Tichys Einblick
E-Rezept kommt

Geschichten aus dem digitalen „Entwicklungsland“ Deutschland

Deutschland bekommt zum Jahreswechsel das E-Rezept. Die eigentliche Geschichte aber lautet, dass es dieses E-Rezept erst zum Jahreswechsel bekommt. Das Beispiel zeigt, wie sehr Deutschland in Sachen Digitalisierung Steinzeit ist.

IMAGO/Chris Emil Janßen

Zwei Däninnen stehen am Fahrkartenautomaten der Haltestelle „Brandenburger Tor“. Sie verzweifeln. Die Bankkarte wäre die einzige Möglichkeit, elektronisch zu bezahlen. Doch die Funktion funktioniert an dem Automaten nicht. Defekt. Scheine nimmt er auch keine an. Als ihnen ein Passant auf Englisch erklärt, sie müssten die zweimal 9,50 Euro für ein Tagesticket mit Münzen bezahlen, schütteln sie den Kopf: „Germany is Stone Age“. Deutschland ist Steinzeit.

Als jüngst eine Supermarktkette ihre gedruckten Prospekte einstellte, berichteten Focus, FAZ, WDR, Spiegel und auch TE darüber. Über Angebote kann man sich im Jahr 2023 im Internet informieren… Im Reservat des Faxgeräts ist das eine große Geschichte, eine Sensation. Wenn es um die digitalen Möglichkeiten geht, haben die beiden dänischen Touristinnen recht: „Germany is Stone Age“.

Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) hat an diesem Mittwoch das E-Rezept vorgestellt. 2021 begann eine Testphase, die ist nun abgeschlossen – zum Jahreswechsel soll das digitale Rezept für (fast) alle kommen. In Stone-Age-Deutschland gilt das als zügig. Die Journalisten auf der Pressekonferenz bestürmen Lauterbach sogar, ob das nicht übereilt sei und die Bedenken bezüglich des Datenschutzes nicht komplett ausgeschöpft wurden.

Dabei hat es Großbritannien bereits. Die Schweiz, die Niederlande und Spanien auch. Kroatien, Rumänien und Montenegro ebenso: Island, Lettland, Litauen und so weiter. Schon 2017 hatten es all diese Länder bereits. In Deutschland fragen sich Journalisten immer noch, ob Deutschland das E-Rezept nicht übereilt einführt. Ob man nicht noch ein wenig über Datenschutz diskutieren wolle.

Das E-Rezept funktioniert so: Die Arztpraxis speist die verschriebenen Medikamente auf die Kassenkarte ein. Die Apotheker rufen die Daten direkt von der Karte ab oder über eine App. Dabei kommen unterschiedliche Programme zum Einsatz. Manche können schon darauf hinweisen, wenn Nebenwirkungen im Einzelfall zu gefährlichen Effekten führen können – andere Programme können das noch nicht.

Lauterbach räumt ein, dass es noch Probleme bei der Software gäbe. Doch bisher seien in der Testphase 2,4 Millionen E-Rezepte eingelöst worden – und im Großen und Ganzen hätte es geklappt. Durch die Probleme der Anfangsphase müsse man im Januar durch. Es sei aber nicht vertretbar, weiterhin mit der Einführung zu warten: „In der Digitalisierung des Gesundheitswesens ist Deutschland ein Entwicklungsland – wir haben eine Aufholjagd vor uns.“

Ende des Monats will Lauterbach zwei Gesetze ins Kabinett einbringen: eines zur elektronischen Patientenakte und eines zur Datenforschung. Beide sind die Grundlage, um das E-Rezept richtig verwenden zu können. Kommen die Vorschläge durch, kann zum Beispiel ein Notarzt schneller auf die Daten eines Patienten zurückgreifen, der sich nicht artikulieren kann. So bekommt er wichtige Hinweise zu Blutgruppe, Allergien oder Medikamentenunverträglichkeiten.

Der Datenschutz ist ein berechtigtes Anliegen. Es bestätigt aber den Stone-Age-Eindruck der dänischen Touristinnen von Deutschland, dass diese Sorgen immer nur im Zusammenhang mit der Digitalisierung geäußert werden. Der Autor dieses Textes war vor gut 20 Jahren im Marketing einer Krankenkasse tätig. Damals sollte er Kunden der gesetzlichen Krankenkasse Zusatzleistungen einer privaten Kasse verkaufen. Dafür bekam er Zugriff auf die volle Behandlungsgeschichte der Versicherten – als Marketingmitarbeiter. Entscheidend ist nicht, wo die Daten gespeichert sind. Entscheidend ist, wer darauf Zugriff erhält. Gut zehn Jahren nach den geschilderten Vorgängen kam diese branchenübliche Praxis bei anderen Kassen ans Tageslicht. Es war zwei, drei Tage Thema – danach wurde es vergessen.

Sollte jetzt jemand einen Beitrag zur digitalen Diktatur schreiben wollen, sollte er vorher noch wissen: Wer will, dass keine elektronische Akte von ihm angelegt wird, kann sich das weiterhin verbitten. Wer sich weiterhin das Rezept schriftlich ausstellen lassen will, kann das ebenfalls tun. Und wer privat versichert ist, dem stellt sich die Frage nicht. Denn für die acht Millionen privat Versicherten gibt es weiterhin kein E-Rezept. Das muss noch organisiert werden, da muss noch über den Datenschutz geredet werden. Geht es um Digitalisierung, mag Deutschland zwar Stone Age sein – doch in Sachen Bedenken und umständlichen Verwaltungsverfahren macht uns auf dieser Welt niemand etwas vor.

Anzeige