Tichys Einblick
Davos

Historiker Niall Ferguson: Merkel hat „große Schuld auf sich geladen“

Der Star-Historiker Niall Ferguson geht in Davos mit Merkel ins Gericht. Ihre "Kanzlerschaft war ein kolossaler Reinfall" sagt er. Europas Vorstellung von einem Green Deal hält er für eine der "seltsamsten Ideen". Gut für ihn, dass er kein Deutscher ist.

Niall Ferguson

imago images / Agencia EFE

Niall Ferguson ist ein Historiker, wie er im gegenwärtigen Deutschland kaum vorstellbar wäre. Bei seinen deutschen Kollegen kam der gebürtige Schotte schon als junger Shooting Star nicht gut an. Er hatte es nämlich 1998 gewagt, ein Buch mit dem Titel „The Pity of War“ („Der falsche Krieg“) zu veröffentlichen, in dem er den Kriegseintritt Großbritanniens 1914 als großen Fehler darstellt. Der damalige Doyen der deutschen Neuzeit-Historiker, Wolfgang J. Mommsen, fand gar keinen Gefallen daran.  

Auch einige seiner darauffolgenden Bücher – „Der Westen und der Rest der Welt“ (2011), „Der Niedergang des Westens“ (2012) – trugen dazu bei, dass rechtschaffene Dozenten und Studenten in historischen Seminaren seinen Namen eher mit gerümpfter Nase aussprechen. In der englischsprachigen Welt genießt er dennoch nicht nur akademischen Ruhm – er unterrichtet an zwei amerikanischen Elite-Universitäten (Harvard und Stanford) gleichzeitig – sondern ist auch in den Medien dauerpräsent – als wirtschaftskompetente, konservative, kritische Stimme. Neben Jordan Peterson ist er aber auch ein Lieblingsfeind all jener, die sich an Universitäten als „woke“ betrachten. Er hat diesen Konflikt angenommen und gegen dieses „Sich-Verschliessen des amerikanischen Campus“ Stellung bezogen. Ferguson macht schließlich keinen Hehl daraus, dass er die Welt und die Geschichte aus der Perspektive des Westens betrachtet – und diesen nicht für alles Unglück der Menschheit verantwortlich macht.

Nun ist er in Davos zwei deutschen Journalisten der WELT über den Weg gelaufen. Zu deren Berichten über Trumps Rede ihm nur einfiel: „Ihr Deutschen halt“. 

Zu Deutschland und den Deutschen hat Ferguson eine besondere Beziehung. Seine ersten Meriten erwarb er sich in Hamburg mit einer Dissertation über die Wirtschaftsgeschichte der Stadt während und nach dem Ersten Weltkrieg. Danach schrieb er zwei große Monografien über die Familie Rothschild.

Habeck-Festspiele in deutschen Medien
Donald Trumps Rede in Davos und der "Gigant" Habeck
Ferguson hat sich – das ist sein Erfolgsgeheimnis als einer der wenigen konservativen öffentlichen Intellektuellen – nicht mit historischen Studien begnügt, sondern diese immer mit aktuellen politischen Ansichten verbunden. Und so gab er der WELT gleich ein Interview, für dessen Kernaussagen jeder deutsche Kollege vermutlich mit Farbbeutel-Attacken in der Vorlesung und dem öffentlichen Verdikt „umstritten“ (also eigentlich inakzeptabel) zu sein, gestraft würde. Im Gegensatz zu deutschen Journalisten und Robert Habeck hat er an Trumps Rede wenig auszusetzen – „nicht zu sehr übertrieben“ – und lobt auch noch dessen Wirtschafts- und Handelspolitik: „Trump war der einzige Spitzenpolitiker, der Chinas Aufstieg zum Thema gemacht hat. Das ist sein historisches Verdienst.“ 

