Tichys Einblick
Am Boden bleiben

Gegen CO2: einmal in den „Smog von Delhi“ und zurück

Wer spätestens nach dieser Woche nicht gelernt hat, dass es nicht ernsthaft um CO2 geht, sondern um Klassenkampf von Oben, dem ist vermutlich auch in Zukunft nicht zu helfen.

Getty Images

Diese Hitze im Juli! „So heiß war es in Deutschland noch nie“, meldete „Spiegel Online“

  • was zwar nicht stimmt, im mittelalterlichen Klimaoptimum und erst Recht in den Warmzeiten vorher war es in Deutschland mit sehr großer Sicherheit schon einmal heißer
  • es gab nur keine Thermometer und vor allem keine Wetterberichte deutscher Medien.

Den Unterschied zwischen „noch nie“ und „noch nie seit Beginn der Wetteraufzeichnungen“, also etwa 1860, haben ziemlich viele deutsche Journalisten nie gelernt. Das wird auch nichts mehr. Wer partout weitere Anmerkungen zum Thema Qualitätsmedien und Wetter braucht, sollte am besten aller paar Tage in diesem Twitteraccount lesen, beim kühlen Getränk oder in der Regenpelerine, je nachdem: https://twitter.com/Kachelmann/status/1155088743780536321.

Es gibt ein nicht so ganz neues Genre, relativ neu ist es nur in den Medien: die öffentliche Selbstkritik. Keine Angst, die neue Mode bezieht sich nur auf das Verhalten wohlmeinender Großstädter in Klimawandelzeiten. „Spiegel-Online“-Autor Peter Schultz schrieb in der vergangenen Woche sein ganz persönliches Stück dazu:

„Als ich im Smog von Delhi auf meine Frau wartete, wurde mir klar, wie sehr Greta Thunberg inzwischen mein Denken beeinflusst. Und vermutlich nicht nur meins. Das macht Hoffnung für den Klimaschutz.“

Genaugenommen wartete er auf dem Flughafen von Delhi auf seine Frau, was ihm Gelegenheit gibt, seine reisenintensive Reportertätigkeit mit der virtuellen Anwesenheit von Greta Thunberg engzuführen:

„Das Mädchen mit Asperger, das gegen die Zerstörung des Planeten kämpft. Die Klimaschützer haben endlich ein wirksames Narrativ – mit einer starken Protagonistin, die die Massen mobilisiert.
Ich glaube, dass ich im Smog von Delhi dieses Narrativ gespürt habe. Ich glaube sogar, dass wir inzwischen alle – auch Sie – das Greta-Narrativ verstärkt spüren. Dass es – zum Beispiel als schlechtes Gewissen – am Wirken ist, wenn wir eine Fernreise buchen oder im Supermarkt brasilianische Mangos kaufen.
Ich glaube, dass dieses Greta-Narrativ dazu beiträgt, dass plötzlich Millionen Menschen für das Klima demonstrieren. Dass die mediale Berichterstattung über Klimaschutz zunimmt. Dass die deutschen Grünen in Wahlumfragen zeitweise vor der CDU lagen. Dass der politische Druck für einen Systemwandel insgesamt zu wachsen scheint.“

Worum geht es ihm eigentlich? Um die Erringung und Festigung der Grünen-Dominanz? Den nicht näher ausbuchstabierten Systemwandel?

Aber bevor diese Fragen ein andermal geklärt werden, muss er je erklären, was ihn zu dem Langstreckenflug nach Delhi und vielen anderen CO2-erzeugenden Langstreckenflügen gebracht hat.

„Delhi ist längst nicht die einzige Stadt mit solch katastrophalen Luftwerten, die ich in den vergangenen Jahren als Reporter bereist habe. Auch über afrikanischen, lateinamerikanischen und asiatischen Metropolen hing oft dieser penetrante Garagengestank, weswegen jährlich Millionen Menschen Atemwegserkrankungen bekommen und teils daran sterben.
Ich habe zuletzt über Agent-Orange-Opfer im Vietnamberichtet und über die prekären Lebensumstände bulgarischer Gastarbeiter in ihren Heimatdörfern. Ich halte es nach wie vor für sinnvoll, solche Missstände zu thematisieren. Ungerechtigkeiten aufzudecken. Benachteiligten eine Stimme zu geben. Lesern neue Perspektiven zu eröffnen, zum Beispiel auf Migranten.
Mir ist klar, dass ich durch meine Reporterreisen zur Ökokatastrophe beitrage. Ich weiß, wie wenig es bringt, dass ich zum Beispiel Ökostrom beziehe und noch nie ein eigenes Auto besessen habe. Durch meine Fliegerei verursache ich trotzdem tonnenweise CO2 – auch wenn ich dieses nachträglich per Atmosfair ausgleiche.
Das Umweltbundesamt hat für Leute wie mich mal den Begriff ‚klimabesorgter Klimasünder’ geprägt. Ich finde, das trifft es ziemlich gut.
Ich halte außerdem das Reisen an sich für sinnvoll. Weil man dabei lernen kann, besser mit Andersartigkeit umzugehen. Was wiederum helfen kann, Gesellschaften toleranter und freier zu machen.“

