Tichys Einblick
FDP-Abgeordneter Marcel Luthe:

„Wir öffnen die Büchse der Pandora“

Der Berliner FDP-Abgeordnete Marcel Luthe klagt gegen die Corona-Maßnahmen des Berliner Senats: Er bezweifelt, dass sie verfassungsgemäß sind – und sieht die Gefahr staatlicher Willkür auch auf anderen Gebieten

Bild: FDP
Alexander Wendt: Herr Luthe, Sie klagen vor dem Berliner Verfassungsgericht gegen die Corona-Eindämmungsmaßnahmen des Berliner Senats. Nehmen Sie die Corona-Pandemie nicht ernst?

Marcel Luthe: Ich nehme die Corona-Pandemie natürlich ernst. Aber eben auch die Verfassung. Und die sagt, dass jeder staatliche Eingriff in Rechte der Bürger gesetzliche Grundlagen braucht. Ich möchte durch meine Organklage prüfen lassen, ob das Berliner Infektionsschutzgesetz als Grundlage tatsächlich ausreicht, oder ob es für derartige Eingriffe, wie wir sie jetzt erleben, nicht Beschlüsse des Parlaments geben müsste. In Artikel 59 der Landesverfassung heißt es: „Die für alle verbindlichen Gebote und Verbote müssen auf Gesetz beruhen.“

Warum, glauben Sie, hat der Senat die Maßnahmen nicht einfach dem Abgeordnetenhaus vorgelegt?

Das müssten Sie den Senat fragen. Aber vielleicht liegt es daran, dass man im parlamentarischen Verfahren jeden Eingriff begründen muss. Die Regierung müsste also erklären, warum sie etwas für notwendig und sinnvoll hält. Vielleicht käme sie da in Schwierigkeiten.

Was erscheint Ihnen denn unbegründet?

Beispielsweise: Warum darf ich laut Eindämmungsmaßnahmen trotz Covid-19-Gefahr in Berlin ein Fahrrad kaufen, aber kein Motorrad? Warum muss eine kleine Parfümerie schließen, aber der Drogeriemarkt, der ein ganz ähnliches Sortiment wie die Parfümerie führt, darf offen bleiben? Entweder ist das Betreten eines Ladens grundsätzlich gefährlich – dann müsste das für alle gelten. Oder es geht unter bestimmten Vorsichtsmaßnahmen. Dann eben auch für alle.

Berechtigte Fragen. Aber viele kleine Einschränkungen akzeptieren die Bürger offensichtlich.

Es geht auch um Fragen, die mit ziemlichen Konsequenzen verbunden sind. Beispielsweise erlaubt das Infektionsschutzgesetz, dass ein Geschäft aufgrund einer Verordnung im Einzelfall geschlossen werden kann. Dann steht dem Inhaber allerdings eine Entschädigung zu. Mit der jetzigen Corona-Eindämmungsverordnung ist diese Enzelfallbestimmung faktisch beseitigt.

Sollte das Verfassungsgericht also in Ihrem Sinn entscheiden, müsste die Landesregierung möglicherweise tausende Geschäftsinhaber entschädigen?

Möglicherweise ja.

Für wann rechnen Sie mit einer Entscheidung der Verfassungsrichter?

Vor Gericht und auf See ist man bekanntlich in Gottes Hand. Bei dem Organklageverfahren kann bis zu dem Urteil ein Jahr vergehen. Die Einstweilige Anordnung, bei der es um die Feststellung der Unvereinbarkeit der Senatsmaßnahmen mit dem Bestimmtheitsgebot von Artikel 64 geht, müsste dagegen zeitnah erfolgen.

Was sagt das Bestimmtheitsgebot?

In Artikel 64 heißt es: „Durch Gesetz kann der Senat oder ein Mitglied des Senats ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung müssen im Gesetz bestimmt werden.“ Ich habe eben Zweifel, dass diese Verordnung des Senats mit all ihren Sonderregeln von der gesetzlichen Grundlage gedeckt ist.

