Tichys Einblick
Gleichschritt ignoriert Einzelne

Späterer täglicher Schulbeginn – eine kluge Forderung

Der Unterricht in der Schul-Mittelstufe sollte erst um neun Uhr beginnen, in der Oberstufe um zehn. Das fordern Experten nicht erst seit heute. Aber die Politik kümmert sich bisher nicht um so einleuchtende Reformen.

Zwei Drittel der Menschen sind spät morgens geistig und körperlich wach und werden spät abends müde – ein Drittel hat früh morgens seine beste Zeit und wird früh abends müde. Die Mehrheit hat ihr erstes Leistungshoch mittags und ihr zweites nachmittags oder auch abends. Die Minderheit ist morgens leistungsstark – ab nachmittags fällt ihre Kurve ab. Mit der Pubertät trifft das zunehmend auch schon für junge Leute zu. Aber unsere Gesellschaft ist immer noch militärisch organisiert: im Gleichschritt zur Schule und in die Arbeit, in die Pause und nach Hause, ins Arbeitsleben und die Pension.

Warum sind Schulen nach Jahrgängen organisiert? Weil auch nach Jahrgängen zum Militärdienst einberufen wurde, seit es die Wehrpflicht gab und die Schulpflicht kam. Weil „gediente Militärs“ auch das Kommando in den Unternehmen der frühen Industrie übernahmen, steckt die militärische Ordnung noch heute in den Strukturen der Wirtschaft und Gesellschaft. Der klassische Drei-Schicht-Betrieb von 6 – 14, 14 – 22 und 22 – 6-Uhr im wöchentlichen Wechsel und sieben Tage die Woche ruinierte die Gesundheit von Millionen Arbeitern. Er nahm keine Rücksicht auf den Biorhythmus der Menschen. Kein Wunder, dass die Masse früher mit 60 aufhörte zu arbeiten und mit 61 starb.

Warum das Thema späterer täglicher Schulbeginn jetzt Platz in Medien findet, liegt wohl am Sommerloch und dem Versuch, andere Themen neben der alles beherrschenden Migrationsfrage zu finden. Wert ist es das Thema ganz sicher. Wenn sich praktisch alle Experten seit Jahren einig sind, dass vor allem in der Mittel- und Oberstufe neun und zehn Uhr besser für Geist und Körper sind und der Leistungsfähigkeit der Schüler gut täte, sollten sich die Bildungspolitiker der Sache annehmen. Dieser Schritt käme auch den Familien zugute: Bliebe doch noch Zeit für ein gemeinsames Frühstück. Dass flexible Arbeitszeiten nicht die Ausnahme bleiben sollten, wird sich ohnedies in der näher rückenden Wirklichkeit von Industrie 4.0 durchsetzen – auch wenn das für viele in Wirtschaft und Interessensverbänden noch genauso fremd ist wie für Bildungspolitiker und Lehrerorganisationen der besser spätere tägliche Schulbeginn.