Tichys Einblick
Binnen-Exit?

Die Auflösung der EU könnte schon im Gange sein

Die nationalen Parteiensysteme zerbröseln, die Fraktionen im EU-Parlament auch, was ist die nächste Stufe?

Hungary's Prime Minister Viktor Orban gestures as he delivers a speech during a debate concerning Hungary's situation as part of a plenary session at the European Parliament on September 11, 2018 in Strasbourg, eastern France. - Hungarian Prime Minister Viktor Orban vowed, on September 11, 2018, to defy EU pressure to soften his hardline anti-migrant stance, condemning what he called the 'blackmail' of his country.

FREDERICK FLORIN/AFP/Getty Images

Polen und Ungarn mit einem politischen Disziplinierungs-Verfahren in juristischem Gewande zu überziehen, zeugt von einer unpolitischen, technokratischen EU und einem ebensolchen Parlament, dem zum Parlament alles wesentliche fehlt, wie der EU an allem mangelt, was zu einem Staat gehört. Wer in diesem Streit in der Sache recht hat, ist eine Frage, die viele Wissende und Unwissende noch lange wälzen werden (ein Beitrag dazu auf TE folgt). Meine Meinung ist ganz einfach: Kommission und Parlament der EU haben keine Legitimation, ihren Mitgliedern derlei Vorschriften zu machen. Da können Bürokraten noch so viele Schriftsätze verfassen. Am Ende steht die unsterbliche, klassische Frage: Wie viele Divisionen hat die EU?

Die Verantwortlichen in Brüssel und den korrespondierenden Hauptstädten scheinen nicht zu merken, dass sie heute den Startschuss zu einem Prozess der Auflösung der EU gegeben haben könnten. Ich meine nicht das Modell Brexit, mit dem die EU bisher auch nicht fertig wird. Es gibt eine Alternative zum Exit, den Binnen-Exit: Die Mitgliedsstaaten in Mitteleuropa könnten zu Unionen von Unionen in der EU zusammenfinden, denen auch welche von außerhalb der EU angehören.

Dazu sind keine formalen Vorgänge nötig, gegen die die EU formal vorgehen könnte. Nein, ehemalige Ostblockländer könnten ganz einfach auf praktischen Politikfeldern und vor allem in der Wirtschaft enger zusammenarbeiten. Brüssel, Paris und Berlin sind auf dem Holzweg, wenn sie meinen, mit dem goldenen Zügel, also dem Geld alles steuern zu können. Denn Geld haben andere auch. Und sogar mehr.

Mich wunderte die Ignoranz der Brüsseler Beamten schon Ende 2017, als ich über einen Vorgang schrieb, der in Westeuropas Medien praktisch nicht stattfand, das China-Projekt: Infrastruktur-Netz „One Belt, One Road”:

»Die Brüsseler Bürokratie versuchte lange und erfolglos zu verhindern, dass EU-Mitgliedsländer bei Chinas Initiative „Neue Seidenstraße“ mitmachen, anstatt sich an die Spitze dieser Chance der Kooperation mit China zu setzen. Diese Lücke nutzt nun Viktor Orbán.«

»Der Gruppe „16 plus 1“ oder CEEC (Central and Eastern European Countries) gehören die Visegrád-Länder Polen, Ungarn, Tschechien und Slowakien an, die drei baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien und Albanien sowie aus Ex-Jugoslawien die EU-Staaten Kroatien und Slowenien, aber auch Serbien, Mazedonien, Montenegro und Bosnien-Hercegovina.«

Wie schnell das Seidenstraßen-Projekt Realität wird, darum geht es mir hier nicht. Wohl aber darum, dass Paris-Brüssel-Berlin nicht auf dem Radar zu haben scheint, dass Orbán und die anderen Alternativen haben. Tritt Italien noch dazu und kommen noch andere auf den Geschmack, ist es egal, wer was in Brüssel sagt, tut oder nicht. Insofern hat Österreichs Bundeskanzler Kurz heute wohl mit seinem Einreihen in der EVP-Fraktion den zweiten Fehler während seiner Ratspräsidentschaft gemacht. Der erste war, sich ohne erkennbare Not zur deutschen Innenpolitik geäußert und parteiisch der Merkel’schen Sprachregelung zu den Ereignissen in Chemnitz angeschlossen zu haben. Fehler kann man korrigieren, lange Zeit hat Kurz nicht.