Tichys Einblick
Sammelband "Streitfall Antisemitismus"

Wolfgang Benz und der relativierte Antisemitismus

Eine neue wissenschaftliche Publikation sorgt für Aufsehen: Autoren relativieren und leugnen Formen der Judenfeindschaft, die von Links oder von Muslimen kommen. Ihnen wird nun selbst Antisemitismus vorgeworfen.

Wolfgang Benz

imago images / Gerhard Leber

„Streitfall Antisemitismus. Anspruch auf Deutungsmacht und politische Interessen“- so heißt ein neuer wissenschaftlicher Sammelband, der von dem ehemaligen Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU-Berlin, Wolfang Benz, herausgegeben wird; es ist eine Publikation des Instituts für Vorurteils- und Konfliktforschung Berlin e. V.. Doch nun stehen Antisemitismusvorwürfe gegen den erschienenen Band und Herausgeber im Raum. Wie viel ist an den Vorwürfen dran?

Haltungsvorwort in einer wissenschaftlichen Publikation

Beim Blick auf den Titel „Streitfall Antisemitismus“ wird dem Leser suggeriert, dass sich der Herausgeber nicht mit dem aktuellen Antisemitismus-Diskurs im Einklang befindet. Der interessierte Leser erwartet folglich eher verschiedene Positionen und Beispiele zu Antisemitismus — nicht aber dessen Relativierung. Doch dass es durchaus in solch eine Richtung gehen kann, vermittelt dem Leser dann bereits das Vorwort. Das Buch wird mit einer klaren Haltung von Benz eingeleitet. Das Vorwort klingt wie ein Meinungsartikel, in welchem Benz vor allem das damalige Verhalten gegen das Jüdische Museum Berlin kritisiert, das 2018 die Ausstellung „Welcome to Jerusalem“ zeigte und welche wegen einer „palästinensisch-muslimischen Sicht“ auf Jerusalem vom israelischen Premierminister Benjamin Netanyahu kritisiert wurde.

Die Jüdische Allgemeine machte damals in ihrer Rezension zur Ausstellung die Irritation deutlich: Antisemitische Inhalte seien bei ausgestellten Objekten nicht kuratorisch kenntlich gemacht, israelbezogener Antisemitismus sei nicht einmal definiert und die Geschichte Jerusalems würde einseitig erzählt — wodurch der Eindruck entstünde, dass kein legitimer jüdischer Ort auf diesem Planeten existiere. Das Resultat war: Die Täterschaft der palästinenischen Seite sei nicht thematisiert worden. Benz fällt schon im Vorwort des Buches ein Urteil: Er spricht von einem „Feldzug“, kritisiert, dass man das Museum auf „politischen Kurs“ bringen wollte und nennt Journalisten in „kleingeistiger Enge nörgelnde Kritiker“. Der Antisemitismusforscher wählt eine Wortart und Literarizität aus, die eindeutig dem Leser seine nichtwissenschaftliche Meinung widergibt. Eine eigene, subjektive Haltung gehört nicht in eine wissenschaftliche Publikation. Denn diese beeinflusst den Leser, der vom Autor nicht die Chance erhält, sich ein eigenes Bild mittels neutraler, auf Fakten fundierender Narration zu verschaffen.

Relativierung von BDS-Bewegung, Antizionismus, muslimischem Antisemitismus

In dem Band stolpert man an vielen Stellen. Dies beginnt bereits im ersten Kapitel, wenn die Berufung eines Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung in Zweifel gezogen wird. Die Autoren plädieren dafür, das Thema nicht „wie gewohnt abgesondert“ zu behandeln, sie wollen eine „systematische Rassismusbekämpfung“. Dies lässt aufhorchen, ob das Thema Antisemitismus für die Autoren keinen alleinigen, wichtigen Stellenwert besitzt. Wenn man Antisemitismus in einen Topf mit Rassismus werfen möchte, wird dies durchaus zu einer Relativierung. Vorsichtig betrachtet bleibt es noch ein Vorschlag der Autoren, die auf einer anderen Seite den Antisemitismus wiederum als „echte Gefahr“ bezeichnen. Blättert man ein paar Seiten weiter, wird klarer, dass die beiden Autoren versuchen, für Antisemitismus hauptsächlich „Rechtspopulisten“ und die AfD verantwortlich zu machen. Währenddessen wird Antisemitismus in der Form des Antizionismus und der israelfeindlichen BDS-Bewegung („Boycott, Divestment and Sanctions“), generell auch Antisemitismus von Muslimen und aus dem linken Spektrum relativiert. „Niemand wird bestreiten, dass es Antisemitismus auch im linken Spektrum oder unter Muslimen gibt, oder dass von der BDS oft antisemitische Äußerungen zu hören sind, aber von den Hauptverfechtern des Antisemitismus abzulenken, schadet dem Kampf gegen Antisemitismus“.

