Tichys Einblick
Satire und öffentlicher Diskurs

Dieter Nuhr über Diffamierung, Stigmatisierung und andere Ausschlussmechanismen

Dieter Nuhr, vielleicht der bekannteste und umstrittenste Kabarettist derzeit, sprach bei phoenix mit Alfred Schier über Meinungsfreiheit, Cancel Culture und Twitter-Mobs. Dabei entstand gleich ein neuer. Für Nuhr steht indes fest: Es geht um die »ideologische Vernichtung« öffentlicher Akteure.

Screenprint: youtube/phoenix

Eine Aussage scheint nicht dieselbe zu sein, je nachdem, wer sie macht. Das konnte Dieter Nuhr erfahren, als es um seine Grußbotschaft zum hundertjährigen Bestehen der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) ging. Nuhr hatte formuliert, was man als Grundverständnis von Wissenschaft ansehen kann: »Wissen bedeutet nicht, dass man sich zu 100 Prozent sicher ist, sondern dass man über genügend Fakten verfügt, um eine begründete Meinung zu haben. […] Wissenschaft ist […] keine Heilslehre, keine Religion. Und wer ständig ruft ›Folgt der Wissenschaft!‹ hat das offensichtlich nicht begriffen.«

Laut Nuhr bedankte sich die DFG sehr bei ihm und nannte das eine »wunderbare Definition von Wissenschaft«. Auch beim Mediendienst Meedia verstand man nicht, was daran kontrovers sein könnte, erkannte aber zugleich, dass es wohl etwas mit der Person von »diesem Nuhr« zu tun haben musste. Wie mehrere Tageszeitungen genüsslich feststellten, braute sich umgehend ein Twitter-Sturm gegen Nuhr zusammen, der nicht wissenschaftskonform genug sei, um solches sagen zu dürfen.

Die in solchem Sturm sicher unerprobte DFG nahm den Beitrag vorübergehend von ihrer Seite, später brachte sie ihn zurück.

Alles kehrt zurück, irgendwann. Auch das Gespräch, das Nuhr nun mit Alfred Schier führte, entfaltete eine zyklische Form in Raum und Zeit. Und das konnte wohl nicht anders sein. Eingeführt wird Nuhr von dem phoenix-Journalisten als erfolgreichster und zugleich umstrittenster Kabarettist in Deutschland. Und für diese schmissigen Superlative muss man Schier schon beinahe dankbar sein, verleihen sie dem Thema des Talks doch Gewicht und Zentralität. Der Mann, von dem eine ganze Nation spricht, hat vielleicht doch etwas mit den Zeitläuften zu tun.

Es sollte um die Frage gehen, wie wohlgelitten eine öffentliche Person in den Medien dieses Landes ist, sobald sie sich herausnimmt, eine eigene Meinung zu haben. Für Nuhr gehört solches jedenfalls einfach zu seiner »Souveränität«. Er sieht sich zusammen mit allen anderen Bürgern als Souverän dieses Landes und eben nicht als bevormundungswürdiger Idiot.

Wie steht es also um die Meinungsfreiheit in Deutschland? Nuhr antwortet mit einem entschiedenen »so lala«. Zwar dürfe man – anders als in Diktaturen wie China – alles sagen. Allerdings sei in Deutschland eine soziale Kompetenz im Schwinden begriffen: die Akzeptanz anderer Meinungen. In Onlineforen und in der Presse gibt es demnach ein zunehmendes Problem mit der Diffamierung und dem Ausschluss von Andersdenkenden.

Der »Appell für freie Debattenräume«: Zurück zu den Argumenten

Zusammen mit anderen öffentlich ›Umstrittenen‹ wie Hamed Abdel-Samad, Jörg Baberowski, Necla Kelek oder Boris Palmer hat Nuhr deshalb einen »Appell für freie Debattenräume« unterschrieben. Das ist sozusagen der Gegenbegriff zu sich verengenden Meinungskorridoren, die seit einiger Zeit von den unterschiedlichsten Akteuren beschrieben wurden. Und tatsächlich können sie die verschiedensten Berufsstände betreffen: ausgeladene Kabarettisten, zensierte Karikaturisten, Demonstranten, die nicht demonstrieren dürfen, Journalisten, die nicht mehr schreiben sollen, Schriftsteller, die nicht mehr veröffentlicht oder verkauft werden: »Der Meinungskorridor wird verengt, Informationsinseln versinken, Personen des öffentlichen und kulturellen Lebens werden stummgeschaltet und stigmatisiert.«

Und die letzten beiden Ausdrücke umschreiben wohl am besten, was Menschen passieren kann, die sich mit unbequemen Meinungen hervortun. Es muss nur durch irgendeinen Zufall die ›kritische Masse‹ an Negativ-Unterstützern zustandekommen, die zur Streichung eines Menschen aus dem sozialen Zusammenhang bereit sind. Dann schlägt der Mechanismus zu. Der »Appell« weist zudem darauf hin, dass sich hier häufig »lautstarke Minderheiten und Aktivisten« hervortun, die eine schweigende oder stummgeschaltete Mehrheit übertönen.

