Tichys Einblick
60 Jahre nach "I have a dream"

Der Fortschritt zurück in die schlechtere Zeit

Mit der Lehre der Erwachten kommen die reaktionärsten Gesellschaftsbilder in linker Hülle zurück: Segregation nach Hautfarben, Rassen- und Geschlechterklischees, enge Identitätsgrenzen. Die Progressiv-Regressiven gehen aufs Ganze: Sie wollen die westliche Bürgergesellschaft abräumen. Ihre Zukunft kennt nur noch Rassisten und Opfer.

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In den nächsten Tagen jährt sich ein Ereignis zum 60. Mal, das immer noch zur heißen Geschichte gehört, zur Geschichte im Fluss. Wie Politiker und Medien daran erinnern, sagt viel über die Gegenwart. Womöglich mehr, als denjenigen recht sein dürfte, die sich heute als Progressive sehen. Am 28. August 1963 hielt Martin Luther King Jr. auf den Stufen des Lincoln Memorial in Washington vor 250.000 Menschen die berühmteste seiner Reden, in der er achtmal die Beschwörungsformel wiederholte: I have a dream.

Das Unbehagen, mit dem die identitätspolitisch Woken, also die Erwachten in den Vereinigten Staaten und anderswo heute das Echo dieser Rede wahrnehmen, liegt nicht daran, dass King das Wort ‚Negro‘ benutzte. Das gehörte zum Sprachgebrauch der damaligen Zeit, auch in der Bürgerrechtsbewegung. Martin Luther Kings Rede von 1963 zwingt zum Vergleich mit der Identitätspolitik des Jahres 2023, mit der „Critical Race Theory“, also der ‚Kritischen Rassentheorie‘, die einen tief verinnerlichten Rassismus des Westens behauptet, dabei aber nicht stehen bleibt. Nach dieser Lehre existiert auch eine ‚white guilt‘, eine ‚weiße Schuld‘ an Kolonialismus und Sklaverei, vererbt von Generation zu Generation, die sich nur immer wieder neu bekennen, aber niemals tilgen lässt.

King begann seine Rede mit einem historischen Rückgriff auf die Unterzeichnung der Emancipation Proclamation 1863, den politischen Akt, mit dem Abraham Lincoln die Sklaverei in den USA für beendet erklärte. „Aber 100 Jahre später“, heißt es nach dieser Passage, „ist der Neger nicht frei. Einhundert Jahre später ist der Neger immer noch geplagt von den Fesseln der Segregation und den Ketten der Diskriminierung.“ (But 100 years later, the Negro still is not free. One hundred years later, the life of the Negro is still sadly crippled by the manacles of segregation and the chains of discrimination.) Dafür machte er allerdings weder einen systemischen Rassismus Amerikas noch eine Verachtung aller Farbigen durch jeden Weißen verantwortlichen. Im Gegenteil, er leitete den Anspruch der Schwarzen auf endgültige Emanzipation aus dem Freiheitsversprechen der amerikanischen Verfassung ab, einen Anspruch, von dem er sagte, er sei immer noch nicht eingelöst, aber einlösbar.

„Im gewissen Sinn“, so der Redner, „sind wir in die Hauptstadt unserer Nation gekommen, um einen Scheck einzulösen. Als die Architekten unserer Republik die wunderbaren Worte der Verfassung und der Unabhängigkeitserklärung schrieben, unterschrieben sie ein Versprechen, das zum Erbteil aller Amerikaner gehört. Diese Schriften waren ein Versprechen, dass alle Menschen, ja, Schwarze wie Weiße, die Garantie der unveräußerlichen Rechte auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück genießen. […] Anstatt dieser heiligen Verpflichtung zu genügen, hat Amerika den Negern einen faulen Scheck gegeben, einen Scheck, den wir mit dem Stempel zurückbekommen, dass er nicht gedeckt ist. Aber wir weigern uns zu glauben, dass die Bank der Gerechtigkeit bankrott ist. Wir weigern uns zu glauben, dass es ungedeckte Werte in der großartigen Schatzkammer der Möglichkeiten gibt, die diese Nation bereithält.“

