Tichys Einblick
Desaströse Zustände

Oberstaatsanwalt Knispel klagt an: „Rechtsstaat am Ende“

Der Oberstaatsanwalt rechnet in seinem neuen Buch mit der desolaten Lage des Justizsystems in Deutschland ab. Jeder zweite Straftäter komme davon. Die Überwachung der Corona-Maßnahmen führe zu offenen Flanken.

Oberstaatsanwalt Ralph Knispel von der Staatsanwaltschaft Berlin und Vorsitzender der Staatsanwaltlichen Vereinigung

picture alliance / Rolf Kremming

Anklagen ist der Beruf von Ralph Knispel – immerhin ist er Oberstaatsanwalt. Doch dieses mal ist es der Rechtsstaat, den er beschuldigt. Den Rechtsstaat, dem er eigentlich dient. Die Anklage lautet Dysfunktionalität: „Ein uneingeschränkt funktionsfähiger Strafrechtsstaat besteht nicht mehr“, schreibt er in seinem Buch, „Rechtsstaat am Ende“, welches am 1. März erscheint. Die deutsche Justiz und die Berliner im besonderen sei in einer schweren Schieflage, stellt Knispel fest. Die Zustände sind besorgniserregend – an vielen Fronten.

Zur Beschreibung dieser Dysfunktionalität greift Knispel vor allem auf seine Erfahrungen aus dem inneren des Berliner Justizapparats zurück, aber blickt auch auf Deutschland als ganzes. Über Jahre habe man Polizei und Justiz kaputtgespart – das rächt sich jetzt, stellt er fest. Deswegen will er aufrütteln. Sätze wie „jeder zweite Straftäter kommt davon!“ oder Geschichten von dringend verdächtigen Vergewaltigern und anderen Schwerverbrechern, die wegen abgelaufener Fristen vor Prozessbeginn aus der U-Haft kommen, wirken wie überzogener Alarmismus – tatsächlich sind sie eine nüchterne Beschreibung der Realität. Der Staat erfülle längst nicht mehr seine Kernaufgabe, die Gewährleistung der inneren Sicherheit. Die schlechte personelle und materielle Ausstattung von Gerichten und Behörden höhlt den Rechtsstaat aus: Viele Fälle würden nur oberflächlich bearbeitet, weil die Zeit fehle. Als dünn gelte eine Akte mit weniger als 600 Seiten, die mittlere Kategorie umfasse schon 5000, alles darüber sei dick. Gerechtigkeit nach Stoppuhr, wie Knispel das nennt, sei zum scheitern verurteilt.

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Sein Buch stellt schonungslos die Erosion unseres Rechtsstaates dar. Nicht nur die Gerichte, sondern auch die Strafverfolgung habe mit erheblichen Defiziten zu kämpfen, stellt der Oberstaatsanwalt fest. „Polizeiliche Ermittler, die mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu Einsatzorten oder Gerichtsterminen fahren müssen, weil gerade kein Dienstfahrzeug zur Verfügung steht, die mit veralteter Computertechnik gegen international agierende und technisch hochgerüstete Kriminelle vorgehen sollen, die monatelang auf Ergebnisse der Kriminaltechnik warten müssen und personell so unterbesetzt sind, dass die Überwachung der Corona-Maßnahmen zu offenen Flanken etwa bei der Bekämpfung von Drogendelikten führt – das ist Polizeialltag in Deutschland.“ Kein Wunder, dass hinter seinem Buchtitel kein Fragezeichen steht – ein Ausrufezeichen wäre passender.

„Für mich ist die Rettung unseres Rechtsstaats eine Herzensangelegenheit“ – und wie er würden viele „mit großem Einsatz“ gegen die „katastrophalen Zustände in der deutschen Justiz“ kämpfen, meint Knispel. Doch die Uhr stehe, wie er sagt, auf Fünf nach Zwölf. Sein Buch sei „Zusammengenommen nicht weniger als eine angekündigte Chronik des Versagens des Rechtsstaats, der seinen Aufgaben zur Wahrung der inneren Sicherheit im Land längst nicht mehr nachzukommen vermag“, lautet Knispels Fazit.

Ralph Knispel, Rechtsstaat am Ende. Ein Oberstaatsanwalt schlägt Alarm. Ullstein, 240 Seiten, 22,99 €.


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