Nuhrs Hauptproblem mit den heutigen Debatten wird dabei nicht einmal in dem »Appell« genannt. Er nennt es die »Etikettierung« von Menschen, die an die Stelle der Argumentation getreten sei. Die Behauptung ist dann schlicht, einer sei »rechts«, »neoliberal« oder auch unrettbar »links«, in jedem Fall werde damit nur denunziert, nicht mehr argumentiert. So nennt er auch die Antisemitismusvorwürfe gegen Lisa Eckhart diffamierend. Sie zielten letztlich auf die Vernichtung ihrer Person ab. Denn das bedeutet diffamare ursprünglich: den guten Namen, die Fama eines Menschen in den Schmutz ziehen. Was Lisa Eckhart tut, vergleicht Nuhr mit Kunst, ihre Auftritte wollen demnach auf eine existentielle Art wirken, die Menschen in ihren Ansichten »verstören«, aufstören, zu eigenständigem Denken anregen.

Die Angst der Deutschen vor der eigenen Meinung

Nuhr sagt von sich, dass er Heilslehren von allen Seiten anzweifele. Eben deshalb, glaubt er, sind viele so unzufrieden mit ihm – weil er ihre eigenen Dogmen angreift. Und so ist er mal Klimaleugner, mal Wissenschaftsleugner und jetzt eben Coronaleugner. Den Anklang an Holocaust-Leugner hält Nuhr für Absicht: »Das soll so klingen. Das ist eine bewusste Assoziation, die hergestellt wird, um meine Person sozusagen aus dem Kreis der rational argumentierenden Menschen zu entfernen.«

Tatsächlich hatte er selbst nie den Klimawandel oder die Existenz des Coronavirus, noch auch die Notwendigkeit bestimmter Maßnahmen geleugnet. Vielmehr argumentiere er immer statistisch und wissenschaftlich. Das nennt Nuhr ein Grundprinzip seiner Arbeit.

Auch die neue Angst (laut einer Umfrage bei zwei Drittel der Deutschen ausgeprägt) vor dem Äußern der eigenen Meinung erklärt Nuhr in dieser Weise wissenschaftlich, geradezu quantitativ- statistisch: Früher habe eben der kleine Stammtisch aus acht Leuten eine bestimmte Meinung vorgegeben, inzwischen sei dieses Monopol an die sozialen Medien übergegangen. Weil dort aber Zigtausende beteiligt sind, zeige das mehr Wirkung, bis in viele Zeitungsredaktionen hinein, die so versuchen, dem Genossen Trend zu folgen.

Daneben gibt es aber nach Nuhr auch einen qualitativen Sprung. Die einst in der Kneipe geäußerten Meinungen hätten demnach »so ’ne Art Verpuffung« gebildet. Man sprach ins Glas hinein, und da blieb die Meinung dann auch. Heute wird sie virtuell verewigt, verfestigt sich zum Trend und zur Quasi-Nachricht. Die »Wut-Strömungen«, die die ums Überleben kämpfenden Lokalzeitungen sich so – quasi als letztes Lebenselixier – zuzuführen suchen, hält Nuhr aber keineswegs für eine Belebung, sondern für den Untergang des Journalismus. Diese Tendenz hat nach ihm auch schon die Süddeutsche ergriffen, die im Zuge des DFG-Skandälchens eine Geschichte über die »Kläglichkeit des deutschen Humors« brachte. Der Autor benannte Nuhrs ARD-Sendung dabei kurzerhand als Mitternachtsspitzen (wie sie nicht heißt), was für Nuhr den Eindruck bestätigte, dass hier keine feinsinnige Kabarettkritik geübt wurde, sondern »ideologische Vernichtung« beabsichtigt war.

Was ist mit der »Anarchie, die Humor eigentlich hat« passiert?

Alfred Schier stellte dann noch die typische ÖRR-Frage – irgendwo zwischen Naivität und Staatshörigkeit –, ob man mit Kritik an den Corona-Maßnahmen nicht eigentlich den Verschwörungstheoretikern in die Hände spiele. Ja, sagt Nuhr, darüber mache er sich den ganzen Tag Gedanken. Denn »inzwischen spielt ja schon jeder Witz, der nicht über Rechte gemacht wird, Rechten in die Hände«. Er darf also »überhaupt nur noch Witze über Nazis machen«, weil bald offenbar nur noch das als Nachweis der rechten (also nicht-rechten) Gesinnung genüge.