Nun hatte eine Anwältin gerade eine erfolglose Verfassungsklage gegen die Quarantäne angestrengt, war dann durch wirre Äußerungen aufgefallen und landete in der Psychiatrie. Fürchten Sie nicht auch, mit Ihrer Klage als Querulant dazustehen?

Zunächst ist es das Recht jedes Bürgers, am Sinn staatlicher Maßnahmen zu zweifeln und diese Zweifel von einem Gericht klären zu lassen. Die Möglichkeit einer Organklage haben nur sehr wenige. Selbst wenn ich als Abgeordneter von der Notwendigkeit meiner Klage nicht überzeugt wäre, wäre es meine Pflicht, diese Fragen im Interesse vieler Bürger prüfen zu lassen. Denn viele haben ja angesichts der Senatsmaßnahmen genau diese unbeantworteten Fragen.

Wie gehen Sie damit um, wenn Sie vor Gericht eine Niederlage erleiden?

Es geht nicht um Sieg oder Niederlage. Ich habe das gute Recht, mir vom Verfassungsgericht meine Zweifel nehmen zu lassen. Und wer weiß: vielleicht zweifeln die Richter ja auch.

Wenn die Gerichtsentscheidung in der Hauptsache kommt, werden die Corona-Maßnahmen – hoffentlich – längst wieder aufgehoben sein. Welchen Sinn hat ein Urteil in einem Jahr?

Es geht um eine grundsätzliche Frage. Mit diesen Verordnungen einer Verwaltung und ohne Parlamentsbeschluss öffnen wir die Büchse der Pandora. Was ist, wenn demnächst der Senat auf die Idee kommt, beispielsweise mit der Begründung des Klimaschutzes tiefe Eingriffe in die Rechte von Bürgern zu verordnen, ohne dass diese Maßnahmen etwas mit der Lösung des Problems zu tun haben? Mir geht es darum, dass der Staat bei seinen Handlungen Maß und Mitte wahrt. Er hat es mit mündigen Bürgern zu tun und nicht mit Kindergartenkindern.

Südkorea, Taiwan und Singapur konnten das Virus ziemlich erfolgreich eindämmen, obwohl sie die Wirtschaft nicht völlig heruntergefahren haben. Können wir etwas von diesen Beispielen lernen?

Ich halte es für sinnvoll, grundsätzlich jedes Beispiel weltweit zu studieren, um zu sehen, wer in der Pandemiebekämpfung Erfolg mit seinen Maßnahmen hat, und wer nicht.

Die Diskussionen der letzten Tage in Deutschland zeigen allerdings, dass erstaunlich viele Bürger selbst widersprüchliche Anordnungen und Maßnahmen akzeptieren, und dass viele sogar der Polizei Hinweise geben, wenn beispielsweise ein vermeintlicher Quarantänebrecher mit einem Autokennzeichen aus einem anderen Landkreis auf der Straße parkt. Streiten sie hier womöglich für eine Minderheit?

Es gibt dazu einen schönen Satz der damaligen ZEIT-Herausgeberin Gräfin Dönhoff: „Der legitime Platz des Liberalen ist zwischen allen Stühlen. Es darf ihn nicht kümmern, wenn er von allen Seiten beschimpft wird.“ Es mag sein, dass es sogar eine Mehrheit gibt, die diese Corona-Maßnahmen für sinnvoll hält. Ich würde aber auch klagen, wenn ich der Einzige wäre, der Zweifel an der Sinnhaftigkeit dieser Berliner Verordnung hat. Ich mache nicht Politik für jeden. Es gab einmal ein Plakat der FDP, auf dem ein Fischschwarm zu sehen ist, der kollektiv in eine Richtung schwimmt – und ein einzelner gelber Fisch, der in die andere schwimmt. Der Slogan dazu lautete: „Einer muss es ja tun.“ Deshalb bin ich Freier Demokrat geworden.


Der Wirtschaftswissenschaftler und Unternehmer Marcel Luthe, Jahrgang 1977, gehört dem Berliner Abgeordnetenhaus seit 2016 an. Luthe setzte den ersten Amri-Untersuchungsausschuss zur Aufklärung es staatlichen Versagens bei der Überwachung des Breitscheidplatz-Attentäters durch.