Tichys Einblick
Urgestein Hans-Jochen Vogel

Einen wie ihn wird es in der SPD nicht mehr geben

Vogel war kein Zuchtmeister wie Herbert Wehner, aber in all seinen Ämtern ein gestrenger Mann von hohem Dienstethos und sprichwörtlicher Verlässlichkeit.

imago images / Oliver Bodmer
In der Geschichte der SPD der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird er womöglich keinen so prominenten Platz einnehmen wie Kurt Schumacher, Willy Brandt, Helmut Schmidt oder Gerhard Schröder. Aber unmittelbar nach diesen vieren wird er rangieren: Hans-Jochen Vogel (3. Februar 1926 – 26. Juli 2020). Und dann kommt hinter Vogel lange nichts – schon gar nicht in der SPD nach 2005.

Hans-Jochen Vogel entstammte keiner typisch sozialdemokratischen Familie. Sein aus München kommender Vater war Agrarwissenschaftler in Göttingen, wo der kleine Hans-Jochen auch geboren wurde. Nach dem 1943 abgelegten Abitur schlug er später die juristische Laufbahn ein. Zuvor meldete er sich, um der SS zu entgehen, freiwillig zur Wehrmacht. Eingesetzt – und verwundet – wurde der dann zum Unteroffizier Beförderte an der italienischen Front. Seine juristische Doktorarbeit wurde 1950 von der Universität Göttingen mit der Höchstnote „magna cum laude“ bewertet – ein Prädikat, das ihm, dem Einser-Juristen, zeit seines Lebens anhaftete.

Nach einigen Jahren im bayerischen Justizdienst und in der Bayerischen Staatskanzlei stieg er in die Politik ein. 1950 war er bereits SPD-Mitglied geworden. 1958 wurde er Stadtrat und Leiter des Rechtsreferats der Landeshauptstadt München. 1960 trat der gerade 34-Jährige in der Nachfolge des legendären Münchner Oberbürgermeisters Thomas Wimmer (SPD) als Kandidat für das Amt des Münchner Oberbürgermeisters an. Er wurde mit 64,3 Prozent gewählt (1966 bei der Wiederwahl übrigens mit 77,9 Prozent). Ein „Star des Südens“ war aufgegangen. In seine zwölf Jahre als Münchner OB fielen die erfolgreiche Bewerbung Münchens um die Olympischen Spiele 1972 und der Beginn des Baus der Münchner U-Bahn. Frustriert ob der zunehmenden Linkslastigkeit der Münchner SPD (angetrieben vor allem von Juso-Kräften) verzichtete er 1972 auf eine erneute Kandidatur als Münchner OB. Bei der bayerischen Landtagswahl 1974 trat er als SPD-Spitzenkandidat an – aussichtslos gegen einen Landesvater Alfons Goppel (CSU), der auf 62 Prozent kam.

Auf Bundesebene begann Vogels politische Karriere 1972. Er kandidierte erstmals für den Bundestag und wurde im Kabinett Brandt umgehend Bundesminister für Raumordnung und Städtebau. Brandts Nachfolger Helmut Schmidt machte Vogel 1974 zum Justizminister. In Vogels Amtszeit als Justizminister fielen so gravierende Ergebnisse und Entscheidungen wie der RAF-Terrorismus, das Abtreibungsrecht und das Ehescheidungsrecht. Als in Berlin 1981 wegen eines Polit-Skandals um den „Regierenden“ Dietrich Stobbe Not am Mann war, ging Vogel pflichtbewusst nach Berlin. Dort wurde er für weniger als drei Monate zum „Regierenden Bürgermeister“ gewählt; er war damit das bislang einzige Stadtoberhaupt in zwei deutschen Millionenstädten. Im Mai 1981 verlor Vogel die Berliner Wahl zum Abgeordnetenhaus gegen Richard von Weizsäcker. Vogel kehrte nach Bonn zurück. Für die Bundestagswahl am 6. März 1983 trat Vogel unter dem zentralen Motto „Im deutschen Interesse“ (was als Absage an den NATO-Doppelbeschluss zu verstehen war) als Spitzenkandidat an – durchaus um seine geringen Aussichten wissend. So kam es denn auch. Die CDU/CSU mit Kohl obsiegte mit 48,8 Prozent, für die SPD Vogels blieben 38,2 Prozent. Vogel wurde schließlich Nachfolger Herbert Wehners bis 1991 als Fraktionsvorsitzender und Oppositionschef. Von 1987 bis 1991 war er zugleich SPD-Parteivorsitzender. Der Wiedervereinigung näherte er sich nach anfänglichem Zögern. Er wollte auf eine Konföderation der beiden Staaten in Deutschland hinaus. Aber er stand quer zu den Vorstellungen eines Oskar Lafontaine, der die Bundesrepublik für DDR-Zuzüge dichtmachen wollte.

Vogel war kein Zuchtmeister wie Herbert Wehner, aber in all seinen Ämtern ein gestrenger Mann von hohem Dienstethos und sprichwörtlicher Verlässlichkeit. Zu seinem wertkonservativen Ethos gehörte es, dass er im Interesse seiner Überzeugungen und im Interesse seiner Partei immer wieder aussichtlose Kandidaturen übernahm. Dazu gehörte es auch, dass er nach seinem 65. Geburtstag vom 3. Februar 1991 innerhalb kurzer Zeit beide Ämter in Partei und Fraktion niederlegte. Bundestagsabgeordneter blieb er bis 1994. Sein um rund sechs Jahre jüngerer Bruder Bernhard Vogel machte übrigens Karriere in der CDU: als Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz (1976 – 1988) und in Thüringen (1992 – 2003). Im Bundesrat saßen sie sich gelegentlich gegenüber. Aber auch das ist eine interessante Parallele: Hans-Jochen als Stadtoberhaupt in zwei deutschen Großstädten, Bernhard als Landeschef in zwei Bundesländern.

Anfang 2006 zog der überzeugte Katholik und mit zahlreichen nationalen und internationalen Ehrungen ausgezeichnete Hans-Jochen Vogel zusammen mit seiner zweiten Frau Liselotte in München in ein Wohnstift. 2015 machte er seine Parkinson-Erkrankung öffentlich. Die Entwicklung seiner Partei machte ihm große Sorgen. Regelmäßig brachte er dies auch öffentlich oder intern zum Ausdruck.

Vogels Sorgen um „seine“ SPD bleiben bestehen. Denn Deutschlands älteste Partei ist programmatisch und personell in einem desolaten Zustand. Allein die Tatsache, dass es seit Hans-Jochen Vogel (kommissarische Vorsitzende nicht mitgerechnet) zwölf SPD-Vorsitzende gab, bedarf keiner weiteren Kommentierung. Wie tief die SPD gesunken ist, zeigen ansonsten nicht nur die aktuellen Umfragewerte, sondern auch das amtierende Vorsitzendengespann. Zwischen diesem Gespann und einem Hans-Jochen Vogel liegen Welten.