Tichys Einblick
Scholz übernimmt von Baerbock

Der Kanzler muss es regeln

Die Zahl der Hamas-Geiseln ist unbekannt, ob sie noch leben ebenso wie ihr Aufenthaltsort. Die Bundesregierung drückt ihre Sorge um das Wohlergehen der Zivilbevölkerung im Gaza aus, die von der Hamas als Schutzschild benutzt wird. Was tut Olaf Scholz im Hintergrund, um die Geiseln zu befreien?

Bundeskanzler Olaf Scholz bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu am Dienstag, 17. Oktober 2023, in Tel Aviv, Israel

IMAGO / UPI Photo
Bei ihrem mörderischen Angriff auf Israel nahmen die Hamas und andere beteiligte islamistische Gruppen eine noch unbekannte Zahl an Geiseln. Die Regierung Israels korrigierte ihre Schätzung der Zahl der entführten nun mehrmals und ging zuletzt von fast 200 Geiseln aus. Die Hamas hingegen meldet, man habe 250 Geiseln entführt. 200 von ihnen hält angeblich die Hamas gefangen, die anderen sollen in den Händen anderer Terrorgruppen sein. Manche der Geiseln sollen in der Zwischenzeit bei israelischen Luftschlägen ums Leben gekommen sein – doch auch diese Information stammt von der Hamas und ist entsprechend suspekt.

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Wie viele Deutsche sind Geiseln der Hamas? Auch das ist nicht bekannt. Die Bundesregierung versuchte tagelang das Thema in der Öffentlichkeit weitgehend auszublenden. Das Auswärtige Amt ließ wiederholte Anfragen von Tichys Einblick zum Komplex Israel unbeantwortet. Nicht einmal eine ausweichende Nichtantwort wurde verfasst. Wenn das Auswärtige Amt überhaupt antwortet, wird man auf die Bundespressekonferenz verwiesen. Dort würden die Fragen beantwortet. Der Pressesprecher des Auswärtigen Amts, Sebastian Fischer, umgeht die Frage und berichtet von acht Fällen von Entführungen – ein Fall kann aber mehrere Entführungen bedeuten, wie er selber klarstellt. Wie viele Einzelschicksale betroffen sind, sagt er nicht. Presseberichte legen nahe, dass es tatsächlich 16 Personen sind. Alle haben eine doppelte Staatsbürgerschaft. So angebliche Informationen der Bundesregierung, die die Süddeutsche Zeitung zitiert.

Die Botschaft Israels in Deutschland hingegen berichtet von fünf ermordeten und sieben entführten Deutschen.

Wie Außenministerin Annalena Baerbock vor einigen Tagen bekannt gab, hat die Bundesregierung keinen direkten Kontakt zu den Geiseln oder den Entführern. „Das war eines meiner Hauptthemen bei meinem Besuch in Israel und auch in Ägypten“, sagt sie. Sie versucht sich an einer Diplomatie über die Bande und verhandelt mit Ägypten.

Am Dienstag flog sie dann nach Moldau, um den EU-Beitritt des Landes voranzutreiben. Im vergangenen Jahr hat sie ein Forum gegründet, mit dem Ziel, das Land von Russland abzuschirmen und enger an die Europäische Union zu binden. Dann ging es vorzeitig nach Berlin zurück: wegen der Lage in Israel, so die Mitteilung. Stattdessen machte sich Olaf Scholz auf den Weg in das Krisengebiet.

Der Kanzler übernimmt

Olaf Scholz besuchte am Dienstag Israel. Er erklärte die Sicherheit Israels erneut zur deutschen Staatsräson – erneut ohne klarzustellen, was das in der Praxis bedeutet. Worte der Unterstützung aus Berlin oder Waffenhilfe im Falle eines Krieges? Er lässt das Verhältnis offen, wie auch schon die Kanzler vor ihm. Die Reise geht weiter, am Mittwoch traf Olaf Scholz sich mit Ägyptens Putsch-Präsident Al-Sisi. Warum fliegt er die Route von Baerbock nach?

Möglicherweise, weil er der bessere Diplomat ist. Baerbock leistete die Vorarbeit, nun übernimmt der Mann, der sich mit einem verschmitzten Lächeln und Hinterzimmer-Deals ins Kanzleramt hieven konnte. Olaf Scholz ist eine Graue Eminenz, die ins Rampenlicht gestolpert ist. Sein Politikstil der zerstrittenen Ampel, in der die Minister auf den Tischen tanzen, weil der Kanzler nicht zu sehen ist, versagt in der Innenpolitik. Aber in der Außenpolitik, in der Israelkrise, könnte er die Freilassung der Geiseln erreichen.

