Tichys Einblick

Unsere Freiheit in Zeiten der Angst

Trotz Corona: Der Ausnahmezustand muss kurz und diskutierbar bleiben, sonst bringt er unsere Freiheit und den Rechtsstaat in Gefahr.

imago Images

In jedem Menschen lebt die Sehnsucht nach Freiheit und das Bedürfnis nach Sicherheit. Sie in Balance zu bringen, ist die Ambition freiheitlicher Rechtsstaaten. Sie gegeneinander auszuspielen, ist die Strategie von Ideologen. Neben der politischen gibt es eine psychologische Dimension: Wenn unser Sicherheitsbedürfnis befriedigt scheint, ist unser Freiheitswunsch übergroß; wenn jedoch unsere Sicherheit bedroht ist, sind wir bereit, viel von unserer Freiheit für ein Mehr an Sicherheit preiszugeben. Das Coronavirus bedroht unsere Gesundheit, ja unser Leben, darum haben fast alle Maßnahmen der Regierungen, die uns mehr Sicherheit um den Preis der Freiheit bieten, derzeit hohe Akzeptanz.

Letztlich fahren alle auf Sicht

Da keiner von uns (Virologen und Epidemiologen eingeschlossen) die aktuelle Pandemie umfassend beurteilen kann, beruht diese Akzeptanz nur bedingt auf Vertrauen. Wenn Regierungen sachlich, konsequent, strategisch koordiniert und auf Expertenwissen gestützt kommunizieren, mag das beruhigender wirken als wenn sie sprunghaft und irrational agieren. Letztlich jedoch fahren alle auf Sicht, und wir wissen das. Die hohe Akzeptanz der Maßnahmen, die unser Leben und Arbeiten, unsere ökonomische wie soziale Zukunft verändern und einengen, beruht überwiegend nicht auf Vertrauen, sondern auf Angst.

Angst ist ein psychisches Frühwarnsystem, das uns vorsichtig und wachsam macht, uns leichtsinniges Verhalten vermeiden lässt. Angst macht aber auch manipulierbar, hilflos, mitunter sogar krank. Um nicht falsch verstanden zu werden: Ein Blick nach Italien und Spanien zeigt, dass die Angst vor dem Coronavirus begründet ist. Jeder vernünftige Mensch will sich und seine Lieben schützen, jeder verantwortungsvolle will besonders vulnerable Personengruppen in Sicherheit bringen. Hierin haben die Maßnahmen ihren Sinn: Sie retten Leben, vor allem indem sie die Infektionskurve abflachen und die Funktionsfähigkeit der Gesundheitssysteme sichern.

Jede Einschränkung von Rechten und Freiheiten bedarf guter Gründe

Dennoch sollte es einen vorwurfsfreien Diskurs darüber geben, ob jede Maßnahme sinnvoll, legitim und verhältnismäßig ist. Die Risiken und Nebenwirkungen der Therapie, der ganze Gesellschaften unterzogen werden, sind nämlich von großer Tragweite: Hier werden Grundrechte ausgesetzt oder eingeschränkt, die in vielen Verfassungen, der Europäischen Menschenrechtskonvention, der EU-Grundrechtecharta und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte festgeschrieben sind: die Versammlungs-, Demonstrations- und Bewegungsfreiheit, der Schutz vor willkürlichen Eingriffen ins Privatleben, sogar die Religionsfreiheit, die ja die Religionsausübung „allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat, durch Lehre, Ausübung, Gottesdienst und Kulthandlungen“ (Art. 18 UN-Menschenrechtserklärung) umfasst.

Jede Einschränkung von Rechten und Freiheiten bedarf guter Gründe, die immer wieder auf den Prüfstand gehören. Eine Tabuisierung der Debatte darf es da ebenso wenig geben wie ein Gewöhnen an den Ausnahmezustand. Nichts wäre schlimmer als wenn die Corona-Katastrophe Ideologen auf diese Idee brächte: Ist die Angst groß genug, verkaufen die Bürger ihre Freiheit gerne für ein wenig Sicherheit. Dann könnte etwa die Angst vor der globalen Klimakatastrophe der nächste Anlass für Notstandsverordnungen und Freiheitsentzug sein. Und dann wäre es vorbei mit der sensiblen Balance von Freiheit und Sicherheit.


Der Beitrag von Stephan Baier ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.

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