Tichys Einblick
Nicht ohne meine Nation

Europa: Le Pen oder Macron ist nicht die Frage

1918 begann das sozialdemokratische Jahrhundert, 1968 starteten die Epigonen von 1967, 2018 werden die Historiker später als Wendepunkt notieren. Die Geschichte hat ein Faible für Jahreszahlen als Symbole.

Gegen 15.00 wurden die ersten soliden Prognosen bekannt; danach erhält Macron mit über 60% einen glänzenden Sieg geschenkt. Aber was bedeutet das? Besonders gute Artikel gehen besonders leicht unter. Ein solcher eignet sich am heutigen Wahlsonntag in Frankreich zum Nachdenken. Wolfgang Streeck, emeritierter Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, zitiert in der ZEIT vom 27. April unter dem Titel: „Nicht ohne meine Nation“, aus einem jahrelang zurückliegenden persönlichen Gespräch mit einem griechischen Politikwissenschaftler in New York:

„Ich kann verstehen, wenn ihr Deutschen eure Nationalität loswerden wollt. Aber verlangt von uns nicht, dass wir dasselbe tun, um euch zu helfen.“

Streeck (inzwischen gibt es den Beitrag auch online) selbst weiter: „Tatsächlich gehören die meisten Mitgliedsstaaten der EU nicht an, um ihre Souveränität abzugeben, sondern sie so weit möglich zu verteidigen, gerade auch gegen andere Mitgliedsstaaten, oder sie überhaupt erst voll zu entwickeln – siehe Irland, Dänemark, die Niederlande und Luxemburg, die baltischen Staaten, Finnland, Polen und so weiter. Und was die beiden europäischen Atommächte angeht, so dreht sich in Frankreich und Großbritannien die Europa-Diskussion vor allem darum, ob man innerhalb der EU oder gar der Währungsunion souveräner ist – auf Deutsch, weniger von Deutschland regiert wird – als außerhalb.“

Vergegenwärtige ich mir, was ich dazu seit langem bis in diese Tage von den Berufs-EU-Politikern über die ever closer union höre, können diese keine Ohren und Augen für die Wirklichkeit haben. Streeck:

Die alten Strukturen am Ende
Die wirklichen Wahlen in Frankreich im Juni zur Nationalversammlung
„Mit zunehmender Tiefe der Integration wird diese Frage zunehmend negativ beantwortet; siehe Brexit, siehe Le Pen und Mélenchon, die in der ersten Rund der Präsidentschaftswahl über 40 Prozet der Stimmen auf sich vereinigen konnten. Dass der deutsche Europa-‚Diskurs‘ irgendwie als selbstverständlich unterstellt, dass am Ende der europäischen Einigung das Ende nicht nur des deutschen Nationalstaats, sondern aller Nationalstaaten stehen wird, lässt im europäischen Ausland immer wieder die Alarmglocken schrillen.“

Der Abstimmung heute folgen die Wahlen zur französischen Nationalversammlung am 11. und 18. Juni. Auch wenn Emmanuel Macron Präsident wird, zwar keine Mehrheit im Parlament hinkriegt aber irgendeine Cohabitation, die Politik von Sarkozy und Hollande wird er nicht fortsetzen. In den Niederlanden das gleiche Bild: Mark Rutte adjustiert seine EU-Politik neu. Ob Angela Merkel das weiß? Keine Ahnung. Darauf kommt es auch nicht an. Sobald es unausweichlich wird, dass Berlin sich anders verhält als bisher, weil die Politik in Paris, Den Haag und (spätestens nach der Rückkehr vom Matteo Renzi) in Rom sich ändert, setzt sich Merkel moderierend an die Spitze der neuen Richtung, als hätte sie nie was anderes im Sinn gehabt.

An der Wand
Europa: Die Krise der EU und ihre Schönredner
Neu, wirklich neu wird diese Richtung nicht sein. Aber so wie sich die Parteien der Sozialdemokratie überall marginalisieren in Richtung um die 10 Prozent, so stoppt die ever closer union im ersten Schritt und beginnt im zweiten eine längere Phase widersprüchlicher Bewegungen auf und ab, von Rückbau und neuen Wegen, die tastend versucht, verworfen wird, neu ansetzt. Das alles fällt in die Zeit der Verhandlungen zwischen Brüssel und London (die in Wahrheit in Berlin, Paris, Rom usw. geführt werden) über die tatsächlichen Schritte des Brexits, vor allem über neue Vereinbarungen für das essentielle Thema des Zugangs Britanniens zum Binnenmarkt und der EU-Länder zu Britannien. Das ist auch die Stunde der kleinen und mittleren Länder in ihrem neu erwachten Selbstbewusstsein. Was am Ende dieses Weges steht, ist für jede Überraschung gut. Die ever closer union nicht, das steht fest.

Ob die „rechtspopulistisch“ genannten Parteien selbst Regierungen bilden können, an Regierungen beteiligt sein werden (die SPÖ peilt das aktuell immer offener mit der FPÖ an) oder einfach nur als Opposition innerhalb und außerhalb von Parlamenten wirken: In allen künftigen Regierungen sind sie dabei – und wenn nur als stille Teilhaber. Mit den Grünen war das lange auch so. Die Berichterstattung der Meinungsführer-Medien folgt stets auf dem Fuße, nachdem sie erst zaghaft umschwenkt.

Zum Abschluss noch mal Streeck: „Europa wird nicht dadurch geeint, dass es die Außenpolitik zwischen seinen Mitgliedsstaaten in die Innenpolitik eines europäischen Superstaats überführt; im Gegenteil wird es dadurch gespalten. Regierungen und internationale Bürokratien, die den Bürgern der demokratischen europäischen Nationalstaaten erklären, dass sie von diesen keinen Schutz vor Weltgesellschaft und Weltmarkt zu erwarten haben, werden sie dazu bringen, es dann eben mit nicht demokratischen Nationalstaaten zu versuchen.“

Le Pen oder Macron ist nicht die Frage, Schulz oder Merkel ohnedies nicht. Wer auch immer morgen regiert in den Ländern des Westens, das „sozialdemokratische Jahrhundert“ geht zu Ende. Ralf Dahrendorf meinte damit nicht die Parteien und irrte sich, weil seine richtige Festellung von 1983, irgendwie seien wir alle Sozialdemokraten geworden, nicht den Endzustand des Wohlfahrtsstaates markierte. Der Ausbau des Nanny-Staates begann 1990 nach der Implosion der UdSSR und dem Wiedervereinigung genannten Anschluss der DDR erst so richtig – parallel mit der Sozialdemokratisierung aller Parteien. Das Ende der Arbeiterbewegung entzieht auch den anderen sozialdemokratisierten Parteien den Boden. 1918 begann das sozialdemokratische Jahrhundert, 1968 starteten die Epigonen von 1967, 2018 werden die Historiker später als Wendepunkt notieren. Die Geschichte hat ein Faible für Jahreszahlen als Symbole.