Tichys Einblick
Nach dem Mord von Illerkirchberg

Deutsche Politik meidet die Diskussion über die heikle Migrationslage

Die internationale Presse berichtet breit von der Bluttat von Illerkirchberg. In Deutschland blüht die Meta-Debatte: Wie viel darf man zu solchen Geschehnissen öffentlich empfinden, denken und sagen? Der Mord an der 14-jährigen Ece S. ist leider nicht der einzige seiner Art.

IMAGO / Wolfgang Maria Weber

Noch immer ist unklar, wie es zu der Bluttat von Illerkirchberg, zwölf Kilometer südlich von Ulm gelegen, kam. Am Montag früh gegen 7.30 Uhr meldeten Zeugen der Polizei, dass in Oberkirchberg, dem kleineren von zwei Dörfern der Gemeinde, zwei Mädchen angegriffen und verletzt worden seien. Die beiden waren auf dem Weg zur Schule. Die 14-jährige Ece Sarigül wird so schwer verletzt, dass sie trotz intensivmedizinischer Behandlung im Universitätsklinikum Ulm verblutete.

Bald war klar, dass der Täter aus der örtlichen Unterkunft für Asylbewerber gekommen war und sich laut Bericht wieder dorthin „geflüchtet“ hatte. Die Polizei umstellte laut Bild-Zeitung das Gebäude. Ein Spezialeinsatzkommando stürmte die Unterkunft und nahm zunächst drei Eritreer fest. Einer von ihnen ist der 27-jährige Verdächtige, bei dem man ein Messer findet. Er soll sich selbst verletzt haben, und so wird auch der mutmaßliche Täter in eine Klinik gebracht, wird Berichten zufolge stundenlang operiert.

Doppelstandards
Gute Instrumentalisierung, böse Instrumentalisierung
Später ergeht Haftbefehl gegen den Mann, wie die Polizei am Dienstag mitteilte. Der Eritreer befinde sich derzeit in Untersuchungshaft, das heißt, er liegt unter Bewachung weiterhin in der Klinik, wo er – wieder laut Polizei – keine Angaben zur Tat machte. Inzwischen hat sich die ebenfalls schwer verletzte 13-jährige Nerea M., die aber außer Lebensgefahr ist, geäußert. Der Täter soll zunächst auf die Mädchen eingeschlagen haben, danach zog er das Messer und stach auf die beiden Minderjährigen ein.

Aber auch dieser Ablauf klärt nicht die Frage nach der Ursache oder Genese der Bluttat. Laut Polizei lebt der Eritreer schon seit 2016 in Deutschland. Er besitzt laut Presseberichten eine Aufenthaltserlaubnis und genießt in Deutschland subsidiären Schutz, ist also weder Flüchtling noch asylberechtigt. Die Behörden wurden aber davon überzeugt, dass sein Leben bei Rückkehr nach Eritrea bedroht sei. Polizeibekannt soll der Mann nicht gewesen sein, allenfalls wegen Schwarzfahrens. Bislang konnte er nicht eingehend vernommen werden.

Türkischer Botschafter aus Berlin angereist – Polizei: Ereignisse dieser Art schüren Ängste und Emotionen

Das Todesopfer Ece Sarigül ist deutsche Staatsbürgerin, ihre Großeltern waren aus der Türkei eingewandert. Das mag erklären, dass der türkische Botschafter umgehend zum Tatort eilte. Neben ihm kam nur die Staatssekretärin aus dem Familienministerium, Ekin Deligöz, aus Berlin nach Oberkirchberg – wohl weil sie die Familie Sarigül kennt und nicht wg. Regierung. Innenministerin Nancy Faeser teilte ihre Erschütterung durch „die furchtbaren Nachrichten“ und ihre Trauer um das „getötete Mädchen“ per Twitter mit. Die Polizei ermittele „mit Hochdruck alle Hintergründe“. Der türkische Botschafter sprach – auf Türkisch – von einem „sehr traurigen Ereignis“. Daneben sagte er: „Wir sind ohne Worte.“ Eces Tod habe die gesamte türkische Gemeinschaft in Deutschland tief erschüttert. „Wir werden nachhaken, um den Vorfall zu klären.“

