Tichys Einblick
“Schleichende Verarmung”

Ökonomen schlagen Alarm: EU-Klimaprogramm Fit for 55 wird Kapital vernichten

Die EU-Kommission will CO2-Emissionen bis 2030 drastisch senken. Ökonomen warnen davor, dass das Programm den ohnehin großen Kapitalschwund beschleunigen dürfte.

IMAGO / Xinhua

Die EU forciert ihr Programm für Klimaneutralität. Bis 2030 sollen die EU-Staaten 55 Prozent der Nettotreibhausgas-Emissionen einsparen im Vergleich zum Ausstoß des Jahres 1990, teilte die Europäische Kommission mit. Dazu sieht das EU-Programm “Fit for 55” etwa vor, die Treibhausgas-Obergrenzen im EU-Emissionshandelssystem noch schneller zu senken, als das bislang vorgesehen war. Bis 2030 sollen 40 statt 32 Prozent der Energie aus erneuerbaren Quellen stammen. Und bis 2035 sollen alle zugelassenen Neuwagen emissionsfrei sein.

Ökonomen schlagen angesichts der Pläne Alarm – etwa Philipp Bagus, der vor Deindustrialisierung warnt. “Das EU-Klimaprogramm wird Kapital vernichten”, sagt der VWL-Professor gegenüber TE. Unternehmen würden einen Wettbewerbsvorteil erlangen, wenn sie ihre Standorte in Länder mit geringeren Energiepreisen verlegten. Der Kapitalstock Deutschlands, der auf niedrigere Energiepreise ausgelegt sei, werde geschädigt und besonders energieintensive Industrien würden an Profitabilität einbüßen, warnt er.

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Eric Heymann, ein Analyst von Deutsche Bank Research, berichtete bereits im Juni in einer Untersuchung, dass der Kapitalstock in energieintensiven Industrien schrumpft – und das seit Jahren “recht kontinuierlich”. Hauptgrund sei nicht der absolute Strompreis. Dieser sei für energieintensive Unternehmen “recht niedrig” und “international konkurrenzfähig” aufgrund von Ausnahmeregeln beim Erneuerbaren-Energien-Gesetz (EEG) und dem EU-Emissionshandel. “Wichtig ist vielmehr die Unsicherheit der Unternehmen, ob diese Sonderregelungen auch in fünf, zehn oder mehr Jahren noch gelten”, schreibt der Analyst. Denn Produktionsanlagen rechneten sich in diesen Branchen oftmals erst nach Jahrzehnten.

Dazu kämen temporäre Stromabschaltungen und Netzinstabilitäten als negativer Standortfaktor. Bereits jetzt würden große Industrieverbraucher bei Stromengpässen vom Netz genommen. So habe der Verband “Die Familienunternehmer” im vergangenen Jahr gewarnt, dass die Versorgungssicherheit bislang noch der “letzte große Vorteil” von Deutschland und Europa im globale Wettbewerb sei. Leider gerate auch dieses Pfund “immer stärker in Gefahr”, zitiert Heymann den Verband.
Der Kapitalstock schwindet offenbar in Industrien, die viel Energie benötigen. Laut Heymann, der sich auf das Statistische Bundesamt beruft, sank das reale Nettoanlagevermögen zwischen 2000 und 2018 um 12 Prozent im Bereich Chemie, um 19 Prozent in der Metallerzeugung, um knapp 39 Prozent in der Baustoffindustrie und um 44 Prozent im Bereich Papier. Das Jahr 2000 war das Jahr, in dem eine rot-grüne Bundesregierung das EEG verabschieden ließ.

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Der Ökonom Jörg Guido Hülsmann warnte bereits im Jahr 2013, dass der Kapitalstock der deutschen Industrie schrumpfe. Gehe man von den offiziellen Inflationsraten aus, dann sei der Wert der Sachanlagen aus nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften zwischen 1992 und 2009 von 1,6 auf 1,9 Billionen Euro gestiegen – also um knapp 20 Prozent. Doch Hülsmann zweifelt an der Angabe der Bundesbank, die Preise hätten sich in den 17 Jahren um lediglich 1,8 Prozent pro Jahr erhöht. Die Inflationsrate werde derart berechnet, “dass die tatsächlichen Preissteigerungen systematisch unterschätzt werden”, schreibt der VWL-Professor der französischen Universität Angers. Das liege besonders an der geometrischen Gewichtungsmethode. Dabei würden preisgünstige Güter im Warenkorb übergewichtet, weil die Gewichtungen laufend an den Gesamtverbrauch angepasst würden. “Idealerweise würde sich dieser Warenkorb überhaupt nicht ändern”, schreibt der Professor.