Er warnte seine schwarzen Zuhörer davor, sich von dem Leid in der Vergangenheit bestimmen zu lassen: „Lasst uns unseren Durst nach Gerechtigkeit nicht dadurch befriedigen, dass wir aus dem Becher der Bitternis und des Hasses trinken.“ King rief sie dazu auf, die Weißen nicht als rassistisches Kollektiv zu sehen. Die Bewegung der Schwarzen dürfe „uns nicht dazu führen, allen Weißen zu misstrauen, denn viele unserer weißen Brüder beweisen heute durch ihre Anwesenheit, dass sie verstehen, wie ihre Würde mit unserer Würde verbunden ist, und dass ihre Freiheit untrennbar mit unserer Freiheit zusammenhängt. Wir können nicht allein vorankommen“.

Am Ende seiner Rede, als er den rhythmischen Refrain „ich habe einen Traum“ wiederholte, entwarf er eine Zukunft, in der es keine vererbte Schuld geben sollte, sondern Citoyens mit gleichen Rechten und gleichem Glücksanspruch: „Ich habe den Traum, dass eines Tages im roten Hügelland von Georgia die Söhne der ehemaligen Sklaven und die Söhne der früheren Sklavenhalter an einem Tisch der Brüderlichkeit sitzen können.“

Abgesehen von dem aus heutiger wohlmeinender Sicht skandalösen Detail, dass King nur Söhne erwähnt, unterscheidet sich seine Gesellschaftsvorstellung vom Gedankengebäude des ‚systemischen Rassismus‘ und der Critical Race Theory nicht nur durch zeittypische Begriffe und das eine oder andere Detail. Beide beschreiben völlig verschiedene und unvereinbare Welten. Um das zu sehen, genügt es, zu einem führenden schwarzen Theoretiker der Gegenwart zu springen, Ibram X. Kendi. In seinem Buch „How To Be An Antiracist“ erklärt er seinen Lesern, dass die Nachkommen von Sklaven und Sklavenhaltern niemals als Gleiche zusammensitzen können, und dass er eine Gesellschaft auch gar nicht für erstrebenswert hält, in der die Sünden der Vergangenheit nicht mehr zu Anklagen in der Gegenwart führen.

„Das einzige Mittel gegen rassistische Diskriminierung“, so Kendi, „ist antirassistische Diskriminierung. Das einzige Mittel gegen die Diskriminierung in der Vergangenheit ist Diskriminierung in der Gegenwart. Das einzige Mittel gegen Diskriminierung in der Gegenwart ist Diskriminierung in der Zukunft.“ Sein Ideal sieht er gerade nicht in einem Land, das Bürger „nicht mehr nach der Farbe ihrer Haut beurteilt, sondern nach der Art ihres Charakters“, wie King es in seiner Rede sagte. Für Kendi kann der Rassismus nicht enden, jedenfalls nicht, solange die westliche Gesellschaft existiert, in der nach seiner Überzeugung der Rassismus in jedem Detail wie im Ganzen steckt.

Kendi, heute Professor und führender Kopf der Kritischen Rassentheorie, radikalisierte sich im Lauf seines Lebens. Schon als Praktikant der Zeitung „Tallahassee Democrat“ schrieb er 2003, Europäer würden zu „aggressiven Menschen sozialisiert“, die Nichtweiße mit „psychologischer Gehirnwäsche“ bearbeiteten. Er vermutete damals auch, AIDS sei von den Weißen als Waffe gegen Schwarze in Umlauf gebracht worden. In seinem Buch „Stamped From The Beginning“ von 2016 deutet er die gesamte amerikanische Geschichte als einzige Chronik des Rassismus.

