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Die Kritik an der Impfpflicht wächst, doch die Politik will davon nichts wissen

Wissenschaftler und Ärzte sprechen von einer veränderten Lage durch Omikron, aber die Regierenden hören nicht auf sie. Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann kritisiert sogar die Einmischung der Virologen in die Politik. Folgt die Regierung wirklich der Wissenschaft, wie sie immer behauptet?

IMAGO / Bernd Elmenthaler

Immer mehr Mediziner in Deutschland kritisieren die Pläne zur Impfpflicht. In Sachsen meldeten sich Anfang der Woche Klaus Heckemann, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen, und Thomas Lipp, Präsident des Sächsischen Hartmannbundes, zu Wort. Sie lehnten eine Impfpflicht ab, die sich durchsetzende Omikron-Variante mische die Karten neu. Schon Mitte Januar hatte der Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, Andreas Gassen, die Impfpflicht kritisiert.

Nun hat sich auch der Chefarzt der Lungenklinik Bethanien in Moers (NRW) und Präsident des Verbands Pneumologischer Kliniken (VPK), Thomas Voshaar, zu Wort gemeldet. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk sprach er davon, dass man die Verbreitung der Omikron-Variante kaum bremsen könne. Voshaar ging sogar noch einen Schritt weiter: „Wir müssen darauf hoffen, dass sich 100 Prozent der deutschen Bevölkerung mit Omikron infizieren.“ Man müsse nun lernen, mit Corona zu leben.

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Voshaars Ansatz widerspricht der Linie des Bundesgesundheitsministers. Karl Lauterbach warnt weiterhin vor einer schnellen Durchseuchung und rechnet im Februar mit Spitzenwerten von bis zu 400.000 Neuinfektionen pro Tag. Die Infektionswelle müsse verlangsamt werden. Die „Booster“-Impfung gilt als die Bazooka des SPD-Ministers. Laut Robert-Koch-Institut macht die Omikron-Variante seit letzter Woche 95 Prozent der Corona-Infektionen aus. Bund und Länder hatten in ihrer letzten gemeinsamen Konferenz keine konkreten Lockerungen in Aussicht gestellt.

Auf europäischer Ebene haben dagegen mehrere Länder, darunter Spanien, Irland, Dänemark und das Vereinigte Königreich eine Kursänderung angekündigt. In Schweden gibt es mittlerweile sogar Vorbehalte gegen die Impfung für Kinder im Alter von 5 bis 12 Jahren. Britta Björkholm von der schwedischen Gesundheitsbehörde sagt, dass Kinder in sogenannten „Hochrisiko-Gruppen“ weiterhin die Impfstoffe erhalten könnten. „Mit dem aktuellen Wissen, dass diese Pandemie nur eine geringe Gefährdung der Kinder mit sich bringt, sehen wir keinen klaren Vorteil darin, die Kinder impfen zu lassen“, gab sie zu bedenken.

Am Mittwoch verbreitete die Berliner Zeitung eine Meldung über vier Chemie-Professoren, die eine Frageliste an BioNTech-Gründer Ugur Sahin schickten. Sie zeigten sich besorgt über mögliche Qualitätsmängel des mRNA-Stoffes. Sie zeigten sich dabei nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber der neuen Technologie, bezweifelten jedoch, dass man „dieses Produkt zur Zeit als Massenimpfstoff einsetzen“ könne.

Zweifel an der Qualität von mRNA-Impfung bei BioNTech

Dabei fiel den Wissenschaftlern ein Widerspruch zwischen geliefertem Produkt und Beipackzettel auf. In letzterem steht geschrieben: „Der Impfstoff ist eine weiße bis grauweiße Dispersion.“ Die Wissenschaftler wollten von der Firma wissen, wie dieser Farbunterschied zu erklären sei, denn „so gut wie alle verwendeten Substanzen“ seien farblos. Andreas Schnepf, Professor für Anorganische Chemie an der Universität Tübingen, erklärte das Problem so: „Die Farbe Grau, also ein ‚verdünntes Schwarz‘, entsteht kaum in einem Prozess, der zu erwarten gewesen wäre. Wir müssen wissen, ob es sich um eine Verunreinigung handelt.“

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Weder schaffte es der Fall in die Massenmedien, noch rezipierte ihn die Politik. Letztere ignorierte auch den Einwurf des Immunologen Carsten Watzl, immerhin Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für Immunologie. Der kritisierte die willkürliche Herabsetzung des Genesenenstatus von sechs auf drei Monate durch das Robert-Koch-Institut. Es sei „nicht nachvollziehbar“, dass Geimpfte länger als immun gelten würden als Menschen, die eine Corona-Infektion überstanden hätten. Gegenüber der dpa sagte er: „Studien zeigen zwar, dass viele Antikörper von Genesenen die Omikron-Variante nicht mehr so gut erkennen können, und diese Personen damit kaum noch einen Schutz vor der Infektion haben. Aber diese Veränderung gilt ebenso für Geimpfte. Wenn man den Genesenenstatus verkürzt, muss man das eigentlich auch für die Impfzertifikate tun.“
Kretschmann: Virologen sollen sich nicht bei politischen Fragen zur Impfpflicht einmischen

Reaktionen darauf? Ja, die gab es, wenigstens indirekt. Nämlich von Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann. Wissenschaftler sollten es „unterlassen, politische Ratschläge zu geben“. Das könne ihre wissenschaftliche Autorität „erheblich beeinträchtigen“. Explizit nannte der Politiker der Grünen das Beispiel der Impfpflicht. Ob diese politische Kollateralschäden erzeuge, „das zu bewerten liegt jetzt nicht in der Kompetenz der Stiko oder von wem auch immer.“ Das sei Kompetenz und Aufgabe der Politiker, die dafür gewählt worden seien – nicht der Epidemiologen. „Da ist manches verrutscht.“

Kretschmann bezog sich in seiner Kritik auf eine Aussage des Soziologen Max Weber. „Max Weber hat darauf verwiesen, dass Wissenschaften die Welt beschreiben, wie sie war, ist und sein wird. Sie können auch beschreiben, wie man die Welt verändern könnte. Aber die Wissenschaft kann nicht sagen, ob man die Welt auch verändern soll“, so Kretschmann.

Große Geister der deutschen Geschichte scheinen bei der Politik derzeit hoch im Kurs zu stehen, wenn es um die Impfpflicht geht. Wenigstens war es diesmal nicht der im Schafspelz von Georg Hegel verkleidete Friedrich Engels.

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