Tichys Einblick
Interview Marcel Luthe

„Es gibt Sehnsucht nach bürgerlicher Politik, egal ob auf dem Land oder in der Metropole“

Der Abgeordnete und frühere FDP-Politiker Marcel Luthe zieht als Spitzenkandidat der Freien Wähler in die Berliner Landtagswahl. Im TE-Interview erklärt er, warum er mit dem ersten Parlamentseinzug seiner Partei in einer Großstadt rechnet.

TE: Marcel Luthe, der Parteitag der Freien Wähler hat Sie gerade mit 97 Prozent zum Spitzenkandidaten für die Abgeordnetenhauswahl in Berlin gekürt. Sie saßen bis vor kurzem als fraktionsloser Abgeordneter im Berliner Parlament – und vorher für die FDP, die Sie verlassen haben. Warum sind die freien Wähler die neue politische Heimat für Sie?

Marcel Luthe: Weil die Freien Wähler in Bayern, Rheinland-Pfalz und bundesweit Haltung beziehen und eine rationale Politik anbieten. Diese Haltung erkennen Sie unter anderem daran, dass die Freien Wähler, wie der Kollege Hubert Aiwanger angekündigt hat, das Notbremsen-Gesetz der Bundesregierung in Karlsruhe auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen lassen werden. Das ist genau die Haltung, die ich bei der FDP vermisst habe.

Bisher waren die Freien Wähler eher in ländlichen Gebieten erfolgreich, in Bayern, vor kurzem auch in Rheinland-Pfalz – aber nicht in Metropolen. Warum soll jetzt mit Ihnen der Parlamentseinzug in Berlin klappen?

Weil wir mit Kandidaten antreten, die für eine Metropole passen. Wenn die Freien Wähler bei einem Parlamentseinzug scheiterten wie kürzlich in Baden-Württemberg, dann lag das nicht daran, dass ihr Programm schlecht gewesen wäre. Sondern daran, dass dieses Programm zu wenig bekannt war. Und das wiederum hängt von Personen ab, die diese Inhalte vertreten. Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg sind einander relativ ähnlich, in beiden Ländern wurde am gleichen Tag gewählt. Der Unterschied, der zum Erfolg in Rheinland-Pfalz führte, lag ganz offensichtlich in der Person von Spitzenkandidat Joachim Streit. Als Landrat besaß er schon eine große Bekanntheit – und einen Ruf als Mann mit Haltung. Für die Freien Wähler ist es typisch, dass ihre Politiker von der kommunalen Ebene kommen. Die gibt es in Berlin zwar auch: in den Bezirksverordnetenversammlungen. Aber die werden in der Berichterstattung kaum wahrgenommen. Unsere Kandidaten stammen deshalb nicht aus der Kommunalpolitik. Sie bringen auf andere Weise viel Bekanntheit mit: Professor Michael Knape, ehemaliger Leitender Direktor beim Polizeipräsidenten Berlins, also ranghöchster Polizist der Stadt, genießt als Polizeirechtler hohes Ansehen. Der Schauspieler Carsten Stahl, der sich bundesweit gegen Mobbing und für Kinderschutz engagiert, verfügt in den sozialen Medien über eine riesige Reichweite. Und auch ich bin als Einzelabgeordneter nicht ganz unbekannt.

Welches Wahlergebnis halten sie für die Freien Wähler in Berlin für realistisch?

Ich halte ein zweistelliges Ergebnis für möglich. Nebenan, in Brandenburg, stehen die Freien Wähler nach neuesten Umfragen bei 9 Prozent. Es gibt eine Sehnsucht nach bürgerlicher Politik, egal ob in ländlichen Gebieten oder in Metropolen.

Welche Reaktionen bekommen Sie als Ex-FDP-Politiker darauf, dass Sie jetzt für die Freien Wähler antreten? Wer sind Ihre Unterstützer?

Die Reaktion ist immens positiv. Und die Unterstützer, das sind wirklich Leute querbeet. Auf unserer Delegiertenversammlung gab es Arbeiter und Rentner, aber auch den Unternehmer mit 600 Mitarbeitern. Ganz unterschiedliche Menschen, die eins gemeinsam haben: sie wollen, dass es politisch in Zukunft anders läuft als bisher.

Nennen Sie bitte Ihre zentralen Forderungen im Bereich Wirtschaft, innere Sicherheit, Corona-Politik.

Letztlich sind diese drei Gebiete aktuell unmittelbar miteinander verbunden: Wir erleben den größten planwirtschaftlichen Eingriff in die globale Wirtschaft seit Maos „Sprung nach vorn“, der bekanntlich Millionen Menschenleben kostete. Die Kollegen der anderen Parteien machen sich offensichtlich keine Gedanken, welche Folgen die massiven Eingriffe durch unbegründete, erratische „Corona-Verordnungen“ nicht nur auf die deutsche Wirtschaft und damit auch die Grundlage unseres Sozialsystems haben, sondern auf Hunger und Armut weltweit.