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Die BDS-Bewegung — von der bloß „Teile“ antisemitisch seien — wird hier als „marginal“ bezeichnet und direkt mit Kritik an israelischer Besatzungspolitik gleichgesetzt. Insgesamt wird BDS so dargestellt, als ginge es nur um Kritik an der Besatzungspolitik. BDS wolle lediglich „ohne Gewalt mit ökonomischen Mitteln eine Änderung der israelischen Politik in den besetzten palästinensischen Gebieten herbeiführen“. Die 2005 gegründete BDS-Bewegung versucht durch Boykott-Aktionen Israel international unter Druck zu setzten, um die Besetzung der palästinensischen Gebiete, die als „Kolonialismus“ bezeichnet wird, zu beenden. Innerhalb der Bewegung gibt es viele Gruppen, die Antisemitismus verbreiten, zu Gewalt aufrufen, Terrorismus befürworten und Verbindungen zu Terrororganisationen haben.

Bereits auf den vorherigen Seiten des Sammelbandes wurde die These aufgestellt, dass die derzeitige Antisemitismusdebatte, die sich auf „israelbezogenen Antisemitismus“ fokussiere, Kritik gegen die israelische Besatzungspolitik immunisieren würde. Die Autoren lassen auf jeder Seite den Eindruck entstehen, dass sie mit der Besatzungspolitik Israels nicht einverstanden sind und einen muslimischen Antisemitismus anscheinend kaum wahrnehmen. Sie bringen auch den unmöglichen Vergleich von Kopftuch und Kippa, als stünden sie auf einer unbedingt gewollten Verteidigungsseite von Muslime.

Leugnung von muslimischem Antisemitismus

„Versuche, den Schwerpunkt auf ‚die Linken‘ oder ‚die Muslime‘ zu verlagern“ seien  „politisch motiviert“. Man solle „bei diesen Kampf den Islam“ nicht höher einstufen „als den Rechtspopulismus“. Die Autoren wollen unbedingt das rechte Spektrum als Hauptquelle des heutigen Antisemitismus darstellen. Auffällig ist auch, dass besonders CDU-Politiker wie Philipp Amthor und Friedrich Merz dafür kritisiert werden, auf das Problem des Antisemitismus in muslimischen Kulturkreisen aufmerksam gemacht zu haben. Auch dem Historiker und Publizisten Michael Wolffsohn wird vorgeworfen, er habe den 75. Jahrestag der Befreiung von Ausschwitz bewusst benutzt, um „seine kritische Haltung gegenüber Muslimen“ zu untermauern. Zitiert wird Wolffsohns Anmerkung: „Als ob etwa die muslimische Welt beim Judenmorden und im Zweiten Weltkrieg nicht mit den Hitler-Banden zusammengearbeitet hätte.“ Mit „sehr einseitiger Blick auf die Geschichte“ wird seine Aussage als unwahr dargestellt, was mit einer Mehrheitstheorie zu beweisen versucht wird, indem „mehr Muslime an der Seite der Alliierten kämpften als aufseiten der Nationalsozialisten“. Die Logik der Autorin: Weil anscheinend eine muslimische Mehrheit an der Seite der Alliierten kämpfte, sind die Muslime, die mit Hitler zusammen arbeiteten für die Geschichte und hinsichtlich des Antisemitismus bedeutungslos. Dies ist also nicht einseitig?

