Tichys Einblick
Der neue Tugendterror

Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland

Tichys Einblick dokumentiert den Vortrag von Dr. Thilo Sarrazin im Seminar "Denken und Denken lassen" am 10. Januar 2019 an der Universität Siegen.

Johannes Eisele/AFP/Getty Images

Als Prof. Schönecker mich im März 2018 um einen Vortrag zum Thema der Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten bat, war meine Rückfrage: „Sind Sie sicher, dass Sie einen störungsfreien Verlauf gewährleisten können.“ Seine Antwort war Anfang April: „Die Verwaltung der Universität wird in Zusammenarbeit mit der Polizei einen störungsfreien Verlauf gewährleisten.“

Von Schemata, die nach „links“ und „rechts“ ordnen, halte ich außerhalb der Politik grundsätzlich nicht sehr viel, weil sie Denkfaulheit fördern und Perspektiven verkürzen. Prof. Schönecker hatte die für das Seminar angefragten Redner – gemessen am links-rechts-Schema – recht ausgewogen zusammengestellt. Die Absagen kamen durchweg von „links“, während es von „rechts“ praktisch nur Zusagen gab. Aus der Sicht vieler Linker gilt Meinungs- und Redefreiheit mittlerweile offenbar als ein „rechtes“ Thema, das die eigene Diskurshoheit bedrohen könnte, wenn man sich zu sehr darauf einlässt. Dies ist ein indirekter Beweis, dass die Linke sich im Besitz der Meinungsherrschaft wähnt, denn so kann nur jemand denken, der subjektiv die Meinungsherrschaft hat und sie nicht aufgeben will.

Ich sagte den Vortrag zu und hörte einige Monate nichts mehr. Am 10. September, also ein halbes Jahr nach der ursprünglichen Einladung, erwähnte Prof. Schönecker in einer Mail „massive Kritik … an meiner Universität und im Umfeld an der Veranstaltungsreihe“ und bat darum, primär über Meinungs- oder Redefreiheit, nicht aber über bestimmte kontroverse Sachthemen zu reden. (Er gestand mir aber in der weiteren Korrespondenz zu, dass sich Redefreiheit immer nur am konkreten Sachgegenstand bewähren kann.)

Dann nahm die Diskussion in Siegen Fahrt auf. In der Siegener Zeitung war am 9. Oktober von „extrem rechten Standpunkten des umstrittenen Buchautors Thilo Sarrazin“ die Rede. Die AstA-Vorsitzende Vera Fengler sagte: „Wir lehnen es ab, dass Rechtspopulisten an die Uni Siegen eingeladen werden.“ Prorektor Prof. Bongardt warnte, eine Lehrveranstaltung dürfe „nicht als Ort politischer Propaganda missbraucht werden“. Das Seminar dürfe „nicht für die breite Öffentlichkeit gedacht sein.“ Offenbar sollte ich einer beschränkten Universitätsöffentlichkeit in einer Art moralischem Giftschrank vorgeführt werden. Das erinnerte mich an den früheren Umgang der katholischen Kirche mit Büchern, die der Vatikan auf den Index gesetzt hatte.

Am 10. Oktober erhielt ich von Prof. Schönecker die Nachricht, Rektor und Dekan hätten die Verwendung von Universitätsgeldern für meinen Vortrag untersagt. Er bat mich, meine Auslagen aus anderer Quelle zu finanzieren.

Ich antwortete ihm „das ist die schönste Demonstration zur Meinungsfreiheit an einer deutschen Universität, die man sich vorstellen kann. An der Uni Siegen besteht sie jedenfalls nicht, das zeigt das Wirken Ihres Dekans.“

Kurzfristig erwog ich die Absage. Wozu sollte ich an einem Ort reden, wo ich offensichtlich nicht willkommen bin? Damit hätte ich aber Prof. Schönecker im Regen stehen lassen, und so blieb ich bei meiner Zusage, wenn auch jetzt auf eigene Kosten.

Nun war ich Teil eines praktischen Experiments zum Seminarthema „Meinungsfreiheit an deutschen Universitäten“ geworden. Das reizte nicht nur meine Neugierde, sondern auch meinen Sinn für Humor.

Sarrazin über die Fehler der SPD
„Was ist los mit Ihrer SPD, Herr Sarrazin?“
Ich musste nicht lange warten. Auf einer Reise durch Patagonien, im sturmumtosten Feuerland, von Angesicht zu Angesicht mit einer Kolonie von Pinguinen, erreichte mich auf dem Handy die Stellungnahme der Universität Siegen vom 6. November. Darin stand: „Die Universität Siegen distanziert sich klar und eindeutig von“ der Person „Dr. Thilo Sarrazin und den von“ ihm „vertretenen Positionen und Meinungen.“ Sie „wendet sich ausdrücklich gegen jede Form von Fremdenfeindlichkeit und Extremismus.“

Der Autor dieser Stellungnahme war offenbar Prof. Niels Werber, der Dekan der Philosophischen Fakultät. Ich musste unwillkürlich lachen, denn der Text zeigte eindeutig, dass