Tichys Einblick
Aber nicht ohne Freiheit

Zerstörerische Sicherheit

Im Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit müssen wir in Coronazeiten wunderbare kreative Lösungen erfinden, die es schaffen - nicht nur in Altenheimen und am Grab - Sicherheit und Liebe zumindestens fragmentarisch zusammen zu bekommen.

Um 8.00 Uhr morgens ruft aufgelöst ein Mann bei mir an. Er hält das nicht mehr aus. Er darf seine Mutter im Altenheim nun schon seit vier Wochen nicht mehr besuchen. Nur ein Paket an der Pforte für die Mutter abgeben, mehr Liebe ist im Augenblick nicht erlaubt.

Telefonieren mit der Mutter geht nicht. Die Mutter ist leider fast taub. Und das Zuwinken vom Balkon hat sich nicht bewährt. Es bleibt immer nur eine sichtlich verwirrte Mutter zurück, die nicht versteht, dass ihr Sohn nicht mal eben hochkommt. „Was habe ich nur verbrochen?“ jammert sie.

Das Altenheim ist nach einigen Coronafällen bei Bewohnern und Mitarbeitern verständlicherweise besonders konsequent mit der Quarantäne.

„Meine Mutter ist eigentlich lebenssatt und bereit zu sterben. Ich bin sicher, dass sie es bevorzugen würde, lieber mit Corona und mit mir an der Seite zu sterben, als ohne mich und ohne Corona ein halbes Jahr später. Die Liebe ist nun mal stärker als der Tod.“

Solche spannenden Lebensentscheidungen haben es im Augenblick schwer. „Sicherheit geht vor.“ Und Sicherheit hat nun mal ihren Preis. Und der kann verdammt hoch sein.

Später am Vormittag habe ich eine Beerdigung. Der Verstorbene war über 20 Jahre lang an MS erkrankt. Seine Frau hat ihn die ganze Zeit liebevoll und treu begleitet und gepflegt, bis an ihre Grenzen und sogar darüber hinaus. Nun steht sie weinend und schluchzend am offenen Grab.

Ihre Kinder halten schön brav den Sicherheitsabstand ein. Und natürlich dürfen auch die Enkel nicht ran an die Oma. „Sicherheit geht vor.“ Und Sicherheit hat nun mal ihren Preis.

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Da kommt die Freundin ans Grab. Sie ist schon älter und damit besonders Corona-gefährdet. Doch die Freundin geht tatsächlich einen alles auf den Kopf stellenden Schritt nach vorne und umarmt die Witwe. Beide weinen und drücken sich ausgiebig. Bei den Tränen hilft auch kein Mundschutz.

Was soll das? Können die beiden ihre verdammt enge Beziehung nicht ein bisschen besser unter Kontrolle haben? Muss ich als Pfarrer da eingreifen und die beiden auseinanderreißen? Was ist, wenn diese Umarmung auf „meiner Beerdigung“ zum Epizentrum eines deutschen Corona-Bergamo wird?

„Hauptsache Gesundheit“ – so heißt es auf Geburtstagsfeiern. Und darum gehen wir bei der Gesundheit auf Nummer sicher: Halten die gesamte Wirtschaft an, verschulden uns und unsere Nachkommen bis weit über die Halskrause, machen Altenheime zu besucherfreien Zonen, denunzieren unsere Nachbarn, die sich nicht an die Vorschriften halten, unterbinden Gottesdienste selbst in großen leeren Kirchen, reduzieren das Leben auf Lebensmittel, Computer und Toilettenpapier.
Sicherheit über alles! Koste es, was es wolle.

Wie wichtig Menschen Sicherheit ist, habe ich 1988 bei einem Praktikum in der DDR gesehen: Dort hatte jeder, der sich an die Regeln hielt, sichere Arbeitsplätze, ein sicheres Einkommen, sichere Gesundheitsvorsorge, eine sichere billige Mietwohnung. Der Sozialismus pries sich selber als ein Paradies der allgemeinen Absicherung.

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Nur dummerweise hatte in der DDR diese einseitige Fokussierung auf die Sicherheit eine tragische Nebenwirkung. Nicht dass die Freiheit verloren ging; das haben viele der Sicherheit zuliebe wohl in Kauf genommen.
Die tragische Nebenwirkung des Sozialismus war vielmehr, dass vor lauter Streben nach Sicherheit letztlich ausgerechnet die Sicherheit verloren ging: In maroden einsturzgefährdeten Wohnungen, durch Umweltverschmutzung à la Bitterfeld, durch Arbeitsplätze, wo man nur noch so tat, als würde man arbeiten und wo nur noch so getan wurde, als würde man bezahlt werden.

Sicherheit hat nun mal einen Preis. Und der kann verdammt hoch sein, nämlich letztlich die Sicherheit selbst.
Darum braucht Sicherheit das Leben, die Freiheit und die Liebe. Zur eigenen Selbsterhaltung.
Im Altenheim, am Grab, in Wirtschaft und Gesellschaft.

Doch Vorsicht! Auch Freiheit und Liebe haben ihren Preis. Und auch der kann verdammt hoch sein.
Etwa dass die deutsche Statistik bei Corona-Infizierten und Corona-Toten höher ausfällt.

Etwa dass wir weiter Verkehrstote beklagen müssen, weil wir an der Freiheit des Autofahrens festhalten.
Etwa dass wir morgens aus dem Bett aufstehen, obwohl es sicherer wäre, wenn wir einfach im Bett liegen bleiben würden.

Um des Lebens willen werden wir nicht umhin kommen, den Tod zu akzeptieren.
Denn wenn Freiheit und Liebe zum menschlichen Leben essentiell dazugehören, dann kann es keinen Lebensschutz geben, der die Liebe und die Freiheit und damit das Risiko außer acht lässt.

Dieses Dilemma zwischen Sicherheit und Freiheit müssen wir aushalten.

Denn auch der christliche Glaube kann dieses innerweltliche Dilemma nicht auflösen. Der sichere Hafen bei Gott kann einem Menschen allerdings sehr wohl die Kraft schenken, diesem innerweltlichen Dilemma offen und ungeschminkt ins Auge zu sehen.

In diesem Dilemma zwischen Freiheit und Sicherheit müssen wir in Coronazeiten Entscheidungen wagen, die niemals voll und ganz zufrieden stellen können.
Doch dabei dürfen wir noch häufiger als bisher wunderbare kreative Lösungen erfinden, die es schaffen – nicht nur in Altenheimen und am Grab – Sicherheit und Liebe zumindestens fragmentarisch zusammen zu bekommen.


Pfarrer Achijah Zorn

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