Tichys Einblick
Schadensersatz wg. Corona-Einschränkungen

„Das wird eine juristische Schlacht“

Der Staatsrechtler Ulrich Vosgerau erklärt, ob Bürger den Staat auf Schadensersatz wegen der Corona-Maßnahmen verklagen können. Für den Verlauf der Verfahren wagt er eine Prognose.

imago images / Metodi Popow

TE: Herr Vosgerau, Sie beschäftigen sich als habilitierter Staatsrechtler vor allem mit Polizeirecht, das jetzt für die Umsetzung der aktuellen Corona-Maßnahmen – Stichwort Shutdown – eine große Rolle spielt. Wer haftet für die Vermögensschäden, die aus dem verordneten Wirtschaftsstillstand folgen?

Ulrich Vosgerau: Dem herkömmlichen Polizeirecht können wir grundsätzliche Regelungen für diese Fälle entnehmen. Ich werde in diesen Tagen öfters gefragt, ob nicht Bürger am Ende vielleicht Schadensersatz verlangen können, falls manche der Corona-Bekämpfungsmaßnahmen sich am Ende als rechtswidrig, weil vielleicht übermäßig, herausstellen sollten. Abe es kommt gar nicht entscheidend darauf an, ob die betreffende Maßnahme rechtmäßig oder rechtswidrig war. Es gilt im Polizeirecht der Länder der Grundsatz, dass ein Bürger, der polizeirechtlich in Anspruch genommen wird und dadurch einen Schaden erleidet, Anspruch auf Schadenersatz gegen den Staat geltend machen kann, wenn er nicht selbst Ursache der Störung ist.

Ist das eine Regelung aus neuerer Zeit?

Nein, dieser Rechtsgrundsatz ist in Deutschland sehr alt. Wir finden ihn schon in den Paragrafen 74 und 75 der Einführung zum Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 als den so genannten Aufopferungsgedanken: Einem Bürger, der aufgrund einer staatlichen Maßnahme im besonderen Maße eine Vermögenseinbuße erleidet – also stärker als andere –, wer beispielsweise gezwungen ist, sein Eigentum aufzugeben, oder es jedenfalls nicht mehr bestimmungsgemäß wirtschaftlich nutzen kann, der ist berechtigt, Schadenersatz zu verlangen.

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Dieser Grundsatz ist heute im Polizeirecht der Bundesländer festgehalten, in Nordrhein-Westfalen beispielsweise in Paragraf 67 Polizeigesetz in Verbindung mit Paragraf 39 Abs. 1 a und Paragraf 19 Ordnungsbehördengesetz, im bayerischen Polizeiaufgabengesetz in Artikel 87 Absatz 1 in Verbindung mit Artikel 10 Absatz 1, im Polizeigesetz von Baden-Württemberg in Paragraf 55 Absatz 1 und Paragraf 9 Absatz 1 – um nur einige zu nennen. In allen Polizeigesetzen der Bundesländer ist der Sachverhalt fast wortgleich geregelt, weil er im wesentlichen eben Ansprüche festgehalten werden, die seit dem aufgeklärten Absolutismus in Preußen gewohnheitsrechtlich anerkannt sind. Heute gehen sie grundrechtsdogmatisch in Artikel 14 des Grundgesetzes auf, also der Eigentumsgarantie.

Der Staat könnte argumentieren: ein Gastwirt, dem wegen Corona die Schließung verordnet wurde, wird ja nicht enteignet – er behält sein Lokal ja, und verliert nur seinen Umsatz.

Es findet in der Tat keine formale Enteignung statt. Aber ein Gastronom, der nicht öffnen darf, wird daran gehindert, sein Eigentum seiner Zweckbestimmung nach zu nutzen. Zwar fällt das „Vermögen als solches“ nicht unter den Eigentumsbegriff des Grundgesetzes. Deswegen werden beispielsweise herkömmliche Zahlungspflichten, auch die Steuerpflicht im Allgemeinen nicht an der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes gemessen. Aber zugleich gilt jedes konkrete vermögenswerte Recht, beispielsweise das Nutzungsrecht, im Prinzip auch als eigentumsfähig. Und deswegen ist der Schadensersatz keineswegs auf die formelle Enteigung beschränkt. Staatsrechtler unterscheiden zwischen einem enteignenden und einem enteignungsgleichen Eingriff. Der erste bezeichnet den Rechtsverlust durch eine legale, der zweite den Rechtsverlust durch eine Maßnahme, die sich im Nachhinein sich als rechtswidrig herausstellt. Aber für die konkrete Schadensbestimmung spielt das keine Rolle.

Die Corona-Maßnahmen können also, auch wenn sie sich am Ende als rechtmäßig erweisen, in vielen Fällen als „enteignende Eingriffe“ bewertet werden?