Mit seinem Gedankengebäude steht er weder allein noch am Rand der linken Identitätspolitik. Für die (weiße) Autorin Robin DiAngelo ist „weiße Identität inhärent rassistisch. Ich strebe danach, ‚weniger weiß‘ zu sein.“ Mit ihrem Buch „White Fragilty“ erfand DiAngelo gewissermaßen das Perpetuum mobile der Rassismusanklage. Bestätigt ein Weißer jeden Vorwurf des noch so versteckten und unbewussten Rassismus gegen ihn, dann bestätigt er dessen Inhärenz, selbst, wenn er zu den erwachtesten und politisch skrupulösesten Unterstützern der Demokraten gehört. Wehrt er sich gegen einen Vorwurf, zeigt er „weiße Fragilität“ und bestätigt seinen inhärenten Rassismus erst recht.

Sechzig Jahre nach „I Have A Dream“, so lautet die Bilanz, besitzen Figuren wie Kendi und DiAngelo Definitionsmacht über den Begriff Rassismus. Für Martin Luther King bleibt eine Fußnote. Der eigentliche Diskurssieger heißt Frantz Fanon, dessen These des weißen Westens als rassistisches Unterdrückungssystem Kendi, DiAngelo und andere seiner Adepten nur noch einmal mit neuem Vokabular abmischen. Nach ihrer Lehre kann es keine gesellschaftliche Befriedung geben, sondern nur eine auf Dauer gestellte Anklage.

Während King das Bild einer Zukunft zeichnete, die sich von seiner Gegenwart unterscheiden sollte, und andere dazu aufrief, mit ihm dorthin aufzubrechen, bieten die Critical-Race-Theoretiker nicht nur die permanente Gesellschaftsteilung entlang der Linie von Schuld an, sondern sogar noch etwas mehr: den Rückmarsch in eine schlechtere Vergangenheit unter progressiver Flagge. Für diese Bewegung bietet sich der Begriff Progressiv-Regressiv an. Ihre Zukunft gab es so ähnlich schon einmal. Segregation, also genau der Zustand, zu dessen Überwindung King aufrief, gilt ihnen als vorteilhaft. Darin liegt eine innere Logik. Wer statt Individuen nur noch Identitätskollektive wünscht, muss die Grenzen dieser Kollektive gut bewachen.

Mit dem Aufstieg der progressiv-regressiven Lehre, also seit etwa 2015 gibt es beispielsweise immer häufiger die (auch sehr oft erfüllte) Forderung nach „Black“ beziehungsweise „BIPoC Only Spaces“, zunächst an Universitäten, mittlerweile auch außerhalb, also Räume, die Weiße nicht betreten dürfen.

Quelle: hier und hier

Quelle: hier, hier und hier

Diese Sonderräume existieren nicht mehr nur in den USA und Kanada. Die Segregationsidee mit progressivem Anstrich breitet sich auch in Deutschland aus.

Die Begründung lautet, Farbige bräuchten einen „Schutzraum“, was an linksliberalen Universitäten, in denen diese Idee als erstes praktiziert wurde, besonders absurd wirkt. Von der Teilungslogik nach Hautfarbe geht eine doppelte Botschaft aus. Erstens suggerieren diese Räume, dass draußen selbst in der wohlwollendsten Umgebung Rassismus lauert und sei es auch nur in Form der Mikroaggression, die sich nur mit sensibelsten Messinstrumenten aufspüren lässt (weshalb sich die Nachweistechnik ständig verfeinern muss).

Der separierte Raum vermittelt den Schutzbefohlenen aber auch unterschwellig, sie seien zu schwach, um weiße Präsenz auszuhalten, ihre kostbare Identität könnten sie nur unter ihresgleichen entwickeln. „Farbige brauchen ihre eigenen Räume”, heißt es etwa in einem der entsprechenden Manifeste: „Wir brauchen Orte, in denen wir zusammenkommen können, frei von den Mainstreamstereotypen und der Marginalisation, die jeden anderen gesellschaftlichen Raum durchdringen.“ In dem Begriff „BIPoC“ (Black Indigenious People of Color) steckt ein weiterer Ausschluss, den viele im ersten Moment übersehen. Er meint gar nicht alle Nichtweißen.