Auf Merkel angesprochen, muss Ferguson lachen. Und er weiß auch schon, was sie in Davos wieder sagen wird: „Sie wird wahrscheinlich von der multilateralen Weltordnung sprechen, von den Institutionen, die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffen worden sind. Das klingt für mich eher wie ein Märchen. Diese liberale Weltordnung hat in Wirklichkeit nur für kurze Zeit nach dem Fall der Mauer existiert. Das war eine Erfindung der 1990er- und vielleicht noch 2000er-Jahre. Davor herrschte Kalter Krieg. Wer also erzählt, dass wir seit 1945 eine liberale Weltordnung hatten, der versteht die Geschichte nicht wirklich.“ 

Hat man je einen deutschen Historiker vernommen, der so deutlich das Offensichtliche aussprach: Dass Kanzlerin Merkel historisches Verständnis auf geradezu erschreckende Weise vermissen lässt? Daran ändern auch ein paar Besuche von Herfried Münkler und Jürgen Osterhammel im Kanzleramt nichts. Offenbar haben diese Besuche eher die historischen Berater zu treuen Merkelianern gemacht, als umgekehrt Merkel zu einer historisch informierteren Kanzlerin. 

Wenn Merkel historisch argumentiert, offenbart sie meist hanebüchenen Unsinn, nicht nur, wie Ferguson sagt, bei ihren salbungsvollen Auftritten in Davos. Bei einem Wahlkampfauftritt vor Essener Honoratioren, hat sie etwa ihre Zuwanderungspolitik so gerechtfertigt: Die Chinesische Mauer habe schließlich auch nichts Gutes für China bedeutet und dem Römischen Reich sei es nicht durch „Abschottung“ gut gegangen, sondern wenn es „Ausgleich mit Nachbarn suchte“. Na, das hätte man den Legionären am Limes oder den chinesischen Soldaten an der Großen Mauer, die ihre Reiche vor angreifenden Barbaren verteidigten, einmal erzählen müssen, dass es den Reichen ohne sie viel besser gegangen wäre. 

Für Ferguson ist Merkel offenbar nur noch ein Restposten der nahen Vergangenheit: „Kanzlerin Merkel gehört zu einer Dekade, die längst hinter uns liegt. Ihre Kanzlerschaft ist ein kolossaler Ausfall.“ Wirtschafts- und europapolitisch wirft er ihr vor, dass sie nicht „die logische Folge“ aus der Währungsunion angenommen und nicht für eine „stärkere fiskalische Integration“ gesorgt habe. Außerdem: „Da ist auch noch die Flüchtlingskrise.“ Deren soziale und politische Folgen bis heute zu spüren seien. Und schließlich habe sie auch „große Schuld auf sich geladen“, weil sie dem damaligen britischen Premierminister David Cameron zu wenig entgegengekommen und damit die Entscheidung der Briten für den Brexit befördert habe. „Ich kann nicht sagen, dass ich ein großer Fan von Mutti wäre.“ 

Wenn es einen blinden Fleck in Fergusons Geschichtsdenken und wohl auch bei seinem politischen Denken gibt, dann ist das die Ökologie. Hier scheint er ähnlich taub zu sein, wie der US-Präsident. Der Wirtschaftshistoriker Ferguson betrachtet Ökonomie ohne deren ökologische Kehrseite – eine Schwäche. Andererseits macht ihn das auch erfrischend immun gegen jegliche Träumerei vom grünen Wachstum: „Ihr habt euch“, ruft er seinen deutschen Interviewern zu, „Eure Energiepolitik unter anderem mit dem überstürzten Atomausstieg versaut, und jetzt mach ihr alles nur noch schlimmer. Die Vorstellung, dass ausgerechnet der Green Deal das Wachstum fördern könnte, ist eine der seltsamsten Ideen, die es im Moment überhaupt gibt auf der Welt.“ Und die Idee, dass die Klimakatastrophe durch europäische Politik verhindert werden könnte, sei eine „absolute Wahnvorstellung“. Greta Thunberg, so empfiehlt ihr Ferguson, sollte „nicht in New York oder Davos, sondern in Peking“ ihre Anliegen vorbringen.