Tichys Einblick
Deutschland war einst Apotheke der Welt

Lieferengpässe auch bei Arzneimitteln – Verbände warnen vor Medikamentenkrise

Corona, aber auch der Ukraine-Krieg verschärfen die Probleme auf dem Pillenmarkt. Um Kosten zu sparen, verlegten Unternehmen ihre Produktion in der Vergangenheit nach China und Indien. Das rächt sich jetzt. Eine Verlegung nach Deutschland dürfte aufgrund der Steuer- und Abgabenlast für viele nicht in Frage kommen.

IMAGO/Steinach

Im vergangenen Monat veröffentlichte das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung an der Universität München (Ifo-Institut) eine repräsentative Umfrage von deutschen Unternehmen, wie lange die Lieferengpässe andauern. Je nach Branchen rechneten die Firmen mit Verzögerungen von bis zu 13 Monaten.

Ein wesentliches Segment einer Volkswirtschaft beachtete das Ifo-Institut jedoch nicht: den Arzneimittel-Markt. Dabei sind die Probleme enorm. Das betrifft sowohl Schmerzmittel wie Ibuprofen und Paracetamol als auch Schmerz- oder Fiebersäfte, in denen einer dieser Wirkstoffe enthalten sind. Ferner ist zu erwarten, dass ab Herbst Kinder-Nasensprays mit dem Wirkstoff Xylometazolin knapp werden. Konzerne wie Ratiopharm erwarten auch keine wirkliche Besserung der Situation. Teva, der Mutterkonzern des Generika-Herstellers, stornierte unlängst alle Bestellungen von Apotheken, die das Nasenspray orderten.

Flüge wurden gestrichen – Schiffe unter Quarantäne gestellt

Das sieht Udo Sonnenberg, Geschäftsführer des Bundesverbandes Deutscher Versandapotheken (BVDVA), gelassener: „Über spezifische Engpässe – außer den üblichen Lieferschwierigkeiten aufgrund der Wirkstoffherstellung außerhalb Europas – ist seitens unserer Mitglieder nichts verlautbart worden“, so Sonnenberg. Doch auch er warnt vor Problemen: „Es werden für einen Sommer spürbar mehr Erkältungsmittel nachgefragt – stationär und online.“ Daher fordert der Geschäftsführer von BVDVA eine stärkere europäische Produktion der Wirkstoffe in Europa, um diese Art von Engpässen zu vermeiden.

Deutlich alarmierender klingt die Einschätzung von BUKO-Pharma-Kampagne. BUKO begleitet die Pharmaindustrie seit mehr als 30 Jahren kritisch. „Lieferengpässe sind häufig und haben in der Corona-Pandemie deutlich zugenommen“, so Claudia Jenkes, Geschäftsführerin von BUKO. „Als besonders besorgniserregend waren während der Pandemie, aber auch darüber hinaus, der eingeschränkte Zugang zu lebenswichtigen Medikamenten oder Präventionsgütern wie Kondomen.“

Regierungen verschärfen indes die Situation. Aufgrund der staatlich angeordneten Lockdowns wurden Flüge gestrichen oder Frachtschiffe unter Quarantäne gestellt. „Ladungen konnten nicht gelöscht werden, und viele dringend benötigte Güter lagerten lange im Hafen. Außerdem explodierten die Frachtkosten und zahlreiche Container strandeten in weit vom Ziel entfernten Häfen“, so Frau Jenkes weiter. Was noch dazu kam: Indien – einer der Hauptexporteure von Arzneimitteln – verbot zu Beginn den Export aller medizinischen Güter, darunter auch antiretrovirale Medikamente zur Behandlung von HIV.

Lieferengpässe gehören zum Alltag – aber so schlimm war es noch nie

Zwar hob die Regierung bereits nach zwei Wochen den Exportstopp wieder auf. Doch schon dieser relativ kurze Ausnahmezustand sorgte in etlichen Ländern für Engpässe bei HIV-Therapien: Insgesamt meldeten 36 Länder, in denen 11,5 Millionen Menschen in Behandlung waren, zwischen April und Juni 2020 eine Unterbrechung ihrer Therapieprogramme. Viele weitere Länder warnten vor bevorstehenden Engpässen oder verfügten über nur noch äußerst geringe Mengen an Arzneimittelbeständen. Erneute Lockdowns, ob aufgrund Corona, Affenpocken, aber auch wegen drohender Blackouts, könnten die Situation weiter verschärfen. Menschen werden um ihre lebensnotwendigen Therapien gebracht.