Die sogenannte „Corona-Politik“ der übergroßen Koalition von der in Linke umbenannten SED bis CDU ersetzt in weiten Teilen Vernunft durch Angst. Und Wissenschaft – insbesondere Mathematik – durch Aberglauben. Inzwischen bastelt sich jeder Hausmeister seine eigenen „Corona-Regeln“. Die Grundrechte werden als optionale Wohltaten dargestellt. Auf Grundlage von aktuell 958 unterschiedlichen Labortests, von denen niemand weiß, ob und wie diese jeweils individuell funktionieren, weil das nach über einem Jahr noch immer nicht erfasst wird, wird Demokratie durch eine Pseudo-Expertenoligarchie ersetzt.

Zumindest müssen alle betroffenen Bürger in voller Höhe dafür entschädigt werden, dass trotz historisch hoher Steuerlast derart massiv in ihre Rechte eingegriffen wird, weil die Regierungen versagt haben. Wie anders sollen denn weite Teile der Wirtschaft wiederbelebt werden?

Kein Gastronom, keine Kosmetikerin bekommt nach diesen massiven Eingriffen in seinen Betrieb nach den Anfang 2022 in Kraft tretenden Basel III-Regelungen noch irgendeinen Kredit. Auch daran denkt offenbar niemand.

Zum dritten Punkt: Innere Sicherheit ist die Voraussetzung für Freiheit – und die zentrale Pflichtaufgabe eines Rechtsstaates. Alles andere ist Beiwerk. Mittlerweile steht diese Priorisierung aber Kopf. Die Regierungsparteien versuchen den Menschen vorzuschreiben, was sie wann essen sollen oder gar wie sie sprechen und denken sollen – was den Staat nicht das Geringste angeht. Und gleichzeitig hat die Zahl der Opferdelikte – also der Opfer von Gewalt- und Sexualdelikten – im Jahr 2020 in Berlin einen neuen Höchststand erreicht. Ein Staat, der seine Bürger nicht schützt, verliert schleichend seine Existenzberechtigung. Hier müssen wir endlich wieder wirklich investieren, und dafür den gesamten zeitgeistigen Firlefanz streichen.

Abgesehen von der Landespolitik in Berlin – was soll nach Ihrer Auffassung bundesweit das Markenzeichen der Freien Wähler sein?

Das Eintreten für das Grundgesetz, und damit die Rechtsstaatlichkeit. Das behaupten eigentliche alle Parteien von sich. Aber wenn wir den Versuch der Regierung betrachten, mit dem Corona-Notbremsen-Gesetz den Föderalismus auszuhebeln, oder auch den gerade gescheiterten „Mietendeckel“ von Rot-Rot-Grün, dann sehen wir: Rechtsstaatlichkeit ist eben nicht mehr selbstverständlich. Manche Kollegen halten das Grundgesetz offenbar nur noch für ein Stück Papier. Wer so denkt, ist für die Demokratie nicht zu gebrauchen.

Angenommen, Sie schaffen es ins Abgeordnetenhaus – was wollen Sie dort bewirken als kleine Oppositionspartei?

Wieso Oppositionspartei?

Weil, egal, wie die Stimmung ist, die drei linken Parteien in Berlin zusammen immer auf eine Mehrheit kommen.

Es gibt aber auch Gründe, warum Berlin trotzdem nicht schon seit Jahrzehnten rot-rot-grün regiert wird. Wenn wir es uns im Einzelnen ansehen: Franziska Giffey als Spitzenkandidatin der SPD kann bei ihrem Anspruch unmöglich Juniorpartnerin in einer grün geführten Regierung werden. Und für die anderen Konstellationen fehlte bisher immer ein kleines Stück für eine Mehrheit. Es kann also durchaus sein, dass die Freien Wähler gebraucht werden.

Nehmen wir an, Sie haben Recht: wo stünden dann die Freien Wähler?

Wir könnten Opposition innerhalb einer Koalition sein – in dem Sinn, dass wir dort Unsinn verhindern und rationale Positionen durchsetzen. Sollten wir klassische Opposition werden, dann sehe ich unsere Aufgabe – wie ich bisher als fraktionsloser Abgeordneter – vor allem darin, den Bürgern Informationen zu verschaffen und für Transparenz zu sorgen. Bisher ist es so: Die Regierung erzählt irgendetwas. Und die Opposition kommt in weiten Teilen ihrer Aufgabe nicht nach, nachzufragen und Widersprüche aufzudecken. Aber das ist die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie. Wenn der Souverän, also der Bürger, entscheiden soll, dann braucht er vor allem wahrheitsgemäße Informationen. Er darf nicht permanent für dumm verkauft werden.

Bisher sind die Freien Wähler eine Partei auf Kommunal- und Landesebene. Treten sie auch zur Bundestagswahl an?

Die Freien Wähler werden natürlich zur Bundestagswahl antreten. Wir sind übrigens nach Mandaten die achtstärkste politische Kraft in Deutschland, direkt nach der CSU. Und in Bayern zeigen die Kollegen um Hubert Aiwanger, dass sie regieren können. Das können wir auch in Berlin.

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