Tichys Einblick

Anne Spiegels Urlaub, Rücktritt und Verklärung

Erst war die Ministerin in grünen Verlautbarungen eine Hochleistungspolitikerin, dann ein Opfer von Männerfeindlichkeit, mittlerweile steht schon ihr überlebensgroßes Denkmal. Ihr Fall bietet einen einmaligen Einblick in die Kumpanei von Grünen und ihren Medien

Steht es wirklich schlecht um eine grüne Politikerin, dann lässt sich der Stand des Dramas daran erkennen, wie viele Mitpolitiker und alliierte Journalisten ihre Solidarität auf Twitter bekunden. Nach diesem Maßstab war am Wochenende die Warnstufe Dunkelrot für Anne Spiegel erreicht.

Als Umweltministerin von Rheinland-Pfalz hatte sie am 14. Juli 2021, obwohl die Europäische Hochwasserzentrale schon eindringlich vor Fluten an Ahr und Wupper gewarnt hatte, in einer Pressemitteilung erklären lassen, es drohe „kein Extremhochwasser“, bestand noch auf das korrekte Gendern („Campingplatzbetreiber:innen“), fuhr in der Flutnacht, in der über 130 Menschen ertranken, zum Essen mit einem Parteifreund, war telefonisch nicht erreichbar, und sorgte sich am nächsten Tag um das richtige Wording, um dem Blame game zu entgehen. Von ihrem Sprecher ließ sie sich bilderwirksame Termine organisieren, damit in den Trümmern des Ahrtals das Wichtigste nicht zu kurz kam: die „glaubwürdige Rolle für Anne“. Soweit der Stand der Dinge bis vor einer Woche. Die Grünen in Rheinland-Pfalz versuchten schon, die ganze Affäre mit dem Hinweis abzubinden, Rücktrittsforderungen gegen Spiegel seien „sexistisch und chauvinistisch“. Die schlagende Begründung für diesen Befund lautete: Anne Spiegel ist eine Frau. ‚Grüne Frau‘ bedeutet auf dieser Skala eine Verdoppelung, ‚junge Grüne Frau‘ eine Verdreifachung der Bonuspunktzahl.

Dann stellte sich heraus, dass die Umweltministerin von Nordrhein-Westfalen Ursula Heinen-Esser kurz nach der Jahrhundertflut in den Mallorca-Urlaub gedüst war. Heinen-Esser gehört der regierenden CDU an, im Mai finden in NRW Landtagswahlen statt. Die grüne Spitzenkandidatin des Landtagswahlkampfs Monika Neubaur befand in einem Interview mit der „Rheinischen Post“, das, also Heinen-Essers Urlaub, zeuge „von einem desaströsen Amtsverständnis“. Im Rückblick erscheint es geradezu abenteuerlich: aber offensichtlich dachte in dem grünen Wahlkampfstab tatsächlich niemand daran, vorsichtshalber bei Spiegel nach deren Sommerurlaub 2021 zu fragen. Nun stellte sich heraus, dass die Landesministerin von Rheinland-Pfalz sich sogar für vier Wochen in den Frankreichurlaub verabschiedet hatte (übrigens mit der Bemerkung im letzten Interview kurz vor der Sommerfrische: „Mich lässt die Trauer nicht los. Mir ist das Herz schwer“.)
Bei den Grünen entstand also eine gewisse Narrativnot.

Und die verstärkte sich noch erheblich, als Heinen-Esser zurücktrat. In diesem Moment setzte eine Twitterkampagne ein, in der die politmedialen Kämpfer versuchten, die Evidenz einfach mit einer Gefühlsflut wegzuspülen. Nach den Volle-Soli-Bekundungen handelte es sich bei Spiegel nicht etwa um eine Politikerin, die schon mit der Führung eines Landesministeriums völlig überstrapaziert war, sondern um eine ein Ausnahmetalent mit besonderem Schwerpunkt im Fach Empathie.

Ausgerechnet auf Empathie als Leitwert wäre in dieser Situation vielleicht nicht jeder gekommen. Das Milieu handelte jedenfalls nach dem berühmten Satz in Tom Wolfes „Fegefeuer der Eitelkeiten“: „In diesem Fall, wenn dir die Wahrheit nicht hilft, gibt es nur eins: lügen.“

