Tichys Einblick
Interview mit Verfassungsrechtler

Rupert Scholz: Kanzlerin und Ministerpräsidenten handeln „verfassungswidrig“

Der Verfassungsrechtler und frühere Bundesverteidigungsminister Rupert Scholz (CDU) hält die gemeinsamen Beschlüsse von Bundeskanzlerin und Ministerpräsidenten für "verfassungsrechtlich nicht legitimiert" und die Grundrechtsbeschränkungen für "teilweise unverhältnismäßig".

Rupert Scholz

imago images / photothek

Georg Gafron: Im März dieses Jahres hat die Bundesregierung den epidemischen Notstand von nationaler Tragweite ausgerufen. Verbunden damit sind elementare Einschränkungen von Grundrechten, die zum Kernbestand unserer Verfassung gehören. Grund ist die Corona-Pandemie. Halten Sie dieses Vorgehen für verfassungsgemäß?

Rupert Scholz: Man kann Grundrechte nur einschränken, wenn diese in Kollision mit anderen Grundrechten geraten. In diesem Fall muss ein verhältnismäßiger Ausgleich für den Verzicht auf bestimmte Rechte geschaffen werden. Das ist eines der großen Probleme, auf die bisher keine Antwort gefunden wurde.

Könnten Sie einmal erläutern, wie so eine Kollision aussehen könnte.

Nicht umsonst ist es die Pflicht des Staates, das „Recht auf Unversehrtheit von Leben und Gesundheit“ zu garantieren. Diese ist gleich an zweiter Stelle hinter dem Bekenntnis zur „Unantastbarkeit der Würde des Menschen“ im Grundrechtskatalog des Grundgesetzes angesiedelt. Und natürlich tritt im Falle einer Pandemie, wie wir sie jetzt erleben, eine Kollision mit anderen Grundrechten ein, wenn zur Abwehr von Gefahren für Leben und Gesundheit diese eingeschränkt werden müssen. Das ergibt sich zwingend aus dem hohen Gewicht des Lebens, den unser Werteverständnis jedem Einzelnen beimisst. Für alle Maßnahmen dieser Art muss natürlich das Prinzip der Verhältnismäßigkeit gelten, das scheint mir nicht in jedem Fall erfüllt. Viel gravierender ist aber die Art und Weise des Zustandekommens der Entscheidungen.

Und zwar?

Zeit zum Lesen
„Tichys Einblick“ – so kommt das gedruckte Magazin zu Ihnen
Die von der Bundesregierung bislang gepflegte Praxis, dass die Corona-Politik – angefangen bei den gesetzlichen Regelungen bis hin zu den Verordnungen – von einem Gremium bestimmt wird, was in dieser Form in unserer Verfassung gar nicht vorgesehen ist. Es ist ein Zirkel, bestehend aus der Bundeskanzlerin und den Ministerpräsidenten der Länder, der sich unabhängig, sozusagen wie eine im freien Raum schwebende Regierung, gesetzgeberisch betätigt. So etwas gibt es nach unserer Verfassung nicht. Seine Existenz verstößt gegen das Demokratieprinzip und ist auch mit dem Föderationsprinzip nicht vereinbar. Nach der „Wesentlichkeitstheorie“ des Verfassungsgerichtes, ist in allen Fragen, die die Grundrechte betreffen, ausschließlich die Legislative zuständig, und nicht irgendwelche exekutivischen Regime, ob sie nun größer oder kleiner sind.

Würden Sie so weit gehen, dass die entsprechenden Beschlüsse nicht auf legitime Weise zustandekommen und gekommen sind?

Die Beschlüsse werden durch eine nicht legitimierte Instanz getroffen. Dieses Gremium ist ganz offensichtlich nicht gewillt, die rechtlichen Gegebenheiten zu akzeptieren. In diesem Zusammenhang kann ich auch dem Deutschen Bundestag Vorwürfe nicht ersparen. Erst jetzt, so scheint es mir, ist man wach geworden und es regt sich eine gewisse Unruhe. So soll die Bundesregierung aufgefordert worden sein, die Notwendigkeit von Verordnungen der Öffentlichkeit ausführlicher zu erläutern.

Machen wir doch mal die Einschränkungen von Grundrechten konkret. Da ist zum Beispiel das Recht auf die „Unverletzlichkeit der Wohnung“. Es dürfen sich nur bestimmte Personen als Besucher dort aufhalten. Stichwort: Kontaktvermeidung. Wie will man dies denn ohne weitgehende Kontrollmöglichkeiten des Staates überhaupt durchsetzen? Kein Wunder, dass schon erste Aufforderungen ergangen sind, vermeintliche Verstöße gegen die Bestimmungen zu melden. In Essen beispielsweise wurde eigens ein entsprechendes Formular online gestellt. Droht eine hohe Zeit für Denunzianten?

Also, eine Prävention durch Denunziation ist in einer Demokratie überhaupt kein gangbarer Weg. Ein solches Denken verbietet sich von selbst. Wer andere Menschen zur Bespitzelung und zur nicht auszuschließenden Verleumdung auffordert und anreizt, beschämt sich selbst und alle anderen, und würde das Klima in unserem Land nachhaltig verändern.

Andererseits ist ja nicht von der Hand zu weisen, dass gegen die Ausbreitung des Virus vorgegangen werden muss. Ein Blick in unsere Nachbarländer zeigt, dass in Frankreich, Österreich und Spanien, um nur einige Beispiele zu nennen, ähnlich verfahren wird. Ganz so falsch kann die Bundesregierung ja nicht liegen.

Eine Vorbemerkung: Zu anderen Staaten kann ich mich nicht äußern, da ich die dortigen Rechtslagen und die jeweiligen Verfassungen nicht so kenne wie Deutschland betreffend. Anzustreben wäre aber ein gemeinsames Vorgehen zumindest innerhalb der Europäischen Union, was mir aber auch mit Blick auf die unterschiedlichen Gesundheitssysteme schwierig erscheint. Aber lassen Sie mich noch auf einen anderen hochsensiblen Bereich kommen – die Kontaktsperren. Das ist eine so in die Grundrechte der Person eingreifende Regulierung mit weitreichenden Auswirkungen in vielen Bereichen, dass mir dieses Vorgehen einfach unverhältnismäßig erscheint. Dasselbe gilt für das Verbot von Gaststättenbesuchen zu Speisezwecken, so wie das Beherbergungsverbot. Bislang konnte kein Nachweis erbracht werden, dass dadurch der Virus verbreitet wurde – wie auch das RKI vermelden musste. Grundsätzlich aber gilt meine Kritik nicht den einzelnen Maßnahmen, sondern ihrem Zustandekommen, und das ist schlicht verfassungswidrig.

Anzeige