Die Einzelheiten sind wie immer strittig. Aber dabei geht es eher um die Terminologie, weniger um den Schadensersatzanspruch an sich. Das heißt, die genaue Definition mancher Rechtsbegriffe ist in der Literatur uneinheitlich, ohne dass dies aber am Ergebnis viel ändert.

Wir wollen es trotzdem wissen: worin besteht die Uneinigkeit?

Manche Verfassungs- und Polizeirechtler sagen: der in den Polizeigesetzen geregelte „Ersatzanspruch des Nichtstörers“ ist nichts anderes als der enteignende Eingriff, nur eben einfachgesetzlich ausgedrückt, und diese Rechtsfigur ist wiederum nichts anderes als der preußische Aufopferungsanspruch. Andere sagen: so einfach ist es nicht! Denn von einem enteignenden Eingriff könne nur die Rede sein bei einem Vermögensschaden, der auf einer vom Gesetzgeber nicht vorhergesehenen, atypischen Folge der Anwendung eines eigentlich nicht auf Enteignung hinauslaufenden Gesetzes beruht. Das wäre bei den heutigen Corona-Verordnungen wohl nicht der Fall. Sie sollen ja gerade eine Schließung von Geschäften und Lokalen bewirken, der dadurch bewirkte Umsatzverlust ist alles andere als atypisch und nicht vorhersehbar. Aber das heißt nicht, dass die Gewerbetreibenden nun leer ausgehen. Ist es – rein terminologisch – kein enteignender Eingriff, dann ist es eben das, was Juristen eine „ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbstimmung“ nennen.

Das müssen Sie uns erklären.

Das Eigentumsrecht unterscheidet sich von den anderen Grundrechten. Die anderen Grundrechte knüpfen jeweils an etwas an, das von Natur aus da ist, die Meinungsfreiheit etwa an die Existenz von Meinungen. Das Eigentumsrecht ist ein normgeprägtes Grundrecht, es bezieht sich also auf etwas, was durch Gesetze als Eigentum anerkannt ist. Nicht nur die Schranken, sondern auch bereits der Inhalt der Eigentumsgarantie wird durch einfache Gesetze geprägt. Aber es darf eben wie auch andere Grundrechte nicht übermäßig eingeschränkt werden. Daher existieren so genannte ausgleichspflichtige Inhalts- und Schrankenbestimmungen: der Gesetzgeber darf die Nutzung des Eigentums durch Gesetze zwar einschränken, ist aber dann jedenfalls in sich ergebenden Härtefällen schadensersatzpflichtig.

Der Schadenersatz, den jemand wegen der Corona-Maßnahmen verlangen könnte, wäre also so etwas Ähnliches wie die Ausgleichszahlungen, die ein Viehzüchter bekommt, wenn er seinen Bestand wegen einer Tierseuche keulen muss?

Genau! Der Viehzüchter hat die Gefahr nicht verursacht. Im Interesse der Allgemeinheit wird sein Eigentum aufgeopfert, und er hat das Recht, dafür entschädigt zu werden.

Grundsätzlich gibt es zwei Ausnahmen von der öffentlichen Entschädigungspflicht: Sie gilt nicht, wenn jemand von einem anderen Schadensersatz verlangen kann. Also wenn es irgendwo eine Privatperson gibt, die ursprünglich für den Schaden verantwortlich ist. Und auch nicht, wenn eine Maßnahme dem Eigenschutz dient. Typischer Fall: die Feuerwehr muss den Zaun umfahren, um auf ein Grundstück mit einem brennenden Haus zu gelangen. Für diejenigen, die als Unternehmer oder Selbständige einen Schaden durch die Corona-Maßnahmen erlitten haben, trifft aber keine dieser Ausnahmen zu. Ein Ladenbesitzer oder Gastronom, der schließen muss, hat das Virus nicht verursacht. Er kann auch niemand anderes dafür haftbar machen. Und die staatlichen Maßnahmen dienen auch nicht dazu, einen konkreten größeren Schaden von ihm fernzuhalten.

Gegen wen müsste jemand klagen, der Schadenersatz will?

Die Klage müsste sich nach dem Rechtsträgerprinzip gegen das jeweilige Bundesland richten, denn die Länder haben die Einschränkungsmaßnahmen veranlasst.

Bei zehntausenden Betroffenen würde eine gewaltige Klagewelle geben.

Das wird passieren – und es wird eine juristische Schlacht werden.

Wie könnte der Staat argumentieren, um die Forderungen zu begrenzen?