Den Umstand, dass der Journalist seine Reisen für sinnvoll hält, teilt er mit ziemlich vielen anderen Menschen, die auch fliegen. Wobei, Schultzens Flüge sind nicht nur wichtig. Er hat eine Mission: in Delhi ein Narrativ spüren. „Klimabesorgter Klimasünder“ beschreibt das möglichst billige Virtue signalling der gehobenen Mittelschicht tatsächlich sehr gut. Deren Hauptvorwurf an den Malle-Plebs lautet ja, dass er sich beim Mittelstreckenflug nicht mit Gewissensbissen aufhält.

Aber wie lautet nun Schultzens Ausweg aus seiner tartuffegeprüften Zwickmühle?

„Die Lösung, die ich bislang gefunden habe“, schreibt Schultz, „fällt ziemlich dürftig aus: Ich will in Redaktionskonferenzen anregen, auf Reisen zu verzichten, wenn diese für eine Recherche nicht nötig sind. Es ist nur ein bescheidener Beitrag fürs Klima, und ich habe ein ziemlich schlechtes Gewissen. (Wenn Sie bessere Vorschläge haben, schreiben Sie mir gern.)“

Was der Autor dieses Wochenrückblicks gern tut. Ganz aufrichtig, ich schätze es, dass Schultz die Frage stellt. Viele tun es ja gar nicht. Also: Zum einen weist die Idee, unnötige Recherchereisen wegzulassen, schon einmal in die korrekte Richtung, ist allerdings nicht ganz neu. Claas Relotius war darin schon Vorreiter; seinen Bericht über die in der Klimakrise untergegangenen Orte auf Kiribati hatte er bekanntlich nicht direkt auf der Insel selbst erfunden, sondern in Los Angeles, also auf halber Strecke.

Die Expeditionen in die USA wiederum hätte er sich komplett sparen können, in seinem Text über Ferguson stimmten gerade mal die Namen, und die lassen sich auch CO2-arm aus dem Netz ziehen. Diese klimasensible Methode ist erweiterungsfähig auf mehr oder weniger den gesamten Qualitätsmedienbetrieb. Amerikaner sind dumm, dick und mehrheitlich trump, die Briten mehrheitlich verrückt, weil sie aus der EU wollen, die Polen katholische Ausländerhasser, die Juden Israelis ihr eignes Unglück, Sachsen sind dunkeldeutsch und der Franzmann mal so, mal so, aber immer mit Barett unterm Arm und Baguette im Hals – derlei weiß ein deutscher Journalist auch ohne Hingucken.

In der vergangenen Woche legte übrigens der Kollege Stefan Niggemeier auf Übermedien Indizien vor, denen zufolge eine “Spiegel”-Geschichte über angeblich gezinkte WM-Spiele im Wesentlichen aus einem Facebook-Chat zwischen dem Redakteur und einem vermeintlichen Wettmafioso bestanden haben soll. Als Beweis für die Manipulation galt seinerzeit die exakte Voraussage des Buchmachers, wie ein Spiel ablaufen würde. Den Unterlagen zufolge fanden die Facebook-Unterhaltungen allerdings nicht vor, sondern nach dem Spiel statt, was, wie schon Sepp Herberger wusste, die Prognose erleichtert. Vor allem aber: kein schädliches Rumgefliege.

Möglicherweise war dieser Absatz etwas polemisch. Aber ganz ernsthaft: Muss eigentlich, wenn Flugvermeidung zur Weltrettung unerlässlich ist, ein Journalist überall hinreisen? Lassen sich nicht in Indien, Vietnam, China, Brasilien und anderswo Kollegen finden, die das Land bestens kennen und für das deutsche Publikum berichten könnten? Ein indischer Kollege beispielsweise könnte schreiben, dass Smog nichts mit CO2 zu tun hat, sondern mit Partikelausstoß und Schwefeldioxid (gut, das könnte ein naturwissenschaftlich realschulgebildeter deutscher auch), und dass die Verbesserung der Luft in indischen Ballungszentren vor allem durch die Ersetzung uralter Kohlekraftwerke durch moderne erreicht werden kann, auch durch Gasanlagen oder Atomkraftwerke, aber nicht durch Windräder und Solaranlagen. Denn die sind für ein Land wie Indien zu teuer. Schon in dem vergleichsweise kleinen Deutschland kostet die EEG-Umlage die Verbraucher 2019 gut 27 Milliarden Euro. Die Smogbekämpfung gelingt in dieser Weltgegend auch eher mit neuen schadstoffarmen Autos als mit Fahrverboten.

