Tichys Einblick
Rückzug eines SPD-Realos

„Wer heute Politik betreibt, muss sich fast komplett aufgeben“

Michael Roth zieht sich aus der Politik zurück. Das ist ein Zeichen dafür, dass die Unterstützer für die Ukraine unter den SPD-Funktionären die Minderheit bilden – aber auch eine Abrechnung mit der Politik im Jahr 2024.

Michael Roth, SPD, Berlin, 16.11.2023

IMAGO / dts Nachrichtenagentur

Michael Roth ist seit 2021 Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses. Ein Trostpreis für den Hessen. Er galt als Vertreter eines linken Realismus. Viele Genossen versprachen sich viel von ihm, als er 2019 für den Parteivorsitz kandidierte. Doch er landete in der Urwahl nur auf Platz drei. Hinter Olaf Scholz und hinter Saskia Esken, die von den linken Unrealisten in der SPD auf das Schild gehoben wurde.

So gesehen war der 53-Jährige im Bundestag einerseits nicht ganz unwichtig – andererseits aber auch ein Gescheiterter, von dem klar war, dass der ehemalige Staatssekretär den ganz großen Karrieresprung verpatzt hatte. Dass er nun seinen Rückzug aus der Politik für 2025 ankündigt, ist also nicht die große Nachricht. Doch die Erklärung, die er dem Stern dafür liefert, hat es in sich.

Zum einen, weil es den Konflikt in der SPD ausdrückt, der durch den Ukraine-Krieg entstanden ist. Der habe für eine frostige Atmosphäre in der Fraktion gesorgt, berichtet Roth. Die Unterstützer der Ukraine streiten mit dem Block, der wie Fraktionschef Rolf Mützenich gerne Olaf Scholz als „Friedenskanzler“ sehen würde. Dass Letzterer die Mehrheit besitzt, war schon vor 2022 klar, als die SPD-Außenminister Heiko Maas und Frank-Walter Steinmeier um Wladimir Putin herum scharwenzelten, während sie zu Donald Trump auf Distanz gingen.

Angetrieben wird dieser Konflikt durch den unentschiedenen Belanglos-Kanzler. Olaf Scholz will in der Unterstützung der Ukraine einerseits keine Roten Linien mehr kennen. Andererseits zieht er ständig Rote Linien. Etwa bei der Lieferung des Taurus-Systems. Nun ist es nicht so, dass der Kanzler heute die eine und morgen die andere Position vertreten würde. Er vertritt seine Widersprüche in jeder seiner Reden, mitunter sogar in einem einzigen seiner endlosen Sätze.

Zum anderen ist an Roths Rücktritt die allgemeine Abrechnung spannend, die er mit dem Politikbetrieb vollzieht. Dem Stern sagt er: „Wenn man heute Spitzenpolitik betreibt, muss man sich fast komplett aufgeben.“ Ein Mann mit der Prinzipienfestigkeit eines Willy Brandts würde es im heutigen Politbetrieb nicht mehr bis zum Kanzler schaffen. Wer in diesem Betrieb Karriere machen wolle, brauche ein „überbordendes Selbstbewusstsein“ und ansonsten nur die Fähigkeit, jeden Tag einfach nur überleben zu wollen.

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