Weitgehend von der Öffentlichkeit unbemerkt traf er sich am vergangenen Freitag mit König Abdullah II. Ibn Al-Hussein – dem König von Jordanien. Deutschland ist traditionell die diplomatische Brücke des Westens in die arabische Welt. Jordanien ist einer der Stabilitätsanker, mit dem die Region in der westlichen Einflusszone gehalten wird. 3.000 US-Soldaten sind dort stationiert, das Königreich erhält große wirtschaftliche Hilfen aus dem Westen. Das Land ist auch einer der wichtigsten Vermittler zwischen Israel, den Palästinensern und der Hamas.

Auch andere wichtige Treffen fanden statt. Am Mittwoch telefonierte Scholz mit dem Präsidenten Algeriens, Abdelmadjid Tebboune. Die Pressemitteilung dazu berichtet von Gesprächen zur „Lage in Nahost, aber auch über bilaterale, regionale und wirtschaftspolitische Themen“. Das Gespräch könnte in weitere Bemühungen zur Eindämmung der Migration stehen. Am Donnerstag traf sich der Kanzler mit dem Emir von Katar, Tamil bin Hamad bin Khalifa Al Thani. Zentrum der Gespräche waren die Lage im Nahen Osten, der Angriff der Hamas und das Schicksal der verschleppten Geiseln. Beachtenswert ist dabei, dass die Pressemitteilung des Bundeskanzleramts zu diesem Gespräch „das humanitäre Bemühen Katars“ hervorhob – in unmittelbarem Zusammenhang mit den erwähnten Gesprächen zu den verschleppten Geiseln.

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Dieses Gespräch folgt keine Woche später auf ein vorhergehendes Gespräch mit dem Emir. Am Freitag, dem 6. Oktober, also einen Tag vor dem Terrorangriff auf Israel hatte Scholz ihn im Kanzleramt empfangen, um über „regionale und internationale Sicherheits- und Wirtschaftsfragen“ zu sprechen. Zu diesem Zeitpunkt lag der Schwerpunkt der Gespräche wohl vor allem darauf, den deutschen Zugang zu Erdgas zu sichern. Aber die Implikation des zweiten Treffens ist: Diplomatische Partner in einer etwaigen Verhandlung mit der Hamas sind Ägypten, Jordanien und Katar – die Nachbarländer und die Geldgeber. Katar ist einer der entscheidenden Geldgeber und Zufluchtsort des Terrors in der Region.

Entscheidend ist auch das Handeln der Regierung. Anfragen von Tichys Einblick, ob Israel militärische Hilfe zur Befreiung der Geiseln angeboten wurde oder diese Hilfe gar schon unterwegs ist, blieben unbeantwortet. Auch dazu, welche konkreten Bemühungen unternommen werden, die deutschen Geiseln zu befreien, schweigt das Auswärtige Amt. Die negative Berichterstattung von Tichys Einblick über die Evakuierungsbemühungen des Amts blieb nicht ungesehen. In einer aktuellen Stunde des Bundestags sagte Benjamin Strasser (FDP), Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz: „Man werde alles tun“, um deutsche Geiseln zu befreien. Wie weit „alles“ gehen würde, ließ er dabei wieder unausgesprochen.

Mehr Geld für die Verbrecher

Am Mittwoch teilte der Kanzler aber mit: Man arbeite weiter daran, humanitären Zugang nach Gaza zu erhalten. Die Menschen dort sollen über den Umweg Ägypten mit Wasser, Nahrung und Medikamenten versorgt werden. Baerbock hatte schon verkündet, man würde die schon bestehenden Gelder, die nach Gaza fließen, nicht einstellen, nur stärker überprüfen. Die EU kündigte an, die Hilfe für Gaza nicht nur nicht einzufrieren, sondern zu verdreifachen. Dass die Hamas sich an den Mitteln bereichert und sie indirekt auch für den Kauf von Waffen verwendet, ist allen Beteiligten bekannt.

Die Menschen in Gaza brauchen Hilfe: Dass sie verdursten und verhungern müssten, stimmt so nicht. Israel hat schon seit Montag wieder angefangen, den Süden Gazas mit Wasser zu versorgen. Hilfsgüter stehen in Ägypten bereit: Warum sie nicht über die Grenze kommen, ist unklar. Es ist Ägypten, das die Grenze geschlossen hält, wohl aus Angst, dass es zu einem Massenexodus der Palästinenser nach Ägypten kommen könnte. Auch Deutsche hängen hier fest, können Palästina nicht mehr verlassen. Sie sind der Hamas und den israelischen Gegenschlägen ausgeliefert. Der Norden des Gaza-Streifens ist weiterhin abgeschnitten – Zivilisten wurden wiederholt aufgefordert, diese Region zu verlassen. Hier sollen die meisten Hamas-Stellungen liegen. Eine sicherere Route zur Evakuierung wurde von israelischer Seite versichert. Die Hamas errichtete Straßensperren, um die Menschen an der Flucht zu hindern. Da die entführten Geiseln nicht reichen, nimmt die Hamas wie immer ihr Volk als Geiseln.