In seinem Buch „An Inconvenient Minority“ („Eine unbequeme Minderheit“), schreibt Kenny Xu, die Abkürzung mit der Betonung auf „Indigene“ erfülle einen bestimmten Zweck: „Sie gehen so weit zu sagen, dass (amerikanische) Asiaten nicht als ‚people of color‘ zählen“, so Xu, „und sie erfanden dafür sogar die Wendung ‚BIPOC‘ speziell dafür, Asiaten und andere ‚den Weißen benachbarten‘ Minderheiten auszuschließen.“ Tatsächlich gelten asian americans, obwohl die Hautfarbe etwa eines Einwanderers aus Südindien oder Indonesien dunkler ausfallen kann als die von Kamala Harris, nach der Farblehre der Progressiv-Regressiven als ‚white adjacent minority‘, als ‚weißennahe Minderheit‘. Kenny Xu erklärt auch, welche Scholastik dahintersteckt:

„Das Problem besteht darin, dass die Kritische Rassentheorie jedes gute gesellschaftliche Ergebnis als weiß definiert. Selbst wenn deine Familie aus China oder Indien stammt – Bildung und einen hohen Grad an persönlichem Erfolg zu erlangen gilt als ‚weißes‘ Verhalten. Das ist auf vielfache Weise rassistisch. Es steckt Amerikaner asiatischer Herkunft in die Kiste der weißen Nachbarschaft, was völlig deren einzigartige Kulturen und Kämpfe ignoriert. Außerdem bedeutet es per Standard, dass andere Rassen weniger erfolgreich, talentiert und gebildet seien. Wenn es ‚weiße‘ Charakteristiken sind, reich und erfolgreich zu sein, folgt daraus dann nicht logisch, arm und faul zu sein wären schwarze Charakteristika? Obwohl sie vorgibt, sich um Diversität und Inklusion zu sorgen, ist die Kritische Rassentheorie in Wirklichkeit rassistisch in der Art, wie sie Menschen kategorisiert.“

Die Hautfarbe pauschal mit bestimmten Eigenschaften zu verbinden – genau das entspricht der Definition des Rassismus in seiner klassischen Version. Mit etwas Begriffsalchemie und Frantz-Fanon-Abrakadabra verziert steht diese Ansicht heute im geistigen Zentrum einer Fortschrittsbewegung, die Bürgergesellschaft und Emanzipation schnellstmöglich hinter sich lassen will.

Wer glaubt, Xu sehe Gespenster, kann sich beispielsweise von der (übrigens hellhäutigen) Cristina Beltrán, Professorin für Soziale und Kulturelle Analyse an der New York University, auf den aktuellen Ideologiestand bringen lassen. In einem Interview mit dem Radiosender NPR erklärte sie 2021, Weißsein habe eigentlich nichts mit der Hautfarbe zu tun:

„Also es gibt eine Menge Leute und Gelehrte, die sich mit der Theorie der White Supremacy befassen. Und all diese Gelehrten teilen die Ansicht, die ich teile, das Weißsein und weiße Leute nicht das gleiche sind, und dass Weißsein besser verstanden werden sollte als ein politisches Projekt, das sich historisch herausgebildet und sich immer gewandelt hat.“

Im Black Lives Matter-Sommer 2020 verbreitete sich ein von 1999 stammender Text der (weißen) Autorin Tema Okun millionenfach, in dem sie der „White Supremacy Culture“ in Unternehmen und Organisationen folgende Eigenschaften zuordnet: Streben nach Perfektion, Dringlichkeit (also das Festlegen von Prioritäten), die persönliche Verantwortung für Fehler, Streben nach Objektivität, Wertschätzung des geschriebenen Wortes. Kurzum: Merkmale jedes funktionierenden sozialen Gebildes. Ebenfalls 2020 verkündete das (hellhäutige) Mitglied des School Board von San Francisco Alison Collins, die Zulassung zur höheren Bildung nach Leistungskriterien („merit based“) sei „rassistisch“.