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Stolpern kann der Leser auch über folgende Ansicht: „Das Schimpfwort ‚Du Jude‘ kann, muss aber keine antisemitische Konnotation haben.“ Zu begründen versucht es die Autorin damit, dass es als Provokation oder synonym zu „Du Opfer“ verwendetet werden könne. „Du Jude“ als eine Provokation und eine sprachliche Verwendung anstelle „Du Opfer“ ist der Wissenschaftlerin Juliane Wetzel zufolge also nicht antisemitisch. Mit solchen Aussagen, werden antisemitische Vorfälle automatisch heruntergespielt. Dasselbe gilt für den Angriff eines jungen Syrers auf einen Kippa-Träger in Berlin: Der Autor Michael Kohlstruck schreibt, dass sich Antisemitismus bei der Tat skandalisieren lasse, aber „differenzierter würde man den Fall verstehen, wenn man den Angriff als strafbare Körperverletzung bewertet und die Tätermotive als jungmännertypisches Macht- und Selbstdarstellungsgebaren im politisierten Kontext des Nahost-Konflikts lokalisiert.“ Es scheint, als wollten die Autoren von einem Antisemitismus ablenken und diesen umschreiben, ihn nicht mehr beim Namen benennen. Als gäbe es solche Unterschiede, wie eindeutigen und nicht zwingend eindeutigen Antisemitismus. Dies kann man bereits als eine Leugnung von Antisemitismus deuten.
Postkolonialisten seien keine Antisemiten

Achille Mbembe erhält sogar ein gesondertes Kapitel, das ein Schutzschild zu seiner Verteidigung ist. Mbembe wird zu Lasten gelegt, ein antiisraelischer Hetzer zu sein und an antisemitischen Handlungen beteiligt gewesen zu sein. Denn auch Mbmbe hatte kritisiert, dass der Deutsche Bundestag die BDS zu einer antisemitischen Bewegung erklärt hatte. Er hatte an einem Buch mitgewirkt, dessen Gewinn an eine antisemitische Kampagne ging, die den universellen Boykott und damit die Vernichtung Israels forderte. Auch vertritt er die Auffassung, Israel sei ein schlimmeres Apartheidregime, als Südafrika es jemals war, und verglich den Holocaust mit dem Apartheidsystem Südafrikas. In der Benz-Publikation heißt es:
„Überhaupt stellt sich die Frage, ob die Fixierung auf Mbembes vermeintlichen Antisemitismus für eine kritische Auseinandersetzung mit seinem Weltbild geeignet ist. Im Zentrum seiner Analysen und Überlegungen stehen die Sklaverei und der Kolonialismus.“

„(1) Vertritt Mbembe eine antisemitische Grundhaltung? Definitiv nicht, denn seine Utopie ist eine Weltgesellschaft der Allgemeinen wechselseitigen Anerkennung unabhängig von Nation, „Rasse“ oder Geschlecht und natürlich auch von Religion. Da hat Antisemitismus […] keinen Platz“

Hier wird die kuriose Ansicht vertreten, dass ein Vertreter eines bestimmten Weltbildes — in casu ein Vertreter des Postkolonialismus — erst gar nicht ein Antisemit sein kann. Dies ist eine fatale Aussage in einer wissenschaftlichen Publikation. Es wird versucht, Personen, mit denen man politisch sympathisiert, rein zu waschen — was gleichzeitig der Versuch ist, eine ganze bestimmte Gruppe von einem Antisemitismusvorwurf fernzuhalten. Mittels solchen Aussagen wird automatisch geleugnet, dass Antirassisten natürlich Antisemiten sein können — unter dem Deckmantel der Wissenschaft.

Eine Debatte über den Gebrauch des Antisemitismus-Begriffs zu führen, ist durchaus legitim und unabdingbar. Aber wenn eine Debatte geführt wird, indem Formen des Antisemitismus heruntergespielt bis geleugnet werden, geht diese Debatte in eine fatale Richtung. Die Thesen und Behauptungen des Sammelbandes basieren nicht auf wissenschaftlichen Grundlagen, sondern viel mehr auf der eigenen, politischen Meinung. Durch den Deckmantel einer wissenschaftlichen Publikation wird versucht, dieser Meinung eine Autorität zu verleihen. Dies kann man als ein Ausnutzen der Wissenschaft bewerten. Es gäbe andere Wege für die Autoren, ihre Haltungen in die Öffentlichkeit zu tragen. Sie haben sich jedoch für das Medium einer angeblich wissenschaftlichen Publikation entschieden. Ihre Sichtweise auf den derzeitigen Antisemitismusdiskurs ist rein politisch geprägt und motiviert. Sie versuchen ihre Gegner schlecht darzustellen und Personen, die mit ihrer eigenen Anschauung sympathisieren, zu rehabilitieren.

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