Tichys Einblick
10 Jahre und kein Urteil

Loveparade: Justitia produzierte Spesen, fällte aber kein Urteil

21 Tote, 650 Verletzte, kein Verantwortlicher und keine Strafe: Nach 10 Jahren erkennt das Gericht nur geringe Schuld, aber eine Kaskade von Fehlern - und die Verantwortlichen hätten schon genug gelitten. Einen Freispruch gibt es aber nicht: Das Gericht stellt das Verfahren ein.

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Vor zehn Jahren ereignete sich auf der Loveparade in Duisburg das Unfassbare: Es kam zu einer Massenpanik, als sich ankommende und abreisende Fans aneinander vorbei, durch einen viel zu engen Tunnel und durch einen eng abgezäunten Durchgangsbereich schieben mussten. 21 Menschen starben, mehr als 650 wurden verletzt. Die Suche nach den Verantwortlichen und Gründen, die zur Katastrophe führten, beschäftigten Öffentlichkeit, Presse und Politik lange.

Im Dezember 2017 begann die Hauptverhandlung für ein Strafverfahren, in dem anfänglich 10 Personen auf der Anklagebank saßen. In 183 Verhandlungstagen wurde ein Aktenberg von 60.000 Seiten und 1.000 Stunden Videomaterial angehäuft. Die Kosten des Prozesses betragen zwischen vier und fünf Millionen Euro.

Der Prozess ist seit diesem Montag vorbei – aber ein Urteil wurde nicht gefällt. Die drei verbleibenden Angeklagten (gegen die anderen sieben wurde das Verfahren schon früher eingestellt) sind nicht freigesprochen, aber auch nicht für schuldig befunden worden. In der Presseerklärung zur Einstellung des Verfahrens erläutern die Richter:

„Unter Gesamtwürdigung dieser Erkenntnisse und aller Umstände der Katastrophe kommt das Gericht trotz der schwerwiegenden Folgen der Tat zu dem Schluss, dass die (mögliche) individuelle Schuld der Angeklagten an der Katastrophe zum jetzigen Zeitpunkt als gering anzusehen sei.“

Weiterhin, so die Richter, müsse beachtet werden, dass es nicht einen einzigen Faktor gäbe, der zu dem tödlichen Gedränge geführt habe. Stattdessen sei eine Vielzahl an Faktoren zusammengekommen, unter anderem:

  • ein Veranstaltungsort, der weder für die tatsächliche Besucherzahl, noch für die geplante Besucherzahl geeignet war
  • ein zu enger Zugang zu dem Veranstaltungsgelände
  • verschiedene organisatorische Faktoren am Tag, wie Kommunikationsstörungen, Fehlentscheidungen und mangelhafte Absprachen.

Doch die Richter heben auch einige Maßnahmen hervor, die die Katastrophe verhindert oder abgemildert hätten; unter anderem ein abgestimmtes Vorgehen der Polizei und des Veranstalters, sowie wenn weniger Besucher auf das Gelände gelassen worden wären.

Die Begründung der Einstellung lautet wie folgt:

„Die Einstellung des Verfahrens […] ist gerechtfertigt, weil eine etwaige Schuld der Angeklagten infolge einer Gesamtschau aller relevanten Umstände zum jetzigen Zeitpunkt […] als (nur) noch gering im Sinne dieser Vorschrift anzusehen ist und ein öffentliches Interesse an der weiteren Verfolgung nicht mehr besteht. Dabei hat die Kammer besonders gewertet, dass die tragischen Ereignisse auf der Loveparade in Duisburg am 24. Juli 2010 nach den bisher gewonnenen Erkenntnissen auf das Zusammenwirken einer Vielzahl miteinander korrelierender Ursachen zurückzuführen sein dürften, das Geschehen bereits fast zehn Jahre zurückliegt, die Angeklagten durch selbiges sowie das mediale Interesse erheblich belastet gewesen sein dürften und inzwischen nur noch eine geringe Wahrscheinlichkeit besteht, das Verfahren mit einem Sachurteil beenden zu können.“

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Es ließt sich wie Hohn für die Hinterbliebenen der Toten, die Verletzten, die Geschädigten: Weil die Verhandlung des Strafverfahrens für die Angeklagten schmerzhaft sei, und weil die Geschehnisse schon so lange zurück liegen, wird das Verfahren ohne Urteil beendet, die Angeklagten haben sich ja solche Mühe gegeben, niemanden zu Schaden kommen zu lassen.

Tatsächlich findet sich in dem 44 Seiten langen Beschluss kein Fehler seitens der Angeklagten, der wohl individuell als schwerwiegender Schuldgrund gilt. Der Karl-Lehr-Straßen-Tunnel, der einer der Gründe für das Massengedränge und die Tode war, wurde zum Beispiel schon im Vorfeld der Veranstaltung, im Rahmen einer „Entfluchtungsanalyse“ gegenüber dem Duisburger Amt für Baurecht und Bauberatung als kritischer Faktor hervorgehoben, der genauer untersucht werden müsste. Doch das Amt für Baurecht nahm an, dass diese Einschätzung des Tunnels auch anderen Verantwortlichen gegenüber geäußert werden würde – und hielt sich für nicht zuständig.