In der progressiv-regressiven Bewegung gibt es Wortführer, die Mathematik („westliche Mathematik“) für „rassistisch“ halten, und zwar mit der Begründung, dass schwarze Schüler (anders als asian americans) in dem Fach schlechter abschneiden als der Durchschnitt. An einigen Schulen Seattles startete ein „Pilotprogramm“, das den Matheunterricht mit einem „ethnischen Rahmen“ versah. Darin kommen Lerninhalte wie „mathematische Identität“ und die Unterdrückung von „communities of color“ durch die Mathematik vor. Die Ethnisierung des Matheunterrichts blieb nicht ohne Folgen. Wie der Journalist Luke Rosiak in seinem Buch „Race To The Bottom“ schreibt, fiel an den Pilotschulen die Rate der schwarzen Schüler, die das Mathe-Examen bestanden, dramatisch.

Auch hier – wie in allen Bereichen – kam das entsprechende Abziehbild mit leichter Zeitverzögerung im erwachten Westeuropa an. Die österreichische Grüne Jugend etwa illustrierte ihre Forderung nach Abschaffung des Mathe-Pflichtunterrichts mit dem Bild eines schwarzen Mädchens, das sich an der Rechentafel müht.

Da es für die Progressiv-Regressiven als ausgemacht gilt, dass es sich bei Erfolgsstreben, Professionalität, Mathematikbeherrschung und überhaupt bei messbarer Kompetenz um typisch weiße Eigenschaften handelt, entwerfen sie auch das logische Gegenbild des Schwarzen, ohne es explizit aussprechen zu müssen. Zu den Zeiten von Martin Luther King hätte es niemand für möglich gehalten, dass Jim Crow im 21. Jahrhundert mit der Fahne des Fortschritts zurückkommen würde. Aber genau das geschieht. Auch hier geht die regressiv-progressive Botschaft in zwei Richtungen: Sie festigt auf der einen Seite die Lehre vom allumfassenden westlich-weißen Rassismus, der im Leistungsgedanken und sogar in der Winkelsumme des Dreiecks steckt, und träufelt zum anderen Farbigen den Glauben ein, dass sie einen Leistungswettbewerb sowieso nicht bestehen können.

Die logische Schlussfolgerung, sie sollten deshalb besser unter sich bleiben, erstreckt sich auch längst auf das Privateste. In den USA finden sich im Netz hunderte Ratgeberseiten, die vor den Tücken des Datings und der Liebesbeziehung über die Hautfarbengrenzen warnen. In dem Buch „The Dating Divide“ fasst die Autorin Celeste Curington zusammen, was dabei alles schiefgehen kann. Lehnt ein weißer Mann oder eine weiße Frau bei Tinder oder auf einem anderen Portal ein Date mit einem schwarzen Partner ab, aus welchen Motiven auch immer, handelt es sich um Rassismus (im umgekehrten Fall natürlich nicht). Aber auch dann, wenn sich jemand Weißes zu einer schwarzen Person hingezogen fühlt, gilt: Vorsicht! Dann könnte es sich nämlich um eine „Fetischisierung des Körpers“ handeln. Schwarze Männer und Frauen wiederum laufen Gefahr, sich in der Beziehung mit Weißen zu sehr zu „assimilieren“. Die unterschwellige Botschaft lautet also auch hier, besser unter sich zu bleiben. Hier gibt es die unvermeidliche deutsche Ausgabe ebenfalls, das Buch „Kluft und Liebe“, in dem die deutsche „Antirassismustrainerin“ Josephine Apraku auf genau die gleichen Fallen hinweist wie Curington: Körperfetisch! Machtgefälle! Internalisierte Dominanz!

