie und Religionskritik.

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