Ein weiterer Faktor für die tödlichen Ereignisse war, dass sich ein enormer Rückstau von Personen gebildet hatte, die auf die Loveparade wollten und auf Einlass warteten. Der Ursprungsgrund für den Rückstau war, dass sich der Anfang der Veranstaltung um eine Stunde verzögerte, weil noch nicht alles fertig vorbereitet war. Dieser Rückstau, der zum Auftakt der Veranstaltung um ca. 12:00 Uhr noch ungefährlich war, nahm immer größere Ausmaße an, bis es um 14:00 Uhr zu ersten „Drucksituationen“ kam. „Drucksituation“, damit wird beschrieben, wenn zu viele Menschen auf zu wenig Raum gedrängt werden. Diese Drucksituationen waren „für die Angeklagten vorhersehbar und vermeidbar“ und hätten mit besserer Planung vermieden werden können, denn die eingeplanten Zugangswege waren offensichtlich zu eng und auf einen zu geringen Teilnehmer-Zustrom ausgelegt. Auch war das Event-Areal falsch aufgebaut, was wiederum dazu führte, dass sich die Gäste nicht wie vorgesehen auf dem gesamten Gelände verteilten. Das hätte so nicht abgenommen werden dürfen – wurde es aber.

Fehler dieser Art häufen sich auf vielen Seiten im Dokument, so dass keine Schuld einer einzelnen Person zu erkennen sei – vielmehr eine Kaskade an Fehlentscheidungen, Unterlassungen und Falsch-Annahmen, die schlussendlich in die große Tragödie mit 21 Toten mündete.

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 Das Gericht merkt also an, dass es überhaupt schwierig sein dürfte, eine Schuld nachzuweisen – auch weil die Loveparade schon 10 Jahre zurückliegt – und dass viele mildernde Umstände vorliegen, dass viele Ursachen zusammen kamen, die die Katastrophe auslösten; dass die Tat im Juni nach eben zehn Jahren verjährt, dass die Angeklagten mit dem Gericht kooperierten und sich spätestens seit Erhebung der Anklage 2014 einem hohen psychischen Druck ausgesetzt sehen.

Die Richter befanden auch, dass kein öffentliches Interesse an der weiteren Strafverfolgung bestünde, denn:

„Die Angeklagten sind […] nach den bisherigen Erkenntnissen noch nie strafrechtlich in Erscheinung getreten. Zudem dürften sich die rechtlichen und organisatorischen Rahmenbedingungen im Vergleich zur Planungs- und Durchführungsphase der Loveparade 2010 in Duisburg deutlich verändert haben. Anhaltspunkte dafür, dass die Angeklagten die heutigen Regelungen und Empfehlungen bewusst nicht einhalten würden, hat die bisherige Beweisaufnahme nicht ansatzweise ergeben. Die Angeklagten sind […] von den bisher vernommenen Zeugen, die maßgeblich an der Planung und Durchführung der Loveparade 2010 in Duisburg beteiligt gewesen sein dürften, im Wesentlichen als gewissenhafte, sorgfältige und professionell arbeitende Personen wahrgenommen worden.“

Wer denkt, dass das Gericht vergessen haben könnte, dass 21 Menschen zu Tode gekommen sind, der irrt:

„Ein generelles Genugtuungsinteresse von Verletzten vermag an sich jedoch kein öffentliches Interesse an der Strafverfolgung zu begründen. Letzteres wäre nur dann gegeben, wenn durch die Nichtverfolgung die berechtigten Interessen der Verletzten beeinträchtigt wären[…]. Dies ist nach Einschätzung der Kammer hier nicht mehr der Fall.“

So kann man als Gericht natürlich argumentieren. Ob dies das Rechtsverständnis der Bevölkerung widerspiegelt, ist noch mal eine andere Frage. Am Ende ist der Streit, der der Verhandlung zugrunde liegt, nicht beigelegt: Die Angeklagten sind weder freigesprochen noch bestraft – nicht einmal mit einer symbolischen Geldstrafe. Den Hinterbliebenen und Verletzten wird gesagt: „Vielleicht sind diese Personen schuldig, aber uns kümmert das nicht“. Den Angeklagten: „Vieleicht habt ihr Tote zu verantworten, vielleicht auch nicht, uns kümmert das nicht“. Mit dieser Nicht-Entscheidung kann keiner seinen Frieden machen. Die Kosten trägt der Staat und als Schlussstrich unter die Tragödie bleiben nur die Spesen der Anwälte.

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