Tichys Einblick
Tat und Motiv

Frankfurt: Achtjähriges Kind vor einfahrenden Zug gestoßen

Solange die polizeilichen Untersuchungen nicht abgeschlossen sind, sollte man nicht über Motiv, Täter und mögliche Serien von Taten spekulieren. Aber die Puzzleteile drohen sich zu einem Bild zu formen, das dieses Land gefährdet. Noch kann man hoffen. Von Alexander Wallasch und Roland Tichy.

Frankfurt am Main Hauptbahnhof, Symbolfoto

Getty Images

Auf der neuen städtischen Flaniermeile Frankfurts entlang des Mains wurden vor wenigen Wochen neue Beton-Poller aufgestellt. Fußgänger, Fahrradfahrer und neuerdings E-Roller schlängeln sich zwischen den meterhohen Sperranlagen durch. Man hielt sie für überflüssig. Liegt nicht die Todesfahrt auf dem Berliner Breitscheit-Platz nicht schon über zwei Jahre zurück – damals, als 12 Menschen auf dem Berliner Weihnachtsmarkt starben, als ein den Behörden als Gefährder längst bekannter „Flüchtling“ erst einen LKW-Fahrer tötete und dann dessen Fahrzeug in die Menge steuerte? Was ist seither Brutales geschehen? Jetzt weiß man: Die Frankfurter Polizei fürchtete nicht zu Unrecht eine neue Tat. Heute ist sie geschehen.

Ein achtjähriger Junge wurde vor einen einfahrenden Zug auf das Gleis von Bahnsteig 7 gestoßen. Auf diesem Gleis halten die ICEs, die von oder nach München fahren, von oder nach Köln, Düsseldorf, Amsterdam. Es ist eine der Lebensadern Deutschlands. Jetzt wurde sie zur Todesfalle. Das war nicht vorherzusehen. Dann nämlich hätte sich diese Mutter möglicherweise nicht mit ihrem Achtjährigen zu einer Zugreise entschlossen bzw. hätte schon gar nicht auf dem Gleis auf den einfahrenden Zug gewartet.

Nun ist ihr Junge tot. Und nicht etwa, weil diese Mutter ein herumtobendes, besonders lebhaftes Kind nicht genügend im Auge hatte, also ihre Aufsichtspflicht verletzt hätte. Ihr Junge wurde von einem „Mann“, wie es zunächst hieß, vor einen in den Bahnhof einfahrenden Zug gestoßen. Die ebenfalls vor den Zug gestoßene Mutter konnte sich nach Polizeiangaben noch retten, nicht aber ihren Jungen. Bei dieser Meldung stockt das Herz. Wie häufig steht man an der Bahnsteigkante, in der U-Bahn, in der S-Bahn, oder eben an Gleis 7. Dort fahren die ICEs zügig ein. Geschwindigkeit zählt. Notbremsungen stoppen nicht sofort. Lokführer in dieser Situation sind ihrerseits Opfer. Sie sehen den Tod und können ihn nicht stoppen. Modernste Technik und menschliche Anstrengung können nichts ausrichten gegen archaische Verbrechen und mörderische Absichten.

Der Mörder soll laut Zeugenaussagen auch noch versucht haben, eine weitere Person auf die Gleise zu stoßen, was ihm aber nicht gelang. Erste Ermittlungen sagen, dass sich Täter und Opfer nicht kannten. Eine Beziehungstat etwa kann daher nach aktuellem Wissenstand ausgeschlossen werden.

Couragierte Augenzeugen des Mordes und der beiden Mordversuche rannten dem flüchtenden Mann aus Eritrea hinterher und konnten ihn vor dem Bahnhof stellen, so eine Polizeisprecherin gegenüber BILD; der Verdächtige wurde festgenommen. Er wird jetzt als Afrikaner beschrieben. Damit wird eine schlimme Ahnung bestätigt, die man nicht wahrhaben will. Dass der Mord zu uns geflüchtet ist; dass das Opfer leben könnte, wenn Politiker anders entschieden hätten, wenn die Willkommenskultur sich mit Vorsicht verbunden hätte. Vielleicht hätte das alles nichts genützt. Menschliche Gemeinheit ist nicht an Hautfarbe und Herkunft geknüpft. Aber wenn sich Einzelfälle addieren, sucht der Verstand nach Antworten.

Denn erst vor wenigen Wochen wurde über einen grausamen Mord nach selbem Muster berichtet, als in Voerde eine Frau von einem Serben mit kosovarischer Herkunft vor den einfahrenden Zug gestoßen wurde und ihren schweren Verletzungen erlag. Andere Fälle sind aus Berlin bekannt geworden. Sind es Einzelfälle, oder bilden sie ein Muster? Polizeiliche Arbeit versucht solche Muster zu erkennen. Deswegen werden Beton-Poller aufgestellt und andere Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.