Auch Thomas Strobl, Innenminister von Baden-Württemberg, kam zu dem Tatort, an dem Anwohner Kerzen aufgestellt und Blumen hingelegt haben. Strobl drückte zwar seine herzliche Anteilnahme aus, sprach sich aber auch gegen Generalisierungen aus, was er so begründete: „Für eine solche Straftat gibt es keine vorschnellen Erklärungen. Ich möchte noch einmal betonen: Es gibt keinerlei Erkenntnisse über eine politische oder religiöse Motivation dieser Straftat.“ Voreilige Schlüsse seien „fehl am Platze und unangebracht“, lautete der deutliche Verweis Strobls an den unbotmäßigen Reporter. Der hatte zuvor bemerkt, dass Anwohner sehr wohl über Probleme mit der Migrantenunterkunft klagen, die offenbar seit längerem bestehen.

In fast gleicher Diktion appelliert die Polizei nach der Tat, „keinen Generalverdacht gegen Fremde, Schutzsuchende oder Asylbewerber allgemein zu hegen oder solchem Verdacht Vorschub oder Unterstützung zu leisten“. Es sei bewusst, „dass Ereignisse dieser Art Ängste und Emotionen schüren“.

Im September berichtete der SWR, dass im Alb-Donau-Kreis, zu dem auch Illerkirchberg gehört, der Platz für Flüchtlinge und Migranten knapp wurde. Die 1.200 regulären Plätze in Gemeinschaftsunterkünften des Kreises dürften inzwischen sämtlich besetzt sein. In Blaubeuren-Seißen wurden Flüchtlinge in der Fest- und Sporthalle untergebracht, in Blaustein 61 Asylbewerber in Containern untergebracht. Die Lage ist also auch von dieser Seite her angespannt. Hinzu kommt die allgemein berichtete Tatsache, dass ein Asylbewerber seit sechs Jahren in Deutschland ist und noch immer in einer Gemeinschaftsunterkunft lebt.

Die Debatte beenden, bevor sie begonnen hat

Auch Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) warnte umgehend davor, „irgendwelche Zusammenhänge aufzustellen, bevor überhaupt die Tat aufgeklärt ist“. Der grüne Landesvater scheint auf irgendetwas zu hoffen, das von dem bisher Bekannten ablenkt: Dass der mutmaßliche Täter, ein 27-jähriger Eritreer mit vielleicht labiler Psyche seit sechs Jahren in Deutschland lebt, ohne angekommen zu sein.

Für Strobl wiederum steht fest: „Dieses Ereignis darf kein Anlass und keine Rechtfertigung für Hass und Hetze sein.“ Hier greift der Innenminister vor. Denn Hetze und Hass waren in der Reporterfrage nicht deutlich geworden, wohl aber eine kritische Diskussion, die etwa auch der Kreis-Anzeiger aus dem hessischen Wetteraukreis konstatiert, indem er verschiedene Dimensionen des Falls aufblättert: „Der mutmaßliche Mörder stammt aus dem Bürgerkriegsland Eritrea und reiste offenbar über das Asylrecht ein. Dazu gibt es eine deutschlandweite, aber auch eine lokale Debatte.“ Daneben gebe es bereits Debatten über die Themen „Femizid“ und „mit einem Messer verübte Tat“. Das ist wahr, aber an diesem aktuellen Fall wird deutlich, dass man die Debatte schon beenden will, bevor sie überhaupt begonnen hat.

