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Autor einer staatlich unterstützten Stiftung vermisst Sex bei Harry Potter

Weil in den Büchern über Harry Potter und die Abenteuer aus der Zaubererwelt zu wenig und falscher Sex vorkomme, verbreitet eine finanziell vom Bund unterstützte Stiftung eine Boykottschrift, die auch Einsicht in die Gedankenwelt und Bestrebungen von Aktivisten liefert.

IMAGO / Papsch

„Harry Potter ist komplett sexlos“, behauptet Sebastian Schuller. Es ist eine von vielen Thesen, die der Literaturwissenschaftler auf der Seite Belltower-News aufstellt. Zum einen stimmt das in dieser Ausschließlichkeit nicht. Zum anderen dreht der Autor Halbwahrheiten so, bis sie in seinen Sinn passen. Schullers Forschungs-Schwerpunkt ist laut Belltower-News die marxistische Literaturtheorie.

JK Rowling hat die Abenteuer Harry Potters in sieben Bänden veröffentlicht. Jeder entspricht einem Schuljahr. Als die Geschichte startet, feiert Harry gerade seinen elften Geburtstag. Mit Ausnahme von vier Kapiteln schildert Rowling die komplette Saga aus der Perspektive Harrys, die zu Beginn die Perspektive eines Kindes, später die eines Jugendlichen ist.

Schuller möchte diese Bücher boykottieren. Ebenso wie Produkte, die sich auf die Bücher beziehen. Etwa das aktuelle Videospiel Hogwarts Legacy: „Vielmehr sollte das Spiel aufgrund des regressiven Weltbildes, das das gesamte Harry Potter Universum ausmacht, boykottiert werden“, begründet der Experte für marxistische Literaturtheorie seinen Aufruf. Verbreitet wird dieser über eine Plattform der Amadeu Antonio Stiftung. Diese wiederum erhält unter anderem Geld vom Bundesfamilienministerium für Projekte, die Demokratie und Toleranz fördern sollen. Das „regressive Leitbild“ versucht Schuller mit drei Kernargumenten zu belegen. Die Potter-Bücher seien transfeindlich, neoliberal und verbreiteten „sozialen Konservativismus“.

Den eigenen Satz, Harry Potter sei komplett sexlos, schränkt Schuller selbst ein: Es gebe „einige unschuldige Szenen“. Auch beklagt der Antonio-Autor die „tiefemotionalen Liebesbeziehungen“ in den Romanen. Offenbar fehlt dem Literaturwissenschaftler der schnelle, harte Sex in den Kinder- und Jugendbüchern. Zudem wirft er der Autorin das Fehlen von „Identitätskrisen, homosexuellen Erfahrungen oder Ausprägungen von Transidentität“ bei der Schilderung des Heranwachsens ihrer Roman-Jugendlichen vor. Aber das stimmt noch nicht einmal.

Harry ist elf Jahre alt, als er auf das Zauberinternat Hogwarts kommt. Dort verbringt er sechs Schuljahre. Im siebten Jahr führt er eine Rebellion an, an deren Ende der Sturz des Usurpators Lord Voldemort steht. Mit 14 Jahren ist Harry zum ersten Mal in die Mitschülerin Cho Chang verliebt, mit 15 Jahren datet er sie – was aber aufgrund seiner fehlenden Erfahrung peinlich endet. Ein wesentlicher Teil seiner Geschichte ist es, dass Harry als Waise aufwächst und es ihm somit auch an einem Erwachsenen fehlt, den er in solchen Fragen um Rat bitten kann.

Mit Cho Chang erlebt Harry – anders als Schuller das erkennt – tatsächlich eine Identitätskrise. Eine Prüfung des Trimagischen Turniers stellt ihn vor die Wahl, ob er Cho oder seinen besten Freund Ron als wertvollste Person in seinem Leben anerkennt. Harry entscheidet sich für Ron. Von da an dauert es weitere zwei Jahre, bis er sich ernsthaft für Sexualität interessiert, die er schließlich bei Rons Schwester Ginny findet. In der Tat deutet die Jugendbuchautorin Rowling diese Sexualität zwischen einem 16-Jähringen und einer 15-Jährigen nur an – stattdessen beschreibt sie eine „tiefemotionale Liebesbeziehung“. Für Schuller anscheinend etwas Schlechtes.

Im Kontext der Romane aber etwas durchaus Positives: Die Rebellion treibt Harry und Ginny körperlich auseinander, emotional halten sie aber in dieser Zeit der erzwungenen Trennung umso stärker zusammen und leisten beide somit Entscheidendes im Kampf gegen das Böse. Dieser Kampf ist das eigentliche Thema der Jugendbücher – auch wenn marxistische Literaturtheoretiker darin eher nach expliziten Sexszenen suchen.