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Sind die Zahlungen das Zuckerbrot, mit dem die Geiselnehmer an den Verhandlungstisch gebracht werden sollen? Der US-Flugzeugträger USS Ford ist schon mit einer Einsatzgruppe in der Region. Nun wird auch die Einsatzgruppe um den Flugzeugträger USS Eisenhower in die Region verlegt. Außerdem wird die 26th Marine Expeditionary Unit in die Region verlegt. Es ist eine schnelle Eingreiftruppe, die auch für Spezialoperationen genutzt werden kann. Sie ist auf der USS Bataan stationiert und lag kürzlich noch vor Kuwait. Das ist eine substanzielle Peitsche, mit der die USA auch einen Flächenbrand in der Region verhindern wollen. Vorerst sollen diese Truppen aber nicht im Israelkonflikt eingreifen.

Doch Israel und die Hamas sind in einer Zwickmühle. Israel muss zeigen, dass es den Mord von mindestens 1.400 seiner Bürger nicht ungesühnt lässt. Wenn nur das Recht des Stärkeren akzeptiert wird, dann ist Schwäche ein Todesurteil. Die Wut, die das Land erfasst hat, die Aussagen der Regierung Netanyahu, sie lassen keinen anderen Ausweg, als die Hamas bis zur Irrelevanz zu zerschlagen, wenn man sie nicht gleich ausmerzt. Das Morden der Hamas kann nicht unbeantwortet bleiben, wenn man nicht zu ähnlichen Anschlägen einladen will. Die Hamas hingegen will den Konflikt mindestens politisch überleben – eine Wiederbewaffnung kann später folgen. Der Versuch, ein solches Überleben zu sichern, muss hinter den Entführungen stehen.

Am Donnerstag scheint man in Berlin zum Schluss gekommen zu sein, dass das Schweigen nicht mehr ausreicht. In einer Regierungserklärung zur Geiselnahme forderte Scholz: „Sie müssen ohne Vorbedingungen freigelassen werden.“ Die humanitäre Hilfe für die Palästinenser im Gazastreifen sei aber auch wichtig, fügte Scholz hinzu: „Denn sie sind genauso Opfer und Geiseln der Hamas.“ Da ist es praktisch, dass die Bundesregierung schon angekündigt hat, dass man die Zahlungen in den Gaza-Streifen weiter laufen lässt und weitere Zahlungen aus der EU nicht blockiert. Denn so können sich die Geiselnehmer zurücklehnen und müssen nicht fordern, was sie schon haben – aber Scholz kann mit dem Entzug der Zahlungen drohen. Gelder, die die Hamas gut brauchen kann, um ihren Einfluss nach der unausweichlichen Niederlage wiederzuerlangen. Wenn man ihm die Drohung abnimmt. Seine Forderung „ohne Vorbedingungen“ kann so erfüllt werden. Fraglich ist nur, wie viel Einfluss Scholz und seine Kontakte im Nahen Osten auf die Hamas haben. Die SPD ist der Region historisch zwar nah verbunden, aber längst sind andere Geldgeber und Unterstützer – auch aus dem Westen auf den Plan getreten.

In der Diplomatie ist das Zurückhalten von Informationen genauso wichtig wie das Preisgeben. Sollte es zu einer diplomatischen Befreiung der Geiseln kommen, werden das nicht-protokollierte Gespräche über inoffizielle Kanäle erreichen. Daher ist das lange Schweigen der Regierung vielleicht zu verstehen. Wenn die Geiseln erwähnt wurden, dann vor diesem Donnerstag immer in Reden oder Erklärungen im Ausland. Es dauerte fast zwei Wochen, bis der Kanzler sich im Bundestag zu diesem Thema erklärt. Unabhängig von der notorisch schlechten Öffentlichkeitsarbeit der Regierung Scholz, könnte der Kanzler hier einen diplomatischen Coup landen. Wenn er auch andere Staatsbürger befreien kann, umso besser. Oder er versagt und die Geiseln werden nicht oder nicht von ihm befreit: Dann bleibt nur der Schaden, der seiner Regierung durch das lange Schweigen geblieben ist. Er steht als der Kanzler da, der nur verspätet Reden schwingen konnte, während andere handelten. Das Restvertrauen, dass die Bürger in die Ampel haben würde restlos zerstört. So werden die Geiseln zum zynischen Spielball der deutschen Innenpolitik.

Aktualisiert am 19.10. um 12:00 Uhr nach der Regierungserklärung von Olaf Scholz im Bundestag. 


Über die selbstzerstörerische Politik der Hamas, den bevorstehenden Einmarsch der israelischen Armee in den Gaza-Streifen und die Wege aus der Krise, konnte sich Roland Tichy mit Historiker und Nahost-Experten Michael Wolffsohn unterhalten. Das Interview hier >>>

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