Und noch etwas macht den Fall laut Kreis-Anzeiger speziell: Es ist ein Mord an einem Mädchen mit Migrationshintergrund. Die türkische Gemeinde fordere Aufklärung, aber auch die AfD beteilige sich an der Diskussion um die Tat. Das ist in der Tat so. Die AfD-Vorsitzende Alice Weidel fordert die Einführung „vollumfänglicher Grenzkontrollen“, einen Aufnahmestopp und eine Abschiebeoffensive. Der „fortgesetzte Kontrollverlust in der Migrationspolitik und die wachsende Unsicherheit auf den Straßen“ hängen laut Weidel unmittelbar zusammen. „Statt Heuchelei und wohlfeiler Beschwichtigungen“ seien jetzt entschlossenes Handeln und eine „migrationspolitische Zeitenwende“ nötig. Der ehemalige Fraktionsvorsitzende im Abgeordnetenhaus Georg Pazderski wirft ein kritisches Auge auf die Razzia gegen Reichsbürger vom Mittwoch, die von der Bluttat von Illerkirchberg ablenken könne.

Auch der brandenburgische AfD-Bundestagsabgeordnete René Springer fordert mehr Abschiebungen und spricht von „politischen Ursachen“ hinter dem Mord von Illerkirchberg,

Berichte in der internationalen Presse und die deutsche Meta- und Sachdebatte

Die konservative türkische Tageszeitung Milliyet spricht von einer „intensiven Migrantendebatte“ in Deutschland. Ein Freund der von dem Mord betroffenen Familie, Şahin Bayram, sagte laut Focus: „Es muss etwas getan werden. Es muss sich gekümmert werden. Es kann nicht sein, dass unsere Kinder mit Bodyguards zur Schule geschickt werden, weil sich nicht um die Asylbewerber gekümmert wird.“ Auch die BBC, britische und italienische Zeitungen, der Pariser Figaro sowie die Washington Post berichten von der Bluttat in einer baden-württembergischen Gemeinde von nicht einmal 5.000 Einwohnern. Der italienische Corriere della Sera titelte: „Deutschland, Hinterhalt in der Nähe einer Schule. Eines der beiden niedergestochenen Mädchen starb“.

In Deutschland wird dagegen – zumindest von einigen Kreisen – eher eine Meta-Debatte geführt, also eine Debatte über eine angeblich schädliche Debatte. So schrieb der WDR– und bekannte Haltungsjournalist Georg Restle, dass es sich um „eine Straftat“ handle, die genauso „widerlich wie deren politische Instrumentalisierung“ sei – eine in der Tat fragwürdige Gleichsetzung, wie der Journalist Jan A. Karon schreibt.

Und es sind nicht wenige, die bemerken, dass nun wieder die Opfer-Hierarchie gilt, nach der ausländische Opfer immer mehr wert zu sein scheinen als hier aufgewachsene. So entlarvt sich der Stuttgarter Bundestagsabgeordnete Bernd Riexinger (Linke) selbst, wenn er zuverlässig aus jeder Nachricht einen Anti-AfD-Spin dreht.

Die Kolumnistin Anabel Schunke gab allen Relativierern von links einen Tipp: „Wenn Sie einfach behaupten, dass solche Morde wie in #Illerkirchberg nichts mit der Herkunft der Täter zu tun haben, sondern damit, dass die Täter Männer sind, stellt das im linken Kosmos übrigens keinen Generalverdacht dar.“

Und viele beklagen die abgewürgte Debatte, so auch der Menschenrechts-Aktivist und Ex-Muslim Ali Utlu: „Ihr habt euch an Messermorde bei Erwachsenen gewöhnt. An Kinder, die abgestochen und ermordet werden, werdet ihr euch auch gewöhnen. Oder ihr seid Nazis.“

Andere zählen die Reihe der Taten auf. Erst jetzt wird durch einen Bericht der Bild bekannt, dass schon Ende Oktober eine junge Ukrainerin (†21) im bayerischen Murnau von einem Jordanier (28) erstochen wurde, der in sie verliebt gewesen sein soll. Beide hatten in derselben Flüchtlings- und Migrantenunterkunft gelebt.

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