Tichys Einblick
Zweite Halbzeit der Ampel-Koalition

Die Dringlichkeitsliste der Bürger und die Prioritäten der Ampel – zwei Welten

In ihrer Halbzeit erreicht die Koalition ihren demoskopischen Tiefstwert. Kein Wunder: was ihr wichtig scheint, interessiert die meisten Wähler nicht. Und umgekehrt.

IMAGO - Collage: TE

Für die Ampel-Koalition beginnt mit dem Ende der Sommerpause 2023 ihre zweite Halbzeit. Anders gewendet: Obwohl es vielen Bürgern wie eine Unendlichkeit vorkommt, sind erst zwei Jahre der SPD-Grüne-FDP-Allianz um.

Nach seiner halben Laufzeit erreicht das Dreierbündnis seinen schlechtesten demoskopischen Wert überhaupt. Laut Umfrage von Insa bekäme die Ampel nur noch 38 Prozent der Stimmen, wenn jetzt gewählt würde. Die Kanzlerpartei SPD liegt demnach bei 18, die Grünen bei 13 und die FDP bei 7 Prozent. Die Freidemokraten kämpfen um ihr politisches Überleben. Olaf Scholz sieht sich mit einer erneuten Strafanzeige wegen möglicher Falschaussage in Sachen Cum Ex und Warburg-Bank konfrontiert. Und kein Ampel-Politiker verlor in den vergangenen Monaten so viel an Zustimmung wie Robert Habeck.

Eine Umfrage des Instituts Civey vom 3. bis 4. September zeigt einen wesentlichen Grund für den miserablen Stand der Koalition: Die Agenda der Regierenden in Berlin und die der Bevölkerung klafft weit auseinander. Bei Civey konnten die Befragten angeben, welche Vorhaben und Themen der Bundesregierung ihnen besonders wichtig seien. Fazit: Was der Ampel besonders wichtig war und mit großem Getöse angekündigt wurde, interessiert nur eine Minderheit der Bürger. Und auf den Gebieten, die vielen Wählern als wichtig und dringend erscheinen, lieferte die Ampel bisher wenig bis nichts.

Das „Selbstbestimmungsgesetz“ zur freien Geschlechtswahl, von der Koalition als Meilenstein und hoch wichtiges Projekt beworben, halten laut Umfrage gerade einmal 5,8 Prozent für besonders nötig. Selbst die Einführung des Bürgergeldes hat gerade für 7,5 Prozent der Befragten einen hohen Stellenwert. Die Kindergrundsicherung, laut Ministerin Lisa Paus (Grüne) eine „Jahrhundertreform“, scheint nur 19,6 Prozent der Befragten besonders dringlich. Selbst das Heizungsgesetz, das fast jeden Bürger betrifft, ob als Eigentümer oder Mieter, steht gerade für 20, 5 Prozent ganz oben auf der Liste der besonders wichtigen politischen Vorhaben. Das lässt sich durchaus so deuten: gut 80 Prozent meinen offenbar, es könnte genauso gut auch später oder gar nicht kommen.

Was sehen sie Befragten stattdessen als sehr dringend an? Ganz oben steht mit 63,4 Prozent der Bürokratieabbau, den offenbar sowohl Unternehmer als auch Bürger als völlig unzureichend empfinden. Hier raffte sich die Ampel zwar zur Abschaffung einiger Regeln auf – kreierte aber in ihren zwei Jahren Regierungszeit so viele neue Vorschriften und Regeln von der Grundsteuer bis zum Lieferkettengesetz, dass der Abbau an anderer Stelle kaum ins Gewicht fällt.

An zweiter Stelle steht mit 44,1 Prozent der Wunsch nach Entlastung der Wirtschaft. Auf diesem Gebiet sorgt die Ampel bis jetzt für das exakte Gegenteil: 2024 soll die CO2-Steuer steil von 30 auf 40 Euro pro Tonne steigen, das im Gegenzug versprochene „Klimageld“ kommt, wenn überhaupt, erst 2025. Ebenfalls 2024 fällt die Mehrwertsteuerermäßigung für das Gastgewerbe weg.

Auf Platz drei der Bürger-Dringlichkeitsliste steht mit 41,2 Prozent die Digitalisierung. Aber bisher unternahm die Ampel keine ernsthaften Schritte, um die immer noch großen Funklöcher zu schließen und Behördengänge online möglich zu machen – so, wie es etwa in baltischen Ländern längst funktioniert. Nach einer Gewichtung der Themen Migration und innerer Sicherheit fragte Civey nicht.

Nach der Sommerpause will die Koalition das Heizgesetz um jeden Preis durchdrücken. Dass sie ernsthaft an die dringend gewünschten Themen geht – etwa mit Streichung der Stromsteuer und der Entscheidung, die drei stillgelegten Kernkraftwerke nicht zu demontieren, sondern wieder in Betrieb zu nehmen – zeichnet sich nicht ab. Im Gegenteil: Olaf Scholz verkündete zum Ender der Sommerpause, Kernkraft sei „ein totes Pferd“. Nur in Deutschland, wohlgemerkt. Bein Stromimport – darunter auch von französischem Atomstrom – kam es unter der Ampel-Regierung 2023 zu Rekordwerten.

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