Die wichtigste Frage also zuerst: Ab wann muss die Polizei, müssen die Staatsanwaltschaften bei solchen Fällen notwendigerweise von einem Muster ausgehen und tätig werden, um eine zu einfache Wiederholung auszuschließen? Wann kann eine Mordserie festgestellt werden, die eben von unterschiedlichen Tätern ausgehen muss und wann beginnt die Analyse, was diese Täter eigentlich eint und wie man zukünftig solchen Taten zuvorkommen will? Reicht hier die m These einer Mordlust wirklich aus – oder ist das nicht ein inhaltsleerer Begriff, der ablenkt vom eigentlichen Geschehen.?

Nach den Pollern auf Weihnachtsmärkten zukünftig Gatter auf Bahnsteigen, die erst dann geräuschvoll herunterklappen, wenn der Zug steht? Schöner wird das Land, werden Städte und Bahnhöfe nicht. Aber sicherer? Wenn Zeitungen heute erst einmal von einer „Tragödie“ sprechen dann ist das falsch. Die Tragödie ist eine Verwicklung, aus der der Mensch sich nicht befreien kann, die ihn gewissermaßen zum Täter macht obwohl er auch Opfer ist. Hier handelt es sich nicht um eine Tragödie; sondern um ein Verbrechen. Gleis 7 ist keine Theaterbühne. Gleis 7 ist unser Alltag, in Frankfurt und anderswo. Eine Tragödie ist, wenn sich Medien zieren, die mutmaßliche Herkunft des Täters beim Namen zu nennen. Weil sich dann die Medien in einem Netz selbstauferlegter Zwänge verfangen haben, die zu einer Wiederholung der Tat führen können. Es ist eine Tragödie, weil die Bevölkerung eben nicht hinreichend darüber aufgeklärt wird, auf welche Warnsignale in ihrem unmittelbarem und mittelbarem Umfeld im Sinne einer effektiven Gefahrenabwehr zukünftig zu achten ist. Und sich ärgern über Betonpoller, die den Sonntagsspaziergang behindern.

Und es ist eine Tragödie, weil das Misstrauen nicht nur auf Bahnhöfen gegenüber afrikanisch oder arabisch aussehenden Menschen noch einmal ansteigen wird. Der Mensch lernt ja schnell. Und er hat einen Überlebensinstinkt, der nicht auf scheinbar beruhigende Statistiken oder Wahrscheinlichkeit hört, wenn das zunächst Unwahrscheinliche öfter passiert.

Also wird jetzt entweder weniger Zug gefahren bzw. am Gleis schneller zurückgetreten.

Besagter achtjähriger Junge wurde gegen 9:50 Uhr im Gleisbett des Bahnhofs vom aus Düsseldorf kommenden Zug überrollt und starb. Wenn die Schule wieder beginnt, wird ein Stuhl in der dritten Klasse leer stehen und eine Lehrerin wird versuchen müssen, mit den ehemaligen Mitschülern des Ermordeten eine Trauerarbeit zu leisten. Wie werden sich diese Kinder im Erwachsenenalter an diesen Mord an ihrem Schulkameraden erinnern?

Die Mutter konnte nur noch sich selbst auf einen Pfad zwischen Gleis 7 und 8 retten, der dem Service der schnellen Züge dient während ihr Kind vom einfahrenden ICE erfasst und tödlich verletzt wurde. Ihr Leben wird nie mehr so sein, wie früher. Die Polizei wertet aktuell noch Videoaufnahmen aus. Es wäre im Unglück Erleichterung, wenn sich die Tat erklären ließe.

Obwohl zum Motiv noch nichts bekannt ist, schließen Sicherheitskreise einen terroristischen Hintergrund bereits aus. Zu Recht? Wie war das eigentlich damals mit den Türmen des World Trade Centers, als beim ersten Flugzeugeinschlag noch viele an einen Unfall dachten, wo der zweite Einschlag den Terror zur schrecklichen Gewissheit werden ließ? Warum stehen die Betonpoller am Main, dort wo übrigens Goethe seinen Frühlingsspaziergang durchgeführt hat: „Vom Eise befreit sind Strom und Bäche durch des Frühlings holden, belebenden Blick“. Nichts mehr wird den Jungen zurückbringen.

Befragte Psychologen können sich noch keinen Reim darauf machen, was die Bahnhofstäter bewog, Menschen vor Züge zu stoßen.

Es soll Mordlust gewesen sein? Natürlich wäre auch das möglich, wir können es zu dem Zeitpunkt für die beiden jüngsten Fälle schlicht nicht sagen. Aber ein düsterer Verdacht keimt auf, bricht sich Bahn, hart wie Beton. Er lässt nicht zu, dass billige Wörter wieder Sachlagen beschönigen, um sie dann hinterrücks mit Sicherheitsmaßnahmen doch zu bestätigen. Solange die polizeilichen Untersuchungen nicht abgeschlossen sind sollte man nicht über Motiv, Täter und mögliche Serien von Taten spekulieren. Aber die Puzzleteile drohen sich zu einem Bild zu formen, das dieses Land gefährdet. Noch kann man hoffen, dass die Öffnung der äußeren Grenzen nicht noch mehr Poller im Inneren erfordern.