In dieser Lage lud Spiegel am Sonntagabend um 21 Uhr zu ihrer Pressekonferenz ins Ministerium, nicht um ihren Rücktritt zu verkünden, sondern die Geschichte ihrer schwer belasteten Familie zu erzählen: Mann nicht gesund, die vier Kinder „nicht gut durch die Pandemie gekommen, das hat uns über die Grenze gebracht“. Und um ganz nebenbei noch einzuräumen, ihre Behauptung, sie sei während ihres vierwöchigen Urlaubs bei den Kabinettssitzungen immer zugeschaltet gewesen, sei leider auch nicht korrekt gewesen. Also mit anderen Worten: gelogen. Dann kamen noch die Worte zur Seite, die vermutlich von ihr bleiben werden: „ich muss das irgendwie abbinden“ – also das Statement mit irgendeinem Schlusssatz versehen. Außerhalb der Medien- und PR-Branche ist der Begriff praktisch unbekannt; viele fragten sich deshalb, was Spiegel da eigentlich gesagt hatte. Ihr Auftritt im Ministerium wirkte so, als wäre sie sich gar nicht im Klaren gewesen, dass ihre Stellungnahme live gesendet wurde.

Spätestens an dieser Stelle hätte die Twitter-Medien-Community schon zum Schutz der psychischen Konstitution Spiegels der Ministerin zum Rücktritt raten müssen. Stattdessen klangen Tweets reihenweise so, als würden Spiegels Unterstützer die Ministerin mindestens für das Bundesverdienstkreuz vorschlagen. Nach Ansicht des grünen EU-Abgeordneten Michael Bloss war Spiegel „für ihr Land da“ (und dann gleich auch noch für die Familie),

Die Grünen-Bundestagsabgeordnete Katharina Beck schien mit ihrem Soli-Statement ein Spiegel-Biopic mit Veronica Ferres in der Hauptrolle anzuregen:
„Erst bringt sie alles auf den Weg für die Menschen in RLP, dann kümmert sie sich um ihre Corona-belastete Familie – u parallel weiter um RLP.“

Das sie “alles auf den Weg für die Menschen in RLP“ gebracht hätte, können viele Menschen in RLP, die bis heute in Notquartieren wohnen, leider nicht bestätigen. Akut coronabelastet war Spiegels Familie im Juli 2021 nach allen vorliegenden Informationen nicht. Und vom Urlaub aus hatte sich die Ministerin auch nicht „parallel weiter um RLP“ gekümmert, siehe oben.

Es scheint fast so, als hätte es an dem Sonntag zentrale Empfehlungen einer PR-Agentur für die Hilfstweets gegeben, und zwar mit den Stichpunkten empathisch, Superfrau und Familie.

Ganz auf Familie konzentrierte sich eine grüne Berliner Kommunalpolitikerin, die betonte, wie sie sie mit der Mama Spiegel fühlt.

Die Grünen-Politikerin Jamila Schäfer wiederum wusste, dass zu jeder Heldinnengeschichte (Spiegel) auch ein Schurke gehört, in diesem Fall Friedrich Merz, der nach Schäfers Ansicht die Ministerin deshalb stürzen wollte (wie auch immer das aus der Opposition heraus gehen soll), weil sie sich um ihren vom Schlaganfall gezeichneten Mann gekümmert habe.
Der Logikfehler, dass Merz schon vorher zum Motiv genommen haben sollte, was Spiegel selbst erst am Sonntag erklärte, fiel Schäfer nicht weiter auf, dafür aber immerhin anderen.

Apropos Empathie: An keiner Stelle tauchten in diesem Twittersturm der Selbstliebe zwei wirklich naheliegende Fragen auf, von einer Antwort ganz zu schweigen. Angenommen, es stimmt, dass ihr Mann unter Gesundheitsproblemen leidet, und die Kinder nicht gut durch die Coronazeit mit politisch verordneten Schulschließungen und Dauertests gekommen waren – warum meinte Spiegel in dieser Situation, ein noch viel zeit- und kräfteraubenderes Bundesministerium übernehmen zu müssen, und das, obwohl sie schon mit der Führung eines Landesministeriums ganz offensichtlich über die Grenzen ihrer Fähigkeiten geraten war? Und: ist es für twitternde Grünenpolitiker eigentlich vorstellbar, dass es durchaus auch Familien in Rheinland-Pfalz gibt, in denen Kinder psychische Schäden durch Coronamaßnahmen davongetragen haben, in denen es ein nicht ganz gesundes Elternteil gibt, denen aber auch noch zusätzlich das Haus weggeschwemmt wurde, und die anders als die Spiegels nicht über ein Familieneinkommen von 20 000 Euro im Monat verfügen?

Allerdings gibt es in der grünen Community nicht nur bei Spiegel ein grundsätzliches Problem, die Angemessenheit der eigenen Außenwirkung einzuschätzen, das nur nebenbei.

