Tichys Einblick
„Meinungsfreiheit“ am 70. Jahrestag des GG

DDR 2.0 – Wir sind ein Volk von Flüsterern geworden

Große Teile der „vierten Gewalt“ versagen – George Orwell lässt grüßen.

Pünktlich zum 70. Geburtstag hat das Institut für Demoskopie Allensbach über die Ergebniss eine repräsentative Studie über den Mut der Deutschen berichtet, sich zu politischen Themen zu äußern. Im Grunde ist es eine Auskunft, wie die Deutschen den Artikel 5 des Grundgesetzes (Meinungsfreiheit) in der Realität verwirklicht sehen bzw. wie sie ihn im Alltag (er)leben.

Gefragt hatte Allensbach zwischen dem 3. und 16. Mai insgesamt 1.283 über 16 Jahre alte Deutsche. Die Frage lautete wie folgt: „Würden Sie sagen, man kann seine Meinung in der Öffentlichkeit frei äußern oder muss man bei einigen oder vielen Themen vorsichtig sein?“ Danach wurde dieselbe Frage zur Meinungsäußerung im Freundeskreis gestellt.

Das Ergebnis ist mehr als erschreckend. Es ist alarmierend, weil es zeigt, wie weit das Grundgesetz bereits ausgehebelt ist. Denn: Nur noch in etwa jeder sechste Deutsche (17 bis 18 Prozent) fühlt sich im Internet bzw. in der Öffentlichkeit frei, die eigene Meinung zu äußern. Als Tabuthemen gelten die Themen Flüchtlinge und Islam. Zudem kritisieren 41 Prozent, dass es mit der Political Correctness (PC) übertrieben werde. 35 Prozent ziehen für sich sogar den Schluss, dass freie Meinungsäußerung nur noch im privaten Kreis möglich sei.

Erschreckend auch: Nur 59 Prozent meinten, sie könnten sich unter Freunden frei äußern. Das heißt doch nichts anderes, als dass rund 40 Prozent sich nicht einmal mehr dies trauen. Das ist ein klarer Beweis dafür, dass so manche Politik der letzten Jahre (siehe Herbst 2015) nicht nur das Land, sondern auch Freundes- und Bekanntenkreise sowie Familien gespalten hat.

Zwei Drittel der Bevölkerung fühlen sich zudem durch die Sprachdiktate der „political correctness“ eingeschränkt, dass zum Beispiel statt von Ausländern umständlich von Menschen mit Migrationshintergrund gesprochen werden soll. Verständnislos reagieren die Bürger auf „politisch korrekte“ Sprachsäuberungen wie etwa darauf, dass Astrid Lindgrens „Negerkönig“ in „Pippi Langstrumpf“ zum „Südseekönig“ werden musste.

Die Beispiele ließen sich auch ohne Allensbach ins Unendliche fortsetzen. So hatte der MDR soeben anlässlich der Jubiläumsfeiern zum Bestehen des Grundgesetzes die Bürger befragt: „Gehört der Islam zu Deutschland?“ Ergebnis: Nur 4,66 Prozent antworteten mit JA, 95,34 Prozent mit NEIN. 15.267 Teilnehmer wurden befragt. Schlagzeilen oder gar politische Reaktionen darauf gab es keine. Siehe MDR auf Youtube.

Anderes Beispiel: Eine große Mehrheit der Bundesbürger ist nicht an amtlich verordneten Sprachmanipulationen mit dem Ziel einer sprachlichen Neutralisierung von Männern und Frauen interessiert; man fühlt sich durch einschlägige Bestrebungen eher belästigt – etwa durch Schreibungen wie BürgerInnen, Bürger*innen, Bürger_innen, Fußgehendenbrücke, Elter 1 / Elter 2 statt Vater/Mutter.

Es ist zumal an einem Tag, an dem das Grundgesetz zu seinem 70jährigen Bestehen gefeiert wird, zutiefst erschütternd, wie einer der wichtigsten Artikel des Grundgesetzes fortschreitend außer Kraft gesetzt wird – nämlich der Artikel 5 (1): „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“

Weit gefehlt! Von freier Äußerung kann nicht mehr die Rede sein, von freier Berichterstattung und von Zensurfreiheit auch nicht mehr. Die Menschen spüren das, sie haben die Schere der Selbstzensur oder den nächsten Blockwart im Kopf. Sie praktizieren „Schweigespirale“ (übrigens ein Begriff bzw. eine Diagnose der „Allensbach“-Begründerin Elisabeth Noelle-Neumann). „Wir sind ein Volk von Flüsterern geworden“, sagte man in der DDR.

All das erinnert an Orwells „big-brother“-Regime. Die dort vorkommenden Figuren müssen stets ein „Zwiedenken“ praktizieren: Sie sehen die Realität und müssen das Gegenteil glauben. Sie werden manipuliert durch ein stets aktualisiertes Wörterbuch der „Neusprache“. An diesem Verzeichnis bastelt der Sprachwissenschaftler Syme. Er sagt zur Hauptfigur des Romans, zu Winston Smith: „Wir geben der Neusprache ihren letzten Schliff … Wir merzen jeden Tag Worte aus … Siehst du denn nicht, dass die Neusprache kein anderes Ziel hat, als die Reichweite der Gedanken zu verkürzen? … Es ist lediglich eine Frage der Wirklichkeitskontrolle. … Die Revolution ist vollzogen, wenn die Sprache geschaffen ist … Es wird überhaupt kein Denken mehr geben … Strenggläubigkeit bedeutet: …. nicht mehr zu denken brauchen.“ Oder siehe den Leitspruch: „Unwissenheit ist Stärke.“ Stärke der Regierenden! Einmal wird Winston Smith, am allgegenwärtigen „big-brother-Televisors“ stehend, beschrieben: „Er hatte die ruhige optimistische Miene aufgesetzt, die zur Schau zu tragen ratsam war.“ „PC“-Mimik sogar!

Folge ist dort – aber auch hier und heute: Wer nicht politisch korrekt denkt und spricht, wer im Orwellschen Sinn ein „Gedankenverbrecher“ ist, wird zur Zielscheibe der „Gedankenpolizei“, er wird der „Herrschaft des Verdachts“ (Hegel), vor allem des Faschismusverdachts unterstellt, oder er wird im Sinne des „big brother“ „vaporisiert“, verdampft, das heißt, er findet in der Meinungsbildung nicht mehr statt.

Die Parallelen zwischen düsterer Orwellscher Dystopie und Gegenwart springen ins Auge. Auch deshalb, weil große Teile der Presse versagen, nicht weil sie einer Zensur unterworfen wären, sondern weil sie selbst zu Zensoren geworden sind. Vielen Medienschaffenden geht es um die Normierung, Kanonisierung, Monopolisierung der Moral. Bewusstseins- und Moral-Industrie könnte man es auch nennen oder gar Kulturmarxismus. In der DDR gab es Sanktionen, wenn man keinen festen Klassenstandpunkt, also kein bedingungsloses Vertrauen in die Richtigkeit der SED-Politik hatte. Heute ist man „dran“, wenn man keinen „PC“-Standpunkt hat.


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