Nuhr ist übrigens gar kein Radikaler in diesen Fragen, vielmehr ein äußerst Gemäßigter. Gegen viele Corona-Maßnahmen hat er gar nichts. Die Verblendung vieler seiner Kritiker geht aber so weit, dass man ein Zitat von ihm halbierte, um ihm zu schaden. Dem Satz »Dieses Land hat sich unter die Herrschaft der Virologen begeben« entriss man das direkt anschließende »und das ist gut so«, um Nuhr zum radikalen Virologenkritiker umzumodeln.

Dagegen kann Schier gar nicht glauben, dass irgendjemand in diesem friedlichen Land irgendjemanden »vernichten« wollen könnte. Die Medien täten das doch alles nur auf der Jagd nach mehr Klicks und Reichweite. Nuhr weist auf »starke ideologische Kämpfe in diesem Land« hin, mit »wachsenden Extremismen«, die den Andersdenkenden verachten, ihm schaden wollen, wo es nur geht. Es wäre in der Tat interessant, diese ideologisch aufgeladenen Konflikte – die ja auch die Online-Gemeinde in ihrer ganzen Vielfalt beherrschen – öfter in den öffentlichen Gesprächsforen der Nation zu erleben. Nuhr glaubt, dass bei allen wesentlichen Themen der letzten Jahre der Versuch unternommen wurde, die Debatte zu unterdrücken.

Aber dass er Witze über Greta gemacht hat, kann Nuhr nicht kritikwürdig finden, immerhin sei sie für kurze Zeit das mächtigste Mädchen der Welt gewesen. Dass Alfred Schier für Greta Thunberg Kritiklosigkeit einfordert, hält er schlicht für albern.

Wiederum kommt er auf das Volk und seine Macht zurück, wird geradezu dialektisch: »In einer Demokratie ist die Macht beim Volk. Und das Demonstrationsrecht bedeutet, dass die Menschen ihr Machtmittel der Meinungsäußerung, des Druckmachens auf der Straße in Anspruch nehmen.«

Nuhr weist noch einmal darauf hin, dass Satire sich aller Gegenstände bemächtige, die es eben gibt, und sich über alles lustig mache. Manchmal sogar über sich selbst. Und da würde man ja auch nicht von einem »Angriff« auf die eigene Person sprechen. Der Unterschied beginne da, wo er nicht mehr Witze über Markus Söder, sondern über Kevin Kühnert macht. Dann droht, so Nuhr, der Shitstorm.

Anscheinend hängt das mit dem unterschiedlichen Opferstatus zusammen, den eine Person für sich oder andere für sie in Anspruch nehmen. Der Satiriker vermisst die »Anarchie, die Humor eigentlich hat«. Inzwischen müsse man deutlich machen, auf der richtigen Seite zu stehen und sich Applaus von den Falschen verbitten. Doch das nennt Nuhr auch die »Kastrierung« des Humors. Den Interviewer wunderte es nicht mehr.

Die »sauber ausformulierten Hasskommentare« der Erregten

Am Ende des Gesprächs stand das, worum es ging: Eine neue Twitter-Blase blies sich auf und zerplatzte wieder, es war von »toten Männern, die noch laufen« die Rede. Denn mittendrin hatte Nuhr die Formulierung eines anderen übernommen, wonach der Shitstorm die humane Variante des Pogroms sei, »human, weil ja nichts passiert, es geht ja nur um Psychologie«. Wer es nicht erlebt hat, sollte wohl nicht darüber urteilen. Aber darauf können die Benutzer sozialer Medien eben nicht verzichten: Sie bestehen ja nur aus ihrer Meinung. Also bauen sie daraus einen schönen großen Hügel, um die Erregung der anderen und ihre eigene zu kanalisieren. Nuhr spricht von »sauber ausformulierten Hasskommentaren« und hat offenbar kein Problem damit, sich davon zu distanzieren.

Zugegeben, es ist schon irgendwie seltsam, dass ausgerechnet der Gastgeber und Protagonist einer Kabarettistenrevue im Ersten Deutschen Fernsehen von Cancel Culture betroffen sein soll. Aber man muss sich wohl an das Chaotische in diesen Dingen erinnern. Heute verfügt man noch über Stimme, Sitz und Ehren, morgen kann man eins davon verlieren, und so werden nagende Zweifel an einer Person genährt, die am Ende – wenn die Anzweifler und Abkanzler obsiegen – zur wirklichen Ausstreichung der Person führen können.

Nuhr sieht das Ganze einstweilen als den Versuch, andere »psychologisch zu überwältigen«, und tut sich so vielleicht selbst den besten Gefallen. Er entlarvt die Erregten als das, was sie sind: Bullies.

Man denkt dann doch kurz an Harald Schmidt zurück, der in einer der zahllosen Krisen des deutschen Journalismus davon sprach, dass die Nachrichtensendungen wieder voller »Kommentarwichsmaschinen« gewesen seien. Damals ging es freilich noch um Größen wie Günter Grass und Walter Jens. Heute hat sich ihr Gewerbe demokratisiert, zumindest auf der Oberfläche.

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