Tichys Einblick
Die Fallzahlen im Vergleich

Corona-Update zum Morgen des 1. April: Flacht die Kurve ab?

In den Corona Hotspots der Republik verlangsamt sich die Ausbreitung des Virus. China schließt seine Grenzen für Ausländer - man fürchtet eine zweite Erkrankungswelle. Ein Strategiepapier des Bundesinnenministeriums zeichnet ein düsteres Bild für die Wirtschaft und warnt vor den Folgen der Pandemie.

Getty Images
Sehr geehrte Leser, ab heute wird das tägliche Morgen-Update neu gegliedert. Es besteht nun aus drei Teilen:

Erstens die aktuellen Fallzahlen und ihre Entwicklung gemäß der Länderdaten. Dies ermöglicht die Beurteilung, ob die von Ländern und Bund vorangetriebene Gesundheitspolitik ihr Ziel erreicht.

Zweitens: Eine Auswahl an Nachrichten über die Folgen der Pandemie und aktuelle Entwicklungen.

Drittens aktuelle und kritische Hintergrund-Informationen zum Themenbereich Corona aus unterschiedlichen Perspektiven.

Die Fallzahlen

Im Ländervergleich flacht Hamburg weiter ab, doch dafür steigt die Fallzahl im Saarland besorgniserregend an. Ein offensichtlicher Grund dafür liegt nicht auf der Hand, denn gestern war Dienstag, daher ist es unwahrscheinlich, dass der Anstieg nur ein Aufholen eines Meldestaus vom Sonntag ist.

In Deutschland sind laut Länderinformationen nun 66.757 Corona-Fälle registriert (Stand 31. März, 19:30). Die Johns Hopkins Universität meldet 68.180 Fälle (Stand: 31. März, 22:00). Gestern waren es 62.255, beziehungsweise 66.125 Fälle.

Damit sind nun 80,1 Personen pro hunderttausend Einwohner als erkrankt gemeldet, gestern waren es 74,7. Die Zahl der mit Corona Verstorbenen stieg von 553 oder 0,89% der als infiziert Gemeldeten auf 696 oder 1,04% der als infiziert Gemeldeten an. Allerdings muss beachtet werden: Da die Testkapazitäten nicht ausreichen, um alle zu testen, die Corona haben könnten, sondern solche mit ausgeprägten Symptomen, ist die Zahl der Verstorbenen in Relation zu den Gemeldeten höher als sie wäre, wenn es nicht eine hohe Dunkelziffer in der Bevölkerung gäbe.

Nichtsdestotrotz sinkt die Rate der prozentualen Neuinfizierungen in den drei Corona „Hotspots“ Hamburg, Baden-Württemberg und Bayern schon seit zwei Wochen kontinuierlich – obwohl die Menge an durchgeführten Tests eher zunimmt. Die Zahl der Infizierten steigt weiter, doch die Geschwindigkeit, mit der sich das Virus ausbreitet, sinkt. Das lässt hoffen, dass die Pandemie in einigen Wochen unter Kontrolle gebracht werden kann. Der Anstieg vom 23. März erklärt sich damit, dass dieser Tag ein Montag war und am vorausgehenden Wochenende manch eine Neumeldung von den örtlichen Behörden verschleppt wurde. Am vergangenen Wochenende scheint es hingegen – wenigstens in diesen drei Ländern – nicht zu nennenswerten Meldeverschleppungen gekommen zu sein.

Trotzdem darf man sich nicht zu früh freuen: Ein Virus, das man für eingedämmt hielt, kann sich blitzschnell wieder ausbreiten, wenn man nicht vorsichtig ist.

Folgephänomene

In Spanien starben am vergangenen Tag 849 Corona-Patienten innerhalb von 24 Stunden. In Madrid musste eine behelfsmäßige Leichenhalle eingerichtet werden, nachdem selbst in einer schon vorher umfunktionierten Eissporthalle kein Platz mehr verfügbar war. In Spanien sind laut Johns Hopkins Universität fast 95.000 Menschen mit Corona infiziert und 8.269 gemeldete Corona-Patienten verstorben.

Die Volksrepublik China fürchtet ein neues Aufflammen der Corona Pandemie und verbietet Ausländern nun die Einreise. Auch wurden viele internationale Flüge gestrichen. Als Argument wird die Angst vor einer zweiten Welle, auslöst durch internationale Reisende, genannt.