Auch beim ZDF, im Erspüren von Trends außerordentlich beweglich, wissen die Verantwortlichen schon, dass eine schwarz-weiße Liebesgeschichte heute als Problemstory serviert werden muss.

Noch markiert zwar in Anzeigen das hell-dunkel gemischte Paar den Goldstandard. Aber auch das erledigt sich vermutlich in Zeiten der Kritischen Rassentheorie. Irgendeine Erklärung dürften die rastlosen progressiv-regressiven Meisterdialektiker auch dafür finden.

Die Segregation im Namen des Fortschritts jedenfalls kommt auch in Deutschland gut voran. Die Berliner Organisation Empoca organisierte 2023 ein Feriencamp nur für schwarze Kinder – mit der Begründung, nur so, ohne Weiße, könnten sie sich in der Natur sicher fühlen.

Quelle: hier und hier

Ebenfalls in diesem Jahr eröffnete in Bremen eine vom Kulturressort mit 56.500 Euro geförderte Kinderbibliothek, die ausschließlich Bücher mit schwarzen Helden anbietet. Natürlich handelt es sich auch hier nach Aussage einer Mitarbeiterin um einen „Schutzraum“. Allerdings nicht um einen Ort für wirklich Lesehungrige. Laut Süddeutscher Zeitung stehen in der „schwarzen Kinderbibliothek“ bis jetzt „weniger als 100 Bücher“, also etwa der Inhalt eines halben Wohnzimmerregals. Wenn es von Shakespeares Werken nur der „Othello“ über die Hautfarbengrenze schafft, dann schrumpft der Kanon notwendigerweise. Der AStA der FU Berlin unterhält ein exklusives „Referat für Schwarze Studierende“.

Zur Forderung nach Trennung oder zumindest Distanz von Menschen unterschiedlicher Hautfarbe kommen noch einige andere progressiv-regressive Gebote, die dem halbwegs geschichtsbewussten Beobachter ziemlich bekannt vorkommen. Beispielsweise die Forderung, Gegenstände aus ethnologischen Museen des Westens zu entfernen, weil sie dort angeblich nicht hingehören. Bei dem Holzschwert, dem Fischernetz und der Keule, die Annalena Baerbock kürzlich mit dem klapprigen Regierungsflieger nach Australien bringen und dort den Aborigines überreichen wollte, handelte es sich nicht etwa um sogenannte Raubkunst, sondern um Geschenke der Eingeborenen an Missionare. Lange lagen die Stücke im Leipziger Grassimuseum aus.

Neuerdings gilt genau das als weiteres Problem, das Progressiv-Regressive unbedingt lösen wollen. Eine grüne Berliner Staatssekretärin meinte vor einiger Zeit, wenn es nach ihr ginge, sollte überhaupt alles fort aus einheimischen Museen, was nicht strikt zum deutschen Kultursprengel gehört. Beweglichkeit, ob über die Grenzen von Milieus, innerhalb des literarischen Kanons oder in der Neugier auf andere Kulturen hat in der brave new world nach den Maßgaben der Erwachten möglichst zu unterbleiben. In ihrer Idealgesellschaft soll jeder in den Identitätsgrenzen bleiben, die sie fürsorglich für alle ziehen.