Es hat in der Vergangenheit Urteile des Bundesverfassungsgerichts gegeben, die sich viele jetzt im Licht der Corona-Problematik ansehen werden. Zum einen gab es in den achtziger Jahren eine Entscheidung zum Waldsterben. Damals hatten Waldbesitzer gegen die Bundesrepublik geklagt, um Schadensersatz wegen der Schädigung ihrer Wälder zu erlangen. Das Bundesverfassungsgericht wies die Klage damals ab mit der Begründung, die Ursachen für den sauren Regen seien nicht national verursacht, sondern teilweise weit jenseits der deutschen Grenzen entstanden. Die Bundesrepublik könne zwar einzelne Maßnahmen ergreifen, sei aber nicht in der Lage, die Waldschädigung generell abzustellen. Es könnte also das Argument vorgebracht werden, auch das Corona-Virus sei weit entfernt von Deutschland aufgetreten, und es handle sich um ein internationales Problem – was sicherlich zutrifft. Allerdings geht es heute anders als damals nicht um die Letztverantwortung für ein bestimmtes Risiko, sondern um konkrete Vermögensschäden durch gravierende Maßnahmen, mit denen der Staat auf ein Problem reagiert hat.

Zum anderen hatte das Verfassungsgericht 1981 in dem so genannten Nassauskiesungsbeschluss https://de.wikipedia.org/wiki/Nassauskiesungsbeschluss
geurteilt, dass jemand, der von staatlichen Maßnahmen in seinem Eigentum betroffen wird, nicht dem frühen Grundsatz ‚dulde und liquidiere’ folgen kann, sondern zunächst vor dem Verwaltungsgericht unmittelbar gegen die Maßnahmen selbst klagen muss, wenn er sie für übermäßig hält. Es erscheint allerdings hier fraglich, ob man den damals in dem Urteil formulierten „Vorrang des primären Rechtsschutzes“ hier wirklich allen entgegenhalten kann, die einen Schaden erleidenden, aber nicht schon unmittelbar gegen die Corona-Maßnahmen selbst vor Gericht gezogen sind.

Warum?

Fast niemand hätte eine realistische Aussicht gehabt, im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes beispielsweise zu erzwingen, dass er seine Gaststätte sofort wieder öffnen darf.

Was raten Sie konkret demjenigen, der jetzt Schadenersatz erstreiten will?

Es gibt zwei Wege. Zum einen kann jemand eine Aufstellung seines Vermögensschadens anfertigen, und bei seinem Bundesland unter Berufung auf gleichlautendes Polizeirecht und Artikel 14 Grundgesetz einen Antrag auf Schadensersatz stellen, um dann, da der wahrscheinlich abgewiesen wird, vor dem Landgericht auf Schadensersatz zu klagen. Es ist auch möglich, vor dem Verwaltungsgericht auf die Feststellung einer grundsätzlichen staatlichen Schadensersatzpflicht zu klagen. Das empfiehlt sich für alle, die schon wissen, dass sie einen Schaden erleiden, seine Höhe aber noch nicht beziffern können.

Ein Gericht hat übrigens die Möglichkeit, von sich aus eine Normenkontrolle durch das Bundesverfassungsgericht anzuregen, wenn es ein Gesetz für verfassungswidrig hält. Die Corona-Verordnungen der Bundesländer können in fast allen Bundesländern gemäß Paragraf 47 Verwaltungsgerichtsordnung angegriffen werden – etwa mit dem Argument, sie seien übermäßig, solange sie keinerlei Schadensersatz vorsehen.

Wenn Tausende ihren Corona-Schaden einklagen – und bei vielen sind die Vermögensschäden ja erheblich – würde das nicht die finanzielle Leistungskraft des Staates überfordern? Der Staat verfügt ja sowieso nicht über eigenes Geld, sondern nur über die Steuern der Bürger.

Der Staat wird deshalb wohl versuchen müssen, einen Schnitt zu machen, wahrscheinlich durch eine Art Corona-Bereinigungsgesetz von Bund und Ländern. Er könnte wahrscheinlich nicht sagen: niemand bekommt irgendetwas – denn das wäre wahrscheinlich nicht verfassungskonform – sondern: ja, es gibt eine Ersatzpflicht, aber sie wird gedeckelt. Das würde dann auf pauschale Zahlungen bis zu einem Höchstbetrag hinauslaufen, die sich nicht an der konkreten Schadenshöhe orientieren.

Wie lange werden die juristischen Auseinandersetzungen dauern?

Das lässt sich kaum abschätzen. Jedenfalls wird am Ende das Bundesverfassungsgericht entscheiden.


Ulrich Vosgerau, geboren 1974, ist habilitierter Staatsrechtslehrer und Rechtsanwalt in Berlin. Der Jurist besitzt die Lehrbefugnis für die Fächer Öffentliches Recht, Völker- und Europarecht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosophie. Lehrstuhlvertretungen an der LMU München, der Leibniz Universität Hannover, der Universität Passau und der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg.
Vosgerau trat mit mehreren Gutachten in die Öffentlichkeit, unter anderem zur Migration und zur Seenotrettung.

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