Nachdem die Überministerin und Supermutter dann doch zurücktrat – nicht freiwillig, sondern auf Drängen der Grünen-Führung, die sich aus guten Gründen um ihre Wahlkämpfe sorgt – zündete die zweite Kampagnenstufe. Von jetzt ab ging es zuallererst darum, zu erklären, der Fall Spiegels handle sich um einen Abgrund an Frauenhass. In diesem Fall wäre der grüne Parteivorstand also das Frauenhasszentrum gewesen. Aber Logik hatte in diesem Dramolett, siehe oben, noch nicht einmal einen Blitzauftritt.

Eine Journalistin der „Berliner Zeitung“ erklärte Spiegel zum Opfer einer „Hexenjagd“, und erklärte: „Eine solch maßlose Hetzkampagne so gut wie aller Medien hat es kaum bei männlichen Politikern gegeben. Das ist schlichtweg purer Frauenhass“.

So gut wie alle Medien – also fast alle, ausgenommen vielleicht nur SPIEGEL, Süddeutsche, Frankfurter Rundschau, taz, die öffentlich-rechtlichen Sender und das Supermedium Twitter. Die Süddeutsche hatte beispielsweise über Heinen-Esser geschrieben, die CDU-Politikerin habe sich „unmöglich“ gemacht; über Spiegel meinte sie: „Glück gehabt“. Das konnte nicht jeder im Ahrtal von sich behaupten.
Die Journalistin der „Berliner Zeitung“ scheint noch ziemlich jung zu sein, und tatsächlich gab es schon länger keine Politikerrücktritte. Aber im Archiv hätte sie zumindest über die Guttenberg-Affäre 2011 einiges nachlesen können. Von der allerersten Erwähnung von Plagiaten in seiner Doktorarbeit (16. Februar 2011) bis zu seinem Rücktritt (1. März) dauerte es damals nicht einmal zwei Wochen. In dieser Zeit ging allerdings ein politisches und mediales Trommelfeuer auf ihn nieder, das nicht nur Spiegel nie aushalten musste, sondern überhaupt keine Politikerin in Deutschland. Der Linkspartei-Politiker Dietmar Bartsch hatte Guttenberg damals öffentlich den Selbstmord nahegelegt (wofür er sich dann entschuldigte, allerdings später). Nicht, dass Guttenbergs Abgang ungerechtfertigt gewesen wäre – aber der Freiherr ging damals verhältnismäßig schnell, er behauptete nicht, dass alles werde nur über ihn ausgekübelt, weil er ein Franke sei, und ganz nebenbei trug er auch keine Mitverantwortung für den Tod von 134 Menschen. Auch die Demission von Bundespräsident Christian Wulff 2012 geschah zu Recht, schon deshalb, weil der CDU-Politiker sich damals derart bräsig und unbeholfen verteidigt hatte. Aber es ging zum Schluss um ein Bobby-Car und eine Rechnung von einigen Euro. Die Häme, die er ertragen musste, steht ungefähr im gleichen Verhältnis zu dem Lob- und Preisreden, die Anne Spiegel bis jetzt von ihren Bewunderern erhält.

Die gibt es nämlich haufenweise – sowohl Preisreden als auch Bewunderer. Nach den Revue-Nummern ‚Superministerin und -frau‘ und ‚Opfer von Merz und Frauenhass‘ folgte nämlich die Feststellung, bei ihr habe es sich um eine überlebensgroße Verweserin des Familienministeriums gehandelt, die dort schon nach 125 Tagen im Amt tiefe und bleibende Spuren hinterlassen hatte.

Es müssen derart viele Verdienste sein, dass jeder darauf verzichtete, ein einzelnes davon zu nennen.

Jedenfalls erlaubt der vorösterliche Twitter- und Medienreigen zu Anne Spiegel den tiefen Blick in ein Milieu, in dem Politiker als Identitätssymbole wirken sollen (vierfache Mutter), sich gegen Hass zu beweisen haben, und in dem allzeit die Losung gilt: ‚Lassen Sie mich durch, ich bin eine junge progressive Frau‘. Es geht also um alles Mögliche. Nur nicht um Politik, also das Ausfüllen eines Amtes zu Zwecken, die jenseits der Persönlichkeitsentwicklung liegen.

Noch ein letzter Blick auf den Stand bei Anne Spiegels Nachamtsversorgung einer- und in Rheinland-Pfalz andererseits, wo gerade eine Hilfswerkstatt für Flutopfer wegen Ordnungswidrigkeiten mit einer Strafe belegt werden soll.
Der Staat gibt eben, und er nimmt.

Und sollten sich jetzt zu viele darüber aufregen, den Wutbürger heraushängen lassen und das falsche Wording gebrauchen, wären wieder einmal ein paar hundert Millionen Euro mehr für Demokratieerziehung fällig.

Vielleicht übernimmt Anne Spiegel nach einer Schonfrist die Leitung eines entsprechenden Programms. Die nötigen Qualifikationen dafür besitzt sie ohne jeden Zweifel.