Tichys Einblick
Schachzug oder wieder nur Störmanöver?

Macron will europäischen Vorstoß zur Rüstungskontrolle

Emmanuel Macron zeigt in einer Grundsatzrede, wer sicherheitspolitisch in Kontinentaleuropa den Ton angeben will und kann: Frankreich. Und zwar letztlich allein. Von der Nato war keine Rede.

FRANCOIS MORI/POOL/AFP via Getty Images

In Frankreich ist es üblich, dass der Staatspräsident als Oberbefehlshaber der Streitkräfte einmal während einer fünfjährigen Amtszeit eine Rede über die militärstrategische Lage hält und dabei auf die Atomstreitmacht des eigenen Landes eingeht. Emmanuel Macron tat dies soeben am 7. Februar 2020, indem er die künftige Atomwaffen-Doktrin seines Landes erläuterte.

Das Markanteste an Macrons Rede: Er wünscht einen gemeinsamen europäischen Vorstoß für eine „internationale Agenda zur Rüstungskontrolle“. Dafür will sich Macron bei den europäischen Verbündeten verwenden. Ob er nach dem Brexit damit auch Großbritannien mit meint, ist unklar. Interessant ist auch, dass Macron nicht von der Nato bzw. den europäischen Nato-Partnern sprach. 

Macron begründet seinen Vorstoß damit, dass die europäischen Länder in Fragen des nuklearen und konventionellen Wettrüstens nicht nur „Zuschauer“ sein dürften. Er hob dabei vor allem auf die Tatsache ab, dass die USA aus dem INF-Vertrag mit Russland zur Begrenzung atomar bestückbarer Mittelstreckenraketen ausgestiegen sind.

Auslöser: Aufkündigung des INF-Vertrages

Frankreich zuerst
Mit Bedacht irrlichtert Emmanuel Macron durch die NATO
Apropos INF – dazu sollte man folgendes wissen: Der INF-Abrüstungsvertrag (INF = Intermediate Range Nuclear Forces, nukleare Mittelstreckensysteme) war eines der zentralen Abrüstungsabkommen, das von US-Präsident Reagan und UdSSR-Generalsekretär Gorbatschow ausgehandelt und am 8. Dezember 1987 in Washington unterzeichnet worden war. Mit dem INF-Vertrag war beiden Seiten der Besitz landgestützter, atomarer Marschflugkörper und Raketen mit einer Reichweite von 500 bis 5.500 Kilometern untersagt worden. Es war dies ein wichtiger Schritt zur Beendigung des Kalten Krieges. Allerdings unterwanderte Russland den Vertrag ab Mitte der 2000er Jahre mit der Entwicklung der SSC-8. Die Begründung des damaligen russischen Verteidigungsministers Sergei Iwanow war, Russland müsse Chinas, Irans und Pakistans Mittelstreckenraketen etwas entgegenzusetzen haben. 

Als die US-Dienste herausfanden, dass Russland an neuen Marschflugkörpern mit einer Reichweite von etwa 2.500 Kilometern arbeitete, und zudem die Raketenrüstung des Irans bedrohliche Formen annahm, planten die USA, ein Raketenabwehrsystem in Tschechien, Polen und später Rumänien zu stationieren, was 2005/2006 wiederum Auslöser für heftige russische Kritik am INF-Vertrag war. 

