Tichys Einblick
Sonntagsfrage Bundestagswahl

Demoskopen sagen eine Dauer-Groko voraus

Laut aktuellen Umfragen steuert Deutschland auf eine weitere Große Koalition zu, aber keine schwarz-rote, sondern eine schwarz-grüne. Der demokratische Richtungskampf um politische Alternativen droht so dauerhaft unter die Räder der Parteien-Herrschaft zu geraten.

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Laut einer aktuellen INSA-Umfrage würden, wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, die Union 35 Prozent, die Grünen 19 Prozent, die SPD 15,5 Prozent, die AfD 11,5 Prozent und FDP wie Linke jeweils 6,5 Prozent der Wählerstimmen erhalten. Eine solches Wahlergebnis ist angesichts eines zunehmend volatileren Verhaltens der Wähler mit Blick auf den Wahltag in einem Jahr zwar nicht in Stein gemeißelt, gibt aber gleichwohl Aufschluss über die politischen (Mehrheits-)Verhältnisse, auf die das Land seit längerem zusteuert.

Seit dem Jahr 2005 wird Deutschland, mit Ausnahme der Jahre 2009 bis 2013, von einer Koalition der beiden (stimmen-)stärksten Parteien regiert, die sich zuvor seit Beginn der 1980 Jahre jeweils als Anführer zweier politischer Lager (Schwarz-Gelb versus Rot-Grün) gegenübergetreten sind. Sie konkurrierten einst auf so gut wie allen Politikfeldern um gegensätzliche, häufig unvereinbare politische Überzeugungen und Konzepte und rangen um die jeweiligen politischen Mehrheiten für deren Umsetzung. Ein gemeinsames Regieren kam allenfalls als vorübergehende Ausnahme in Frage, ging mit einer Großen Koalition (GroKo) doch immer der Verzicht auf die Umsetzung der eigenen politischen Linie und damit das Risiko des Verlusts des jeweiligen politischen Profils einher.

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Der die bundesrepublikanische Demokratie ebenso belebende wie stabilisierende politische Wettbewerb zwischen zwei (Volks-)Parteien, für die zur Umsetzung ihrer politischen Ziele jeweils die Bildung einer GroKo nicht in Frage kam, findet zwischenzeitlich nicht mehr statt. Zum einen sind die Stimmenverluste der SPD nicht nur im Bund, sondern auch in einigen ihrer ehemaligen Kernländer inzwischen so groß, dass sie ihre frühere Fähigkeit, gegen die Union eine Regierung zu bilden, auf unabsehbare Zeit eingebüßt hat. Will sie (weiter) regieren, bleibt ihr nur noch die Rolle des Juniorpartners der Union, die sie nunmehr, mit kurzer Unterbrechung, schon seit fünfzehn Jahren spielt. Die SPD-Führung hadert zwar noch sichtlich mit dieser Rolle, wird sich aber spätestens nach der nächsten Bundestagswahl den Realitäten beugen, sollten die Wahlergebnisse in etwa dem entsprechen, was die aktuelle INSA-Umfrage ergibt. Nicht nur der Gewerkschaftsflügel der Partei wird erneut darauf drängen, über das Arbeits- und Sozialministerium weiterhin die Arbeits- und Sozialpolitik des Landes zu bestimmen.

Der Niedergang der SPD geht einher mit einem Aufstieg der Grünen, die nicht zuletzt aus dem einstigen Wählerreservoir der SPD schöpfen. Ihre frühere Gegnerschaft gegen die Union haben sie inzwischen weitestgehend aufgegeben und bereiten sich als zweitstärkste Partei, zu der sie nicht nur gemäß der aktuellen INSA-Umfrage inzwischen zu werden scheinen, nun ihrerseits auf die Rolle des Juniorpartners der Union vor. Angesichts der mageren Ergebnisse der SPD und der Linken dürften die grünen Wahlstrategen jegliche Hoffnung auf eine grün-rot-rote Regierungskoalition mittlerweile aufgegeben und durch die Hoffnung ersetzt haben, nach fünfzehn Jahren vergeblichen Anläufen zu einer Neuauflage von Rot-Grün im Bund nun endlich mit Hilfe der Union wieder in Regierungsverantwortung zu kommen. Um diejenigen grünen (Stamm-)Wähler, die nach wie vor eine Koalition mit der Union strikt ablehnen, nicht zu verlieren, lehnt die grüne Parteiführung vor den Wahlen eine Koalitionsaussage zugunsten der Union allerdings ab und gibt sich, mit Ausnahme der AfD, nach allen Seiten demonstrativ offen.