Offiziell meldet China, dass es nur zu sehr wenigen Neuinfektionen gekommen ist. Schon seit einigen Tagen gibt es jedoch Zweifel an dieser Darstellung der chinesischen Regierung. Ihr wird unterstellt, Propaganda zu betreiben und das Wirtschaftswachstum nicht gefährden zu wollen.

470.000 Unternehmen in Deutschland haben Kurzarbeit angemeldet. Das sind 20 mal so viele wie während der Finanzkrise.

Das politische Leben in Deutschland geht unbeirrt weiter. Die Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz, Julia Klöckner, hat angekündigt, heute die Ergebnisse ihrer Innovations- und Reduktions-Strategie für weniger Zucker, Fette und Salz in Fertigprodukten vorzustellen.

Hintergründe zu Corona

In den vergangenen Tagen berichteten verschiedene Medien bruchstückhaft von einem Strategiepapier des Innenministeriums. Dieses Dokument liegt TE vor, wir zitieren daraus wesentliche Passagen.

In dem Dokument wird ein sogenannter „Worst Case“ formuliert, bei dem schon bald 70% der Bevölkerung mit dem SARS-CoV-2 Virus infiziert wären. Dabei würden dann 80% der Intensivpflege-Fälle von den Krankenhäusern abgelehnt werden müssen – aus Mangel an Kapazitäten. Der Bedarf werde bis zum 15. Mai 350.000 Intensivpflegeplätze übersteigen, die Kapazität jedoch nur auf 24.000 Plätze gesteigert werden können (von aktuell gut 14.000 Plätzen). Folge: Es stürben fast 1,2 Millionen Menschen in Deutschland.

Um das Strategiepapier zu zitieren: „Die Vermeidung dieses Worst Case hat deswegen oberste strategische Priorität“

Um eben diesen Worst Case zu verhindern, seien primär drei Dinge nötig:

1) Kommunikation: Die Folgen des Worst Case sollen allen bewusst gemacht werden. Amtlich verbreiteter Schrecken soll zu Kontaktsperren über einen längeren Zeitraum motivieren.

2) Geschlossenheit: Politik und Gesellschaft müssten gemeinsam und geschlossen gegen das Virus vorgehen.

3) Nachvollziehbarkeit: Den Bürgern müsse klar ersichtlich sein, warum bestimmte Maßnahmen getroffen werden. Es gehe auch darum, dass der Staat als aktiver Krisenmanager wahrgenommen werde, um die Akzeptanz der Maßnahmen in der Bevölkerung zu erhalten.

Mit Blick auf Jens-„Wir sind gut vorbereitet“-Spahns bisheriges Agieren kann einem da schon Angst und Bange werden.

Interessant ist auch, mit welchen Eckdaten die Modellierungen der Pandemie vorgenommen werden. Auf Grund der kaum schätzbaren Dunkelziffer Infizierter in Deutschland und Italien sind die Zahlen aus diesen Ländern nur bedingt aussagekräftig. Daher werden für die Sterblichkeitsrate Zahlen aus Südkorea herangezogen. In dem Papier steht dazu:

„Dort wurden mit minimalen Ausgangsbeschränkungen, vor allem durch effizientes Testen und Isolieren, die verschiedenen Ausbrüche erfolgreich unter Kontrolle gebracht. Bei einer erheblichen Dunkelziffer von nicht gefundenen Fällen wäre dies nicht möglich gewesen. Es erging nie ein Aufruf zur Selbstisolierung bei milden Symptomen, der in der Grippesaison und bei einem Virus, das sehr lange ansteckend ist, auch nicht viel gebracht hätte. Auch wurden dort durch die systematische Kontaktsuche sehr viele Personen getestet, die überhaupt keine Symptome hatten. Daher ist in Südkorea mit einer sehr kleinen Dunkelziffer zu rechnen. Die Fallsterblichkeitsraten pro Altersgruppe können daher als gute Referenz betrachtet werden, die noch leicht hinaufzusetzen sind, da noch regelmäßig Todesfälle gemeldet werden, obwohl wenige neue Fälle hinzukommen. Diese Zahlen sind außerdem mit den Zahlen aus China außerhalb Hubei kohärent, wo noch viel intensiver getestet wurde. Für die Verteilung der Fälle auf die verschiedenen Altersgruppen und die Alterspyramide in Südkorea erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von momentan 1,1%. Angepasst an die Altersstruktur für Europa erhält man eine mittlere Fallsterblichkeitsrate von 1,8% bei bester Krankenhausversorgung.“

Diese Fallsterblichkeitsrate von 1,8% ist allerdings nur gegeben, solange die medizinische Versorgung aufrecht erhalten werden kann. Sollte es zu einer Rationierung der medizinischen Versorgung kommen, steigt die Fallsterblichkeitsrate auf 2%.

Das ist, als würde man 100 Infizierte in einer Reihe aufstellen und zwei von ihnen sterben.

Das RKI geht laut dem Papier des Bundesinnenministerium (BMI) in seinen Berechnungen derzeit von einer Fallsterblichkeit von 0,56% aus.

Auch einen Blick auf die ökonomischen Konsequenzen der Pandemie scheut das Strategiepapier nicht:

»Sollten die hier vorgeschlagenen Maßnahmen zur Eindämmung und Kontrolle der Covid-19-Epidemie nicht greifen, könnten im Sinne einer „Kernschmelze“ das gesamte System in Frage gestellt werden. Es droht, dass dies die Gemeinschaft in einen völlig anderen Grundzustand bis hin zur Anarchie verändert. Dementsprechend wäre es naiv, davon auszugehen, dass ein Rückgang des BIP um eine zweistellige Prozentzahl, etwa jenseits der 20%, eine lineare Fortschreibung der Verluste aus dem Fehlen einiger Arbeitstage bedeuten und ansonsten das Gesamtsystem nicht in Frage stellen würde. Aus diesem Grund ist die – alle anderen Überlegungen dominierende – Strategie der Eindämmung mit Vorkehrungen zu verbinden, um die ökonomischen Konsequenzen so gering wie möglich zu halten.«

Diese fast verschämte Formulierung des „in Frage Stellen des Gesamtsystems“ legt beängstigende geschichtliche Parallelen nahe. Es waren stets Krankheit, wirtschaftliche Not und gesellschaftlicher Zusammenbruch, die die Menschen den Extremen aller Couleur in die Arme trieben.

Zum Zweck des Verhinderns einer solchen Situation wird sowohl vor zu zaghaften Maßnahmen zum Beginn der Pandemie, als auch zu frühen Lockerungen nach ersten Besserungsanzeichen gewarnt. Die einzig gangbare Strategie wird wie folgt beschrieben:

„Sie [die Strategie] erfordert (i) die schnellstmöglich umgesetzte, strikte Unterdrückung der Neuansteckungen, bis die Reproduktionsrate in der Nähe von 1 ist, und (ii) schließt ein umfassendes und konsequentes System des individuellen Testens und Isolierens der identifizierten Fälle an.“

Man möchte fast sagen, dass im Idealfall auf eine Korea-Situation hingearbeitet wird: Mit den aktuellen Einschränkungen des öffentlichen Lebens soll das Virus eingedämmt werden, bis es isoliert werden kann und Infizierte unter Quarantäne gestellt werden können. Man geht von einem (optimistischen) Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 4% aus, die Industrie geht um 7% zurück. Zum Vergleich, während der Weltwirtschaftskrise 2009 gingen das BIP um 9% und die Wertschöpfung der Industrie um 14% zurück. Dieses Szenario wird passend als „Schnelle Kontrolle“ betitelt.

Im schlimmsten Wirtschafts-Szenario, „Abgrund“ genannt, gelingt ein Eindämmen der Pandemie nicht, die Ausgangsbegrenzungen werden bis auf das Jahresende verlängert. Das BIP bricht um 32% ein, die Industrie um 47%. Die sozialen und gesellschaftlichen Konsequenzen sind dementsprechend katastrophal.

Zwischen diesen beiden Extremen liegen noch zwei Szenarien, die „Rückkehr der Krise“, bei der die Corona-Pandemie in einer zweiten Welle zurück kommt und „langes Leiden“, bei dem ein Eindämmen der Pandemie nicht gelingt und Ausgangsbeschränkungen bis Mitte Juli nötig sind.