Tichys Einblick
Chemnitz

„Man gewöhnt sich dran“

19 Sekunden dauert der Filmschnipsel, der angeblich Hetzjagden in Chemnitz beweisen sollte. Dabei zeigt er einen Mann, der von seiner Frau ermahnt wird, einem Mann, der ihn mit Bier übergossen hatte, nicht hinterherzulaufen. Die Geschichte einer Fake News, die niemand korrigieren will.

Sean Gallup/Getty Images

Als das schwarze Auto sich langsam in eine der schmalen Parklücken an der Grünanlage schiebt, hinter der sich träge die Ostsee weitet, wendet drüben am Kai ein Mann seinen Kopf in Richtung des Geräuschs. Er sitzt – neben ihm seine Frau – weit von der ruhigen Straße auf einer Bank und registriert jede Bewegung in seinem Rücken aufmerksam; nicht wie jemand, der einen Besucher erwartet, sondern wie jemand, der verfolgt wird.

Heute zumindest wird er nicht verfolgt – der Mann, den wir „Hase“ nennen. Er erwartet einen Reporter von Tichys Einblick. Was alle drei nicht wissen: Zwei weitere Akteure, die heute eigens in das verschlafene Ostseenest gereist sind, beobachten die gesamte Szenerie seit einer geschlagenen Stunde aus einem nahegelegenen Café heraus. Sie sind Profis, perfekt getarnt – am Ostseestrand fällt in T-Shirt, Bermudas und Badeschlappen an diesem Tag niemand auf, denn die frühsommerliche Sonne brennt nach einem eher kühlen Mai recht heiß.

Wie rechts sind die Sachsen?
Die Lügen von Chemnitz und die lästige Wahrheit
Der Treffpunkt ist eine unauffällige Adresse. Der Reporter verschwindet zuerst durch die niedrige Tür, „Hase“ und seine Frau folgen knapp fünf Minuten später. Was sich liest wie ein Agentenkrimi, ist seltsame Realität in Deutschland. Wer die Wahrheit verrät über einen der peinlichsten Fehler in der staatlichen Dramaturgie öffentlicher Tatsachenverdrehung, hat guten Grund, vorsichtig zu sein. Und so geht es weiter im Krimi, wenn die Kronzeugen sich mit Journalisten treffen: Zeugen müssen sich verstecken, das Treffen mit Journalisten wird zum Katz-und- Maus-Spiel.

Möglichst weit weg von Chemnitz ist man hier, einer Stadt, in der seither Misstrauen regiert. Und nun trauen sich „Hase“ und seine Frau zu sagen, was geschehen ist – damals, im August 2018 in Chemnitz. Und die Geschichte ist in drei Minuten erzählt. Betroffen waren sie vom Mord an Daniel Hillig am 26. August. Am Tatort habe es spontan eine Mahnwache gegeben, dann auch einen Trauermarsch. Stumm seien sie durch Chemnitz gegangen, sagen beide übereinstimmend. Keine Gewalt? Nein, keine Gewalt – zumindest seitens der Teilnehmer. Die Störungen kamen von außen, es waren Menschen, die von der Antifa instrumentalisiert worden waren, wie inzwischen bekannt wurde. Und diese Menschen störten auf einem dieser Märsche nicht nur, sondern sie überschütteten die Teilnehmer, die in stummer Trauer zum Tatort gingen, mit Bier. Und grölten dazu, dass sie alle „Nazis“ seien, so haben es beide gehört. Ein von einem vollen Bierbecher am Kopf getroffener Demonstrationsteilnehmer habe dem grölenden Werfer nachgesetzt, „um ihm einen Arschtritt zu versetzen“.

Und dann schauen sich „Hase“ und seine Frau lange an. Ihr steigen die Tränen in die Augen, und auch er muss um Fassung ringen: „Dass man sich das bieten lassen muss …“ Sie ergänzt: „Und ich hab’ dann halt gesagt, dass du nicht mitlaufen sollst.“ Ihr Satz „Hase, du bleibst hier“ ist seither zu einer Art geflügeltem Wort geworden.
Er beteuert wieder: „Aber ich wollte ja gar nicht.“ „Ich weiß“. Der Reporter stellt die Frage trotzdem noch einmal: Wollte „Hase“ vielleicht doch die Störer verprügeln, wollte er hinterher? „Nein.“ Die Antwort ist entwaffnend schlicht. Leise nimmt sie seine Hand. So sitzen sie eine ganze Weile stumm. Es ist, als seien sie gedanklich wieder in Chemnitz, beim ermordeten Daniel Hillig.

Was da so beschrieben wird, ist die Schlüsselszene in dem Schundroman, der daraus gemacht wurde: Wie lenkt man die öffentliche Aufmerksamkeit ab? Wie erreicht man, dass nicht mehr über eine Straftat gegen das Leben gesprochen wird, sondern über die Reaktionen, die angeblichen „Hetzjagden von Chemnitz“, die das eigentliche Verbrechen in der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt haben. „Hase“ und seine Frau wären die Kronzeugen in einem an Wahrheit interessierten Verfahren. Jetzt sind sie eher gejagte Hasen, weil der Kontext ihres Handyvideos nicht in das regierungsamtliche Bild passt.