Auch auf dem derzeit heißesten Schlachtfeld, der Transsexualität. „Ihr Mädchen ist ein echter Wildfang, spielt Fußball, klettert auf Bäume und kommt regelmäßig mit aufgeschlagenen Knien nach Hause?“, hieß es beispielsweise in einer Handreichung aus dem Bundesfamilienministerium, damals noch unter Franziska Giffey. Ihre vorgeschlagene Lösung lautet: „Vielleicht ist Ihr Kind transgeschlechtlich?“ Es dauerte mehrere Jahrzehnte, bis sich die Ansicht allgemein durchsetzte, dass Mädchen durchaus Spaß am Fußball haben können und trotzdem Mädchen bleiben, so, wie Jungen, die mit Puppen spielen, nicht mehr automatisch als mädchenhaft galten. Das Bild der Geschlechter erweiterte sich also und ließ Kindern (und Erwachsenen) mehr Freiheiten.

Auch damit macht die progressiv-regressive Identitätslehre Schluss. Unter der Flagge des Fortschritts kehrt das Geschlechterklischee der fünfziger Jahre zurück. Zwar ermuntert die Ideologie zum Geschlechterwechsel, sie preist ihn auch als Lösung aller möglichen psychischen Probleme von Jugendlichen an. Die Kehrseite bedeutet: Ein Mädchen mit kurzen Haaren, das gern auf dem Fußballfeld kickt, sollte am besten mit Hilfe von Chemie oder sogar Skalpell ins andere Geschlechtskästchen sortiert werden. Dieses neu geprägte Bild von Mädchen (und Jungen) nach festgelegten Attributen ähnelt auf verblüffende Weise dem Entwurf des Schwarzen, der segregierte Schutzräume braucht und sich von westlicher Wissenschaft besser fernhalten soll.

Woran erinnert uns der Gesellschaftsentwurf, der Menschen zuallererst nach Hautfarbe, Herkunft und Geschlecht beurteilt, der für alle Grenzen definiert, der empfiehlt, dass Menschen unterschiedlicher Hautfarbe am besten separat bleiben, der will, dass Museen keine Welt mehr beschreiben sollen und dass Kinder gefälligst ganz bestimmten Erwartungen an richtige Mädchen und richtige Jungen zu entsprechen haben? Ganz richtig: Es erinnert an die Zeit vor Martin Luther King. In der progressiv-regressiven Welt geht es eng zu. Schaut man sich die Wortführer an, dann verwundert das nicht. Ihre Idee der Weltoffenheit kommt aus der muffigen geistigen Provinzialität, ihr Diversitätsbegriff aus homogenen akademischen Zirkeln.

Es handelt sich trotzdem nicht einfach um eine Transformation in eine Version der fünfziger Jahre mit iPhone. Die links drapierten Identitätsprediger bringen das Kunststück fertig, eine starre Gesellschaft mit einem erzreaktionären Menschenbild anzustreben, der aber gleichzeitig jede Stabilität fehlt in einem Zustand der Dauerbekämpfung von allem Westlichen. Möglicherweise reagieren viele im Westen deshalb so ratlos auf diese aggressive Lehre, weil sie völlig quer liegt zu der klassischen Linken, deren Symbole sie ausschlachtet. Darin liegt übrigens eine von mehreren Erklärungen für ihren Erfolg: Sobald jemand mit der bunten Flagge wedelt, die etwas Linkes signalisiert, schaltet sich der Kritikreflex nahezu des gesamten akademischen, kulturellen und medialen Betriebs schlagartig ab, völlig unabhängig davon, was der Fahnenträger verkündet. Frauenfeindlichkeit, Antisemitismus, Neorassismus – nichts trifft dort mehr auf Widerstand, sobald es in einer rötlich-regenbogenfarbigen Verpackung steckt.

Aus genau diesem Grund verdient Martin Luther Kings Rede nach sechzig Jahren noch einmal eine genaue Lektüre. Sein Traum handelte von einer freieren Bürgergesellschaft. Ibram X. Kendis Lehre zielt auf ihre Zerstörung. King wollte tatsächlich fortschreiten. Kendi und seine Gefolgsleute überall im Westen wollen zurück in den Tribalismus.

Um sie daran zu hindern, bräuchte es heute wieder eine milieuübergreifende Allianz, wie sie King 1963 beschworen hatte.


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