Tichys Einblick
#countdownBTW17

„Flüchtlinge“ als Wahlkampfthema?

Im Wahlkampf muss gekämpft werden – und zwar um die besten Lösungen der drängenden Fragen. Da gehört die unkontrollierte Zuwanderung ebenso dazu wie die ungewisse Zukunft des Rentensystems nach 2030.

Martin Schulz ist fleißig; ständig produziert er neue Ideen. Doch an einer vertieften Diskussion darüber hat er kein Interesse. Noch weiß niemand, wie teuer sein vor einer Woche vorgeschlagenes „Chancenkonto“ mit 5.000 bis 20.000 Euro für Jedermann kommen würden (800 Milliarden Euro oder „nur“ 200 ?). Gleichwohl zündet er bereits die nächste Wahlkampfrakete: Kritik an der Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel/Gabriel von Herbst 2015, verbundenen mit der Forderung, die ins Land strömenden „Flüchtlinge“ auf ganz Europa zu verteilen – mit Ausnahme der bisher schon sehr aufnahmewilligen Bundesrepublik.

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Kleiner Einschub: Es ist natürlich Etikettenschwindel, die nach Europa strömenden Menschen pauschal als Flüchtlinge zu bezeichnen. Der Begriff trifft auf Asylsuchende zu, die nicht über ein sicheres Drittland kommen, und auf Schutzsuchende nach der Genfer Konvention. Die meisten sind aber keine Flüchtlinge, sondern illegale Immigranten.

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Zum Schulz‘schen „Flüchtlings“-Wahlkampf ist dreierlei zu sagen: So berechtigt die Kritik an Merkels Politik der offenen Grenzen war und ist, so unehrlich ist es, so tun, als hätten die SPD-Bundesminister – allen voran Frank-Walter Steinmeier und Sigmar Gabriel – die unkontrollierte Zuwanderung nicht mitgetragen. Zweitens wäre zu fragen, wie wohl der „Willkommensrausch“ vom Herbst 2015 ausgefallen wäre, wenn damals SPD und Grüne oder gar Rot-Rot-Grün regiert hätten? Der „Rausch“ würde wohl heute noch anhalten: Ohne EU-Türkei-Abkommen und ohne sichere Herkunftsstaaten auf dem Westbalkan und in Nordafrika. Und drittens ist der Vorschlag von Schulz, EU-Länder sollten für die Aufnahme von Flüchtlingen mit Geld belohnt oder bei Verweigerung durch Entzug von EU-Mitteln bestraft werden, weder neu noch realistisch. Als Parlamentspräsident hat Schulz das schon vor langer Zeit gefordert – und nichts bewirkt.

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Dennoch: Schulz hat Recht, das Thema „Flüchtlinge“ zu thematisieren. Erstens kommen nach wie vor viele Asylsuchende zu uns: Im 1. Halbjahr 2017 wurden 90.389 registriert. In der zweiten Hälfte könnten es deutlich mehr werden, falls Italien – wie schon angedroht – die vielen „Bootsflüchtlinge“ einfach nach Norden durchwinkt, wie das 2015 und 2016 der Fall war. Deshalb soll, ja muss darüber diskutiert und gestritten werden, was diese unkontrollierte Zuwanderung für uns bedeutet: organisatorisch, finanziell und kulturell. Vor allem aber: Wie kann, soll, muss dieses Land damit umgehen, dass mit den Zuzug zahlreicher nicht integrationswilliger Menschen aus fremden Kulturkreisen die ohnehin vorhandenen Parallelgesellschaften anwachsen? Und dass die Zahl der „Mitbürger“, die unsere Lebensweise, unsere Kultur, unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat fundamental ablehnen, weiter zunimmt? Wann, wenn nicht im Wahlkampf, ist die Zeit für solche Debatten?

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Kaum hatte Schulz das Thema „Flüchtlinge“ angesprochen, wurde davor gewarnt, Wahlkampf „auf dem Rücken von Flüchtlingen“ zu führen. Mit demselben moralischen Unterton wird auch jede Form von Rentenwahlkampf abgelehnt. Nun ja, auch unsere Haltung zu Putin oder Erdogan darf nach diesen Maßstäben eigentlich nicht thematisiert werden, weil es einerseits Bürger verunsichern und zweitens die hier lebenden Russen und Türken belasten könnte. Es wäre zum Lachen, wenn es nicht so traurig wäre: dass manche Schönredner in verschiedenen politischen Lagern den Wahlkampf entpolitisieren und zu einem gutmenschlichen Stuhlkreis umfunktionieren möchten. Nein: Wir haben Wahlkampf, und da muss gekämpft werden – und zwar um die besten Lösungen der drängenden Fragen. Da gehört die unkontrollierte Zuwanderung ebenso dazu wie die ungewisse Zukunft des Rentensystems nach 2030.

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Wahlkampfweisheit zum Tage: Jedes Ding hat bekanntlich zwei Seiten. Aber man kann nicht für beide sein.