Gehe man von einer realistischeren Inflationsrate von 3,2 Prozent aus, dann sei der Wert der Sachanlagen der nichtfinanziellen Kapitalgesellschaften um 6 Prozent gefallen, rechnet Hülsmann in seiner Abhandlung “Krise der Inflationskultur” vor. Hülsmann führt den Kapitalschwund nicht auf die Klimapolitik zurück, sondern auf die Geldpolitik der Zentralbanken. Die Preisinflation senke nämlich die Realzinsen, was den Konsum anheize und Sparanreize vermindere. Außerdem werde die volkswirtschaftliche Ersparnis systematisch in staatliche Kassen umgeleitet, anstatt der Güterproduktion zu dienen. Schließlich sei es zu mehreren Finanzblasen mit Kapitalverlusten gekommen.

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Sinkt der Kapitalstock einer Volkswirtschaft – also die Ausstattung an Produktionsgütern wie Maschinen und Betriebsgebäuden – mindert das auf Dauer die Produktivität der Erwerbstätigen und somit die realen Löhne. Die Folge sei eine “schleichende Verarmung”, schreibt Hülsmann. Wenn das Kapital insbesondere in stromintensiven Industrien wie der Metallerzeugung sinkt, dürfte das auch angrenzende Branchen wie Auto- und Maschinenbauer beeinträchtigen, die teils jahrzehntelange Geschäftsbeziehungen zueinander pflegen.

Die Chefs von energieintensiven Industrieunternehmen warnten bereits vor über zehn Jahren, dass die hohen Strompreise zu Produktionsverlagerungen führen dürften. Der damalige Bayer-Chef Marijn Dekkers erklärte im Jahr 2011 der Wirtschaftswoche, der Konzern tätige neue Investitionen bei seiner Kunststoff- und Chemiesparte vor allem in China. Auch der vormalige BASF-Vorstandsvorsitzende Kurt Bock schlug Alarm, als die Bundesregierung im Jahr 2013 die Ausnahmeregeln für energieintensive Industrien prüfen wollte. Schon vor Monaten habe sich der Chemiekonzern entschieden, eine Ammoniakfabrik in den USA statt Deutschland zu bauen, weil Energie dort billiger sei, sagte Bock dem Spiegel.

Laut der EU-Statistikbehörde Eurostat zahlen die deutschen Haushalte die höchsten Strompreise in Europa. In osteuropäischen Ländern wie Tschechien, Polen oder der Slowakei kostet eine Kilowattstunde Strom etwa halb so viel, in Ungarn ein Drittel.
Für kleine und mittelgroße Unternehmen gelten meist keine Ausnahmeregeln. Laut Zahlen des Bundesverbands der Energie- und Wasserwirtschaft (BdEW) unterliegen nur 4 Prozent der Industriebetriebe vergünstigten Tarifen. Der durchschnittliche Strompreis ohne Stromsteuer stieg für kleine und mittlere Industrieunternehmen um 8,1 Prozent, wenn man die ersten fünf Monate 2021 mit dem Schnitt des vergangenen Jahres vergleicht. Seit 1998 haben sich die Strompreise für kleinere und mittlere Industriebetriebe mehr als verdoppelt.

Grund dürfte auch die enorme staatliche Einmischung in den Strommarkt sein. So hat sich die Erzeugung und der Transport von Strom lediglich um 9 Prozent für Industriebetriebe seit 1998 verteuert, teilte der BdEW mit. Steuern und Abgaben erhöhten sich aber von 2,3 auf 34,7 Milliarden Euro für Haushalte und Industrie. Davon kam ein Löwenanteil von rund 20 Milliarden Euro auf die EEG-Umlage, die der Staat massiv erhöht hat. Bei den privaten Haushalten bestimmt der Staat 76 Prozent des Strompreises über Steuern, Abgaben, Umlagen und die regulierten Netzentgelte.