Die gesamte Partei zeigt so mittlerweile ein Ausmaß an politischer Profillosigkeit und und Opportunismus, der allerdings nicht nur die Grünen auszeichnet. Diese Merkmale prägen inzwischen das Verhalten und das Bild aller etablierten Parteien, die nicht müde werden, sich öffentlich ihrer gegenseitigen Koalitionswilligkeit zu versichern, sich gleichzeitig aber weigern, vor Wahlen verbindliche Koalitionsaussagen zu treffen. Die Wähler können daher nicht mehr sicher sein, ob sie mit ihrem Kreuz bei der einen Partei nicht ungewollt eine andere mit in die Regierung hieven, die sie gar nicht dort haben wollen. Die Wahl wird für die Wähler so zunehmend zu einem Vabanque-Spiel mit ungewissem Regierungsergebnis, in dem sich kein eindeutiger Wählerwille mehr niederschlägt. Das gilt selbst dann, wenn die beiden (stimmen-)stärksten Parteien koalieren, sofern sie zusammen über eine ausreichende Mehrheit verfügen.

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So halten laut dem ZDF-Politbarometer vom vergangenen August derzeit zwar 48 Prozent der Befragten eine schwarz-grüne Koalition für gut; dieses Ergebnis, das fraglos von einem starken Zuspruch für Schwarz-Grün in der Wählerschaft zeugt, liegt jedoch sechs Prozentpunkte unter dem rechnerischen schwarz-grünen Koalitionsergebnis von INSA, das derzeit zusammen 54 Prozent ergibt. Diese Differenz verweist auf diejenigen Wähler, die Union und Grüne jeweils verlieren könnten, sollten sie schon im Wahlkampf für eine gemeinsame Koalition antreten. Dieses Risiko, das mit jeder weiteren Annäherung der jeweiligen politischen Positionen von CDU/CSU und Grünen eher zu- als abnimmt, will keine der beteiligten Parteien eingehen, würde es deren alternativen Koalitionsspielräume im Falle einer gemeinsamen Wahlniederlage zudem erheblich verkleinern und ihre Glaubwürdigkeit im Falle anderer Koalitionsbildungen noch weiter beschädigen.

Die Union und die Grünen vermeiden angesichts dieser Sachlage gegenüber den Wählern eindeutige Aussagen zu ihren Koalitionsabsichten und deuten diese mit lobenden Worten über den jeweils anderen zukünftigen Partner allenfalls an. Dieses mehrdeutige Vorgehen soll seitens der Wähler einem Parteienbündnis zum Erfolg verhelfen, dem sich in Gestalt der SPD (oder der FDP) notfalls noch ein dritter Partner anschließen kann, sollte es, wie schon 2017, rechnerisch wieder nicht für die angestrebte Zweier-Koalition reichen. Danach sieht es laut der INSA-Umfrage gegenwärtig allerdings nicht aus. Die Grünen liegen als potentieller Juniorpartner einer von der Union geführten Regierung deutlich vor der SPD, obwohl sich diese etwa mit ihrer Forderung, mehrere tausend Bewohner des abgebrannten Flüchtlingslagers Moria in Griechenland nach Deutschland zu holen, alle Mühe gibt, grüne Wählerschichten zu erreichen. Die Grünen sind von daher nicht nur willens, sondern wären mittlerweile auch dazu in der Lage, anstelle der SPD mit der Union eine großkoalitionäre Politik fortzusetzen, die jeglichen politischen Richtungskampf so lange abwürgt, wie sich auf außerparlamentarischer und parlamentarischer Ebene keine alternativen Kräfte etablieren und durchsetzen, die dem ein Ende setzen.

Deutschland steuert so auf eine Dauer-GroKo zu, die in mancher Hinsicht dem schweizerischen Regierungssystem ähnelt, dessen Exekutive aus einem siebenköpfigen Bundesrat besteht, in dem alle größeren Parteien immer vertreten sind. Anders als in der Schweiz gibt es in Deutschland zur bestehenden groß-koalitionären Regierungsweise allerdings keine wirksamen direkt-demokratischen Gegengewichte wie etwa Volksabstimmungen, mit denen von oppositionellen Kräften gegen bestehende Gesetze vorgegangen werden kann oder auch neue initiiert werden können. Deutschland droht so zunehmend in ein post-demokratisches System abzugleiten, in dem es weder politische Alternativen noch demokratische Checks and Balances gibt, die einer gemeinsamen Dauer-Herrschaft der größten Parteien Einhalt gebieten könnten. Der Unterschied zu den frühesten Geburts-Stätten der modernen parlamentarischen Demokratie, den USA und Großbritannien, in denen der demokratische Richtungsstreit zwischen den größten Parteien nicht abgewürgt, sondern öffentlich mit teils sehr harten Bandagen ausgetragen wird, könnte für ein demokratisch verfasstes Land wie Deutschland größer kaum sein.

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