Ein chinesischer Korrespondent könnte darüber schreiben, dass China 27 Prozent des weltweiten menschengemachten CO2 ausstößt (Deutschland: 2,3 Prozent), und das deshalb, weil es zur Fabrik der Welt geworden ist, auch für Europa. Durch diese Produktionsverlagerung nach Südostasien ist dort allerdings die Armut in den letzten 30 Jahren schneller gesunken als irgendwo sonst. Die Welt ist also nicht ganz so bentoesk, wie sie von Hamburg und Berlin manchmal aussieht.

Ganz nebenbei: da Annalena „Kobold“ Baerbock immer wieder mal darauf hinweist, dass Schweden pro Kopf weniger Kohlendioxid ausstößt als Deutschland (nicht ein Zehntel des deutschen Niveaus, wie die grüne Schlaufrau meinte, aber ein Drittel): Wäre das nicht einmal ein Anlass für deutsche Qualimedien, auf den Grund hinzuweisen? Nämlich den 40-prozentigen Anteil von Kernkraft an der Stromerzeugung in Gretaland?

Ganz ernsthaft, wenn es wirklich um das Überleben der Menschheit geht und nichts mehr tabu sein darf, dann könnten bundesdeutsche Journalisten doch einmal ihren Blick auf Atomkraft ändern, den sie sowieso weltexklusiv haben. Und dabei hilft wiederum: nicht so viele eigene Reporterreisen nach da. Sondern öfters mal Leute von dort schreiben lassen. Spart, mit Blick auf die heimische Auflagenentwicklung, auch noch Kohle.

Dafür tun sich ganz neue und bisher vernachlässigte Themenfelder im Inland auf. In der vergangenen Woche zum Ferienbeginn in Baden-Württemberg versuchten Gretisten am Stuttgarter Flughafen, die nichtklimabesorgten Klimasünder an ihrem Flug nach Malle und ans Rote Meer zu hindern, ohne Erfolg.

Worüber der SWR trotzdem groß berichtete, und dazu noch den Aktivisten Kolja Schultheiß im Studio hatte. Der FF-Schüler mit der fluffigen Fönfrisur und einem schicken weißen Systemwechsel-Shirt mit der Aufschrift „Burn Capitalism, Not Coal“ konnte dort erklären, dass Mallorca untergangsbedroht ist, wenn die Leute weiter so oft dort hindüsen. Der SWR-Stichwortreicher fragte nicht weiter nach. Schade, es wäre interessant geworden. Kolja Schultheiß stand übrigens nicht zum ersten mal beim SWR vor der Kamera, kürzlich war er in fast gleicher Sache schon einmal da. Wer wissen will, was genau Amerikaner mit dem Begriff Softball Interview meinen, sollte sich diese beiden Beiträge anschauen. Dabei – Stichwort neue Themenfelder – wäre es doch nicht so uninteressant, Kolja neben dem Untergangsdatum für Mallorca auch noch danach zu fragen, wie oft jemand nach Malle und retour fliegen müsste, um auf den Flug-CO2-Verbrauch von Luisa Neubauer zu kommen. Oder wenigstens auf das Meilenkonto der Bayerischen Grünen-Chefin Katharina Schulze.

Apropos burn capitalism und Systemwechsel: Übers Wochenende hat ein ebenfalls fluffiger taz-Schreiber die Lösung für die Wohnungsknappheit in Berlin gefunden: Einfach die Kleingartenkolonien platt machen und Häuser hinstellen!

Um große bauliche Veränderungen in Berlin durchzusetzen, da müssen wir bekanntlich eiskalt sein, das wussten schon ganz andere:

„Natürlich schmerzt jede Träne eines Kleingärtners beim letzten Blick in die liebevoll aufgebaute Laube. Da haben Erwin und Rosa 40 Jahre ihren Kleingarten gepflegt, erst 1993 das Plumpsklo gegen ein ordentliches getauscht, weil die Kolonie – allein das Wort lässt düstere Erinnerungen aufkommen – endlich ans Abwassernetz angeschlossen wurde, und jetzt sollen sie raus? Wo sollen sie denn jetzt hin am Wochenende? In den Park!“

Der Kleingarten, eine Erinnerung an düstere Zeiten, in denen es noch Sozialreformer wie Moritz Schreber gab. Heute weiß die „taz“ es besser: Erwin, Rosa und Hanspeter: keine Opfer, sondern Täter. Die nämlich Land besetzen, das Singles zusteht, die in Berlin was Schlechtbezahltes mit Medien und Postcolonial Studies machen wollen. Wie das Austilgen der Gärten jetzt CO2-mäßig aussehen würde und was Greta dazu sagt, muss später geklärt werden. Jedenfalls, die Gartenlauben sind, anders als das „taz“-Gebäude, ohne einen Cent Staatskohle entstanden. Deshalb macht das Enteignen ja Spaß.

Wer spätestens nach dieser Woche nicht gelernt hat, dass es nicht ernsthaft um CO2 geht, sondern um Klassenkampf von Oben, dem ist vermutlich auch in Zukunft nicht zu helfen.


Der Beitrag von Alexander Wendt ist zuerst bei PUBLICO erschienen.

Anzeige