So unspektakulär kann die Wahrheit sein: Die Sequenz von 19 Sekunden, die diese Hetzjagd beweisen sollte, zeigt alles andere als das. Und dieser Filmschnipsel wurde zudem aus einer geschlossenen Facebook-Gruppe gestohlen, jemand muss Passwörter gekannt haben – oder sie wurden geknackt. Schließlich wurde die Videosequenz von der Antifa unter dem Pseudonym „Zeckenbiss“ hochgeladen und fand blitzschnell ihren Weg in die Medien.

„Hetzjagden“

Schon am Tag nach den Ereignissen von Chemnitz, am 27. August 2018, sprach Regierungssprecher Steffen Seibert im Namen der Bundesregierung ausdrücklich von „Hetzjagden“; davor konnte er unmöglich Kontakt zur sächsischen Polizei, zur zuständigen Staatsanwaltschaft, zu den politischen Entscheidungsträgern in Sachsen oder den beteiligten Einsatzkräften aufgenommen haben. Doch es war das geeignete Bild, um von der Tat abzulenken und die Täter unter die Opfer einzureihen. Und dann folgte die Kanzlerin. Auch sie sprach einen Tag später von „Hetzjagden“. Beide, die Regierungschefin und ihr Pressesprecher, bezogen sich dabei ausschließlich auf Angaben aus der Presse – und diese hatte ihre Informationen wiederum von der Gruppe „Zeckenbiss“. Ein ungeheurer PR-Erfolg für die Antifa mit Material, das bei genauerer Betrachtung das Gegenteil beweist.

Hans-Georg Maaßen, der damalige Chef des Bundesamts für Verfassungsschutz, wurde aus seinem Amt gedrängt, weil er Zweifel an der Authentizität nicht des Videos, aber der daraus abgeleiteten Folgen äußerte. Maaßen hatte öffentlich gemacht, was verborgen bleiben sollte.

Ans Licht gekommen ist die Wahrheit trotzdem. Schon im Januar titelte Tichys Einblick: „Die Lügen von Chemnitz“ – die wahre Geschichte war nun bekannt. Das nahm die AfD-Fraktion im Bundestag zum Anlass, um eine offizielle Anfrage bei der Bundesregierung zu stellen: Welche Informationsquellen hatte die Regierung, als sie von „Hetzjagden“ sprach?

Das Kanzleramt konnte nicht anders als zuzugeben, dass die „politische Einordnung der Bundesregierung“ auf Medienberichten fußte – und nur darauf. Denn die Chemnitzer Polizei, die zuständige Staatsanwaltschaft sowie Lokalmedien, die an diesem Tag in Chemnitz anwesend waren, hatten bestätigt, dass es keine Hetzjagden auf Migranten gegeben hatte.

Aufklärung „schadet Deutschland“

„Was Sie machen, schadet Deutschland und ist auch eine Schande für Deutschland“, sagte der SPD-Abgeordnete Martin Rabanus in der von der AfD erzwungenen Debatte. Der Unionsabgeordnete Alexander Hoffmann forderte die AfD auf, sich von rechtsextremistischen Äußerungen zu distanzieren; ihr gehe es doch nur um „Hetze, Spaltung und Polarisierung“, sagte die Grünen-Abgeordnete Monika Lazar. Der Chemnitzer FDP-Abgeordete Franz Müller-Rosentritt, der selbst zwar nicht von einer „Hetzjagd“ sprechen will, warf den Fragern vor, die Vorfälle zu instrumentalisieren.

Mit „Hase“ und seiner Frau hatte keiner gesprochen; der Kontext des Videos wurde damit weiter ausgeblendet, um die eigene Interpretation aufrechterhalten zu können. Sich der Bundesregierung und den Medien entgegenzustellen, dazu fehlen dem Ehepaar aus Chemnitz die Mittel. Ein Presserechtsprozess gegen die größten Sender der verfälschten Botschaft würde 40.000 Euro verschlingen. Sponsoren werden gesucht. Aber die Angst vor der amtlichen Diffamierungskampagne bleibt, die dann von den Medien bereitwillig übernommen wird, die Angst als „Nazis“ persönlich verfolgt, beruflich gefeuert, im täglichen Umfeld belästigt und sozial isoliert zu werden – diese Angst bleibt.

Mit einer Abbitte der Regierungschefin hatten die beiden „Hases“ nicht gerechnet. Aber die Fassungslosigkeit bleibt: „Alles mit diesem kleinen Video, das sie uns gestohlen haben“, sagt sie – und zeigt eine Sequenz auf ihrem Mobiltelefon: einen Ausschnitt aus dem ZDF, in dem die Kabarettistin Kebekus sie als „dominantes Naziweibchen“ diffamiert, „das sein Nazimännchen dominiert“. Und so endet der Abend in dem entlegenen Ostseehafen still und bedrückt.

Die Wahrheit müsste auch beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen bekannt sein – stattdessen reißen Kabarettistinnen Naziwitze über Menschen, denen sie nie begegnet sind. Längst steht das Kabarett nicht mehr an der Seite der Machtlosen, sondern singt die Hymne der Macht. „Man gewöhnt sich dran“, sagt Frau „Hase“.

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