Den sozialen Konservativismus begründet Schuller mit der These: „Magie wird hier nicht durch geheimes Wissen erworben, oder gar durch einen Pakt mit übernatürlichen Wesen, sondern ist eine Frage des Blutes.“ Das stimmt schlicht und einfach nicht. Harrys Mutter ist muggelstämmig, wurde also von Nicht-Magiern geboren. Ebenso seine beste Freundin Hermine, die obendrein Jahrgangsbeste ist. Oder andere wichtige Nebenfiguren wie Colin Creevey oder Justin Finch-Fletchley.

Wichtig für die Handlung ist, dass Harrys Tante Petunia keine Magierin und eifersüchtig auf ihre magische Schwester ist. Es ist eben nicht die Erbschaft, nicht das Blut, sondern das Talent, das einen im Potter-Universum zum Zauberer macht. Aber selbst dieses Talent ist letztlich nicht entscheidend. Rowling lässt ihren Alter Ego Albus Dumbledore sagen: Es seien nicht das Talent oder die Herkunft, die einen Menschen ausmachten – sondern seine Entscheidungen. Jeder hat es demnach selbst in der Hand, ob er zu den Guten oder zu den Bösen gehören will. Die nicht magische Petunia wird über sieben Bände als extrem unsympathische Figur dargestellt – aber sie schützt unter eigenen Opfern Harrys Leben 16 Jahre lang. Es sind unsere Entscheidungen, die uns ausmachen.

Der dritte Punkt, den Schuller Rowling vorwirft, ist ein neoliberales Weltbild. In der Beweisführung hapert es. Für die zitiert er den Literaturwissenschaftler Suman Gupta. Der bemängelt, wir würden als Leser bei Harrys erstem Besuch in der magischen Welt nichts über die Interaktion zwischen Zauberern erfahren, stattdessen würde Rowling magische Produkte aufzählen. Der elf Jahre alte Harry interessiert sich mehr für Rennbesen als für die Produktionsbedingungen in der Rennbesenindustrie. Gupta und Schuller sind da einer ganz großen Sache auf der Spur.

Harry interagiert zwar in der beschriebenen Szene nur mit wenigen Zauberern. Allerdings ist er eben auch neu in der Zaubererwelt und kennt kaum jemanden. Und dass das Aussehen der Zauberer, wie behauptet, nicht beschrieben würde, ist schlicht falsch. Rowling schildert die .Anwesenden vergleichsweise ausführlich.

„Die Welt ist nur durch den Konsum erfahrbar“, ist für den ersten Besuch im Geschäftsviertel Winkelgasse nur bedingt richtig. Über das ganze Buch gesehen ist die These falsch. Das Gegenteil ist richtig. Obwohl Harry zwei Mal größere Vermögen erbt, erlebt der Leser ihn nur selten beim Geldausgeben. Und dann auch nur, um die Güter mit seinen Freunden zu teilen: Futter für Rons Eule, Süßigkeiten oder Sport-Merchandising. Das Schenken spielt in den Potter-Büchern eine weit größere Rolle als das Kaufen.

An Schullers Vorwurf, Rowling verbreite ein neoliberales Weltbild, ist etwas dran. In den Potter-Büchern geht es stark um das Thema Leistung. Hermine ist Jahrgangsbeste und die Negativfigur Draco Malfoy ist darauf eifersüchtig. Harry ist ein herausragender Quidditsch-Spieler und auch darauf ist Draco Malfoy eifersüchtig. Leistung steht damit ausdrücklich im Kontrast zu Herkunft und Besitz. Draco ist ein Snob aus reichem Haus, der verächtlich auf Ärmere herunterschaut. Dass er in der Schule schlechter als Hermine und im Quidditch schwächer als Harry ist, relativiert materiellen Besitz.

Rowling propagiert aber Leistung. Vor allem schulische Leistung. Was Harry und Ron in der Schule lernen, brauchen sie im richtigen Leben: einen Schwebezauber, um einen Troll zu besiegen. Einen Aufrufezauber, um einen Besen im Kampf gegen einen Drachen herbeizurufen. Oder einen Entwaffnungszauber, um das Böse schlagen zu können. Rowling schreibt einen Internatsroman und kommt zu dem Schluss, dass Lernen sich lohnt. Für Schuller ist das mit ein Grund für einen Boykottaufruf. Mit Leistung hat der Marxismusexperte offenbar ein Problem. Aber da kann ihm niemand helfen. Höchstens die Amadeu Antonio Stiftung – und vielleicht noch das Bundesfamilienministerium.

Sein Boykott-Aufruf ist übrigens auch kein großer Erfolg. Wie die Fachseite PCgameshardware.de berichtet, ist Hogwarts Legacy noch vor seinem eigentlichen Erscheinen das meistverkaufte Spiel der Gegenwart geworden. Am Ende regelt es halt dann doch der Markt.

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