Als im Februar 2017 schließlich klar wurde, dass Russland Marschflugkörper des Typs SSC-8 (in Russland 9M729 genannt) im eigenen Land stationiert hatte und damit gegen das INF-Abkommen verstieß, konterte Washington mit der Entwicklung neuer Raketen. Am 20. Oktober 2018 erklärte US-Präsident Trump, die USA würden sich aus dem INF-Vertrag zurückziehen. Am 4. Dezember 2018 setzen die USA Russland eine Frist von 60 Tagen, um die neuen Marschflugkörper zu zerstören. Andernfalls hätten die USA kein Interesse mehr, am INF-Vertrag festzuhalten. Moskau wies die Vorwürfe erneut zurück und drohte mit Aufrüstung. Sollten die USA aus der INF-Vereinbarung aussteigen, werde Russland genau jene Waffen bauen, die bisher unter dem INF-Vertrag verboten waren, kündigt Wladimir Putin an. Am 23. Januar 2019 behauptete Russland, der Marschflugkörper 9M729 habe nur eine Reichweite von 480 Kilometern. Militärexperten bezweifeln diese Angaben; sie sind der Überzeugung, dass diese Raketen eine erheblich größere Reichweite haben und zum Beispiel problemlos Berlin sowie große Teile Deutschlands erreichen können. Am 1. Februar 2019 erklärten die USA ihren Rückzug aus dem INF-Vertrag. Im Juli 2019 wurde der Rückzug vollzogen. Russland hat das umgehend abgelehnt und seinerseits den Vertrag ausgesetzt. 

Übrigens hatte bereits die Obama-Regierung in den russischen Aktivitäten einen Verstoß gegen den INF-Vertrag gesehen, jedoch am Abkommen festgehalten, weil die Europäer ein neues atomares Wettrüsten befürchteten. Ein Folgevertrag, gar unter Einbeziehung Chinas ist nicht in Sicht, zumal sich China darauf berufen würde, dass es mit seinen rund 280 nuklearen Gefechtsköpfen (gegenüber 6.850 Russlands und 6.450 der USA) hier gar keine große Rolle spiele.

Macron weiß um die strategische Rolle Frankreichs in Europa. Er will den Europäern zeigen, dass sie mit ihm an der Spitze nicht in eine Zuschauerrolle verbannt sind. Frankreich ist nach dem Brexit zudem die einzige EU-Atommacht. Was allerdings wenig sagt, denn die Briten scheren ja nicht aus der NATO aus und sie bleiben nach wie vor an PESCO beteiligt (PESCO = Permanent Structured Cooperation; deutsch: Ständige strukturierte Zusammenarbeit).

Macrons Motivation?

Der Wald brennt, Macron profitiert
Macrons großer Amazonas-G7-Clou
Nach Macrons forscher „Die- NATO-ist-hirntot“-Diagnose unmittelbar, bevor die NATO am 3. Dezember 2019 in London ihren 70. Geburtstag feierte, lässt Macron mal wieder die Muskeln spielen. Sein Land verfügt über knapp 300 Atomsprengköpfe. Immerhin! Das sind in etwa so viele, wie sie China hat, aber erheblich weniger, als die USA und Russland haben, nämlich jeweils weit über 6.000.

Will Macron dem US-Präsidenten die Show stehlen? Wir wissen zumindest nicht, ob Macrons Vorstoß mit Trump abgestimmt ist. Wahrscheinlich eher nicht. Denn Frankreich kocht sein eigenes Süppchen – und zwar im Endeffekt nur für sich. Man erinnere sich: Unmittelbar vor der 55. Münchner Sicherheitskonferenz Mitte Februar 2019 hatte Macron seine Teilnahme kurzfristig abgesagt. Stattdessen ließ er seinen Generalstabschef Lecointre eine mittelschwere Bombe zünden. Dieser sagte klipp und klar, dass Frankreich seine nukleare Streitmacht „Force de frappe“ und seine Raketen mit 8.000 Kilometer Reichweite nicht in den Dienst des Schutzes anderer EU-Länder stellen wird. Macron weiß also sehr wohl um Frankreichs Gewicht, er lanciert seine Abrüstungsvorschläge zudem mitten hinein in die allerdings reichlich illusionäre Vision einer europäischen Armee (mit Frankreich als tonangebender Kontinentalmacht!), in den Brexit und in Trumps eher auf Innenpolitik ausgerichteten Wahlkampf. „Grande Nation“ eben!

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