Auch Dr. Ursula Sellerberg, stellvertretende Pressesprecherin der Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände e.V. (ABDA) und Apothekerin, sieht das ähnlich: „Lieferengpässe gehören in Apotheken leider schon seit Jahren zum Alltag in den Apotheken. Für zwei Drittel (62,4 %) der selbständigen Apotheker gehören Lieferengpässe zu den größten Ärgernissen im Berufsalltag – ein seit Jahren anhaltend hoher Wert.“

Schmerzmittel und Jod sind seit dem Ukraine-Krieg knapp

Die Anzahl der nicht verfügbaren Rabattarzneimittel lag 2020 bei 16,7 Millionen Packungen. Betroffen war somit jedes 38. Arzneimittel (16,7 von 643 Millionen verordneten Packungen). In der Rangliste der Nichtverfügbarkeiten lag 2020 Candesartan (Blutdrucksenker) mit 2,15 Millionen Packungen vor Metformin (Diabetesmittel) mit 0,71 Millionen, Pantoprazol (Säureblocker) mit 0,68 Millionen, Ibuprofen (Schmerzmittel) mit 0,60 Millionen und Metoprolol (Blutdrucksenker) mit 0,51 Millionen. Bei Rabattarzneimitteln handelt es sich um Medikamente, die im Rahmen von Rabattverträgen zwischen Herstellern und Krankenkassen vergünstigt verkauft wurden. Im Gegenzug erhalten die Versicherten dieser Krankenkasse nur das Präparat dieses Herstellers.

Die Ursachen für die Lieferpässe sind vielfältig. Neben dem Kostendruck im Gesundheitswesen findet die Wirkstoffproduktion für den Weltmarkt aus Kostengründen oft in wenigen Betrieben in Fernost statt, was zunehmend zum Problem wird. So werden Antibiotika hauptsächlich in China und Indien produziert. Steht die Produktion zeitweilig still oder wird eine Charge aus Qualitätsgründen nicht freigegeben, können auch große Hersteller in Europa ihre Arznei nicht liefern. Der Ukraine-Krieg hat die Versorgungssituation durch erhöhte Nachfrage von Kunden und Kliniken (zum Beispiel Schmerz-, Fieber- und Narkosemittel sowie Jod-Tabletten) massiv verschärft.

Doch das war nicht immer so. Deutschland galt einmal als Apotheke der Welt. Während man heute in Asien maximal kostengünstig produziert, bereiten Pharmaverbände hierzulande den politischen Nährboden für eine maximale Gewinnspanne. Dabei wird nicht jedes Medikament komplett neu erforscht. Am Beispiel des als Schlaf- und Beruhigungsmittels beworbenen Medikaments Thalidomid, besser bekannt unter dem Handelsnamen Contergan, lag der Verkaufspreis zur Einführung 1957 bei ca. 3 D-Mark. Weil Mütter in der Schwangerschaft Contergan einnahmen und viele Kinder mit Missbildungen zur Welt kamen, entstand der bis dato größte Medikamentenskandal der Bundesrepublik. 1961 wurde Contergan vom Markt genommen.

„Die Achillesferse dieser maximal-gewinnorientierten Politik trat während der Coronazeit ans Licht“, so Antje H., pharmazeutisch-technische Angestellte aus Nordrhein-Westfalen. „Durch die zum Teil äußerst repressiven Maßnahmen wurden durch Lockdowns Produktionsstätten heruntergefahren und Häfen gesperrt, ganze Handelsketten lagen brach.“ Das hatte zur Folge, dass sowohl eine an Brustkrebs leidende Frau plötzlich ihr Medikament und ein Arzt kein Lokalanästhetikum für kleinere Eingriffe mehr erhielt. So waren sogar einfachste Schmerzmittel zeitweise nicht mehr lieferbar. Horrorszenarien, die sich wiederholen könnten.

Wie kann man das Problem beheben? „Die Produktion von Wirkstoffen und Arzneimitteln soll unter hohen Umweltschutz- und Sozialstandards wieder verstärkt in der EU stattfinden“, fordern beispielsweise der Bundesverband der niedergelassenen Apotheken, aber auch BVDVA-Geschäftsführer Udo Sonnenberg. Doch zwingen könne man die Unternehmen nicht. Es müssen Anreize geschaffen werden, dass die Firmen wieder in Deutschland produzieren, zum Beispiel massive Steuererleichterungen. Doch selbst wenn das geschehe, dürften die Preise für Arzneimittel, die in Deutschland ohnehin schon sehr hoch liegen, noch weiter steigen.


Julian Marius Plutz

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