Tichys Einblick
EU-Wiederaufbaufonds

Deutschland erfüllt EU-Vorgaben nicht, für die es sich selbst stark machte

Neue Peinlichkeit für die Bundesregierung: Die EU-Kommission rügt ausgerechnet den größten Zahlmeister des Wiederaufbaufonds wegen mangelnden Reformwillens. Dabei hatte Berlin diese Reformen zur Bedingung für die Zuschüsse gemacht.

Abstruser geht es kaum noch: Deutschland verfehlt die Reformvorgaben zur Auszahlung von 25 Milliarden Euro nicht rückzahlbaren Zuschüssen aus dem EU-Wiederaufbaufonds. Die EU-Kommission hat nun, wie das Handelsblatt berichtet, die Bundesregierung zum Nachsitzen verdonnert. In der vergangenen Woche haben Spitzenbeamte mit Berlin so gesprochen wie ein Lehrer, der seinen Klassenprimus ermahnt, gefälligst seine Rolle als Vorbild gegenüber den Lümmeln in der letzten Bank wahrzunehmen: „Deutschland ist der Reform-Benchmark für alle anderen Länder. Das ist Ihnen doch hoffentlich klar“, sollen EU-Vertreter deutschen Spitzenbeamten gesagt haben. In Berlin sitzt man angeblich schon an „einem Plan, um die Kommission zu besänftigen“.

Das Handelsblatt nennt die Affäre „Deutschlands Eigentor“. Denn nicht zuletzt die Bundesregierung hatte im Mai 2020 in der Europäischen Union „Reformen“ zur Bedingung für die Einrichtung des so genannten Wiederaufbaufonds gemacht. Der wäre ohne Deutschlands Wirtschaftskraft und vor allem ohne die Zahlungsbereitschaft seiner Regierung in diesem Umfang nicht vorstellbar. Auch wenn die 25 Milliarden doch noch nach Berlin fließen sollten, wird Deutschland nach angaben der Bundesregierung rund 50 Milliarden Euro mehr in den Wiederaufbaufonds einzahlen, als es aus dem Topf erhält.

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Wirtschaftsreformen zur Bedingung von inneneuropäischer Umverteilung zu machen, gehört seit jeher zur deutschen EU-Praxis. Nur so meint man die Rolle als Netto-Zahler vor dem heimischen Publikum rechtfertigen zu können: Wir zahlen jetzt, aber die Empfänger sollen sich für die Zukunft bessern. Dahinter steht – mehr oder weniger ausgesprochen – das Versprechen der „Kohäsion“, also der allmählichen Angleichung der ökonomischen Verhältnisse, vor allem der Wettbewerbsfähigkeit. Die Idee, die europäische Peripherie im Süden und Osten mit Geld aus Brüssel (also letztlich vor allem aus Deutschland und den anderen starken Ökonomien) als Lockstoff auf das mitteleuropäische Niveau zu heben, ist letztlich seit den ersten Erweiterungen um Griechenland, Portugal und Spanien der Leitgedanke der europäischen Einigung. Geändert hat sich an der relativen Strukturschwäche zum Beispiel Griechenlands aber seit 1979 bekanntlich nichts. Die Wirtschaftsgeschichte ist ohnehin eher arm an Beispielen dafür, dass Hilfszahlungen von außen einem Land oder einer Region dauerhaft zu ökonomischer Blüte verhalfen.

Was der Bundesregierung nun widerfährt, ist die Offenbarung von mindestens zwei geplatzten Illusionen: Die harmloseste dürfte noch die Illusion sein, Deutschland sei nach eineinhalb Jahrzehnten Merkel noch ein Musterknabe des Reformeifers im Sinne der Wettbewerbsfähigkeit. Daran glauben vermutlich nicht einmal mehr die Redenschreiber von Wirtschaftsminister Peter Altmaier. Und darum wundert es auch nicht, dass deutsche Ökonomen den Befund der EU-Kommission sachlich bestätigen. Deutschland sei tatsächlich „kein Reformvorbild“, zitiert das Handelsblatt Ifo-Chef Clemens Fuest.

Allerdings ist eine andere Illusion wohl noch viel grundlegender: Nämlich der jahrzehntealte Glaube deutscher Politik, durch Freigebigkeit in Brüssel nicht nur die Angleichung der ökonomischen Verhältnisse in Europa, sondern auch eine Art universalpolitische Generalabsolution für Deutschland zu erreichen. Die EU-Kommission hat mit ihrer Rüge mal wieder überdeutlich gemacht, dass es die nicht gibt. Im Gegenteil: Man weiß in der Kommission, dass sich kein anderes Mitgliedsland so bequem rügen lässt wie Deutschland.

Ein scharfe Abfuhr aus Berlin für pedantische EU-Bürokraten? Undenkbar!

So lässt sich also Deutschland aus Brüssel vorhalten: „Umfassende Maßnahmen zur Verbesserung des Rentensystems stehen weiter aus“, während deutsche Arbeitnehmer im Schnitt länger arbeiten und weniger Rente erhalten als etwa italienische oder griechische.

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