Tichys Einblick
Lohnabstand sinkt, Pull-Faktor steigt

Bürgergeld: Der Kompromiss ändert nichts an den zentralen Schwächen

Frühere Sanktionsmöglichkeiten, weniger Schonvermögen: Die Zugeständnisse an die Union machen das „Bürgergeld“ nur wenig bürgerlicher. Die zentralen Schwachstellen des Sozialstaats – Anreize zur Nicht- oder Schwarz-Arbeit und die Attraktivität Deutschlands für Asylbewerber – wurden von der Union gar nicht thematisiert.

Symbolbild

IMAGO / Wolfgang Maria Weber
Der von Union und Ampelkoalition laut Agenturmeldungen ausgehandelte Kompromiss beim „Bürgergeld“ betrifft vor allem zwei Regelungen:  

Die Sanktionsmöglichkeiten gegen unkooperative Leistungsbezieher werden nun doch nicht ganz so stark geschleift, wie die Ampel in ihrem Gesetzentwurf vorhatte. Sanktionen sollen nun doch vom ersten Tag des Bezugs an ausgesprochen werden können. Die sogenannte „Vertrauenszeit“ entfällt – sehr zum Missfallen des Sozialverbands Deutschland (SoVD): „Mit der Streichung der Vertrauenszeit wurde der Reform das Herzstück genommen“, sagte dessen Chefin Michaela Engelmeier der Neuen Osnabrücker Zeitung. Die „Karenzzeit“, in der Wohnungskosten ohne zusätzliche Prüfung übernommen werden, wird laut Kompromiss auf ein Jahr verkürzt. 

Das sogenannte Schonvermögen, das Leistungsbezieher nicht für ihren Lebensunterhalt verwenden müssen, wird von geplant 60.000 auf 40.000 Euro herabgesetzt. Für jede weitere Person im Haushalt kommen 15.000 Euro hinzu. 

Lohnabstand sinkt, Pull-Faktor steigt
Die von der Union nun der Ampel abgerungenen Einschränkungen ändern jedoch wenig bis nichts an zwei fatalen Auswirkungen des Bürgergeldes, deren Verhinderung in einer vernünftigen, stabilitätsorientierten Sozialstaatsreform, die das Prädikat „Bürger-“ verdient hätte, eigentlich Priorität haben müssten. Das eine ist die Missachtung des Lohnabstandsgebotes: Durch die großzügigen Regelungen lohnt es sich für immer mehr Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor nicht mehr, einer sozialversicherungspflichten Beschäftigung nachzugehen. 

Der Mehrverdienst für eine Vollzeitarbeit gegenüber dem mühelosen Bürgergeldbezug beträgt also je nach Familienstand nur 478 bis 821 Euro im Monat. Man muss sich also verdeutlichen, dass bei Bürgergeldbezug schon eine Woche Schwarzarbeit pro Monat genügen kann, um in der Summe mindestens den gleichen Betrag zu erhalten wie durch eine Vollzeittätigkeit. Ein Bürgergeld-Bezieher, der das Vertrauen und die Zugewandtheit des Sozialstaates, von der jetzt so viel die Rede ist, mit gleichzeitiger Schwarzarbeit kombiniert, kann der 25-Stunden-Woche, die die SPD nun offiziell fordert, schon recht nahe kommen. 

Der zweite fatale Effekt, von dem weder im Vermittlungsausschuss noch in der öffentlichen Debatte oft die Rede ist: Das Bürgergeld wird auch die Attraktivität Deutschlands für Asyl-Zuwanderer weiter heben. Selbst im Vergleich zu benachbarten Sozialstaaten wie Frankreich ist die Versorgung für Asylbewerber auch bei Ablehnung nicht wesentlich schlechter als für Inländer. Angesichts der wieder extrem gestiegenen Zuwanderungszahlen wäre jetzt die Gelegenheit gewesen, mit der Sozialpolitik den entscheidenden Hebel für die Asylpolitik anzusetzen. Die Chance haben die Bundesregierung und die unionsgeführten Länder willentlich oder aus Gleichgültigkeit vertan. 

Beide Schwächen legen jedenfalls den Verdacht nahe, dass den Machern des Bürgergelds an dem eigentlichen Ziel jeder vernünftigen und stabilitätsorientierten Sozialpolitik, nämlich dass der Sozialstaat so eingerichtet sein sollte, dass er möglichst wenig in Anspruch genommen wird, gar nicht gelegen ist. Vielmehr scheint dahinter die Motivation erkennbar zu sein, die Zahl der Empfänger staatlicher Alimentation möglichst zu vergrößern.

Wenn der Vermittlungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat den Kompromiss am Mittwoch annimmt, könnte der Beschluss durch Bundestag und Bundesrat bereits am Freitag erfolgen. Das Bürgergeldgesetz soll im Kern ab dem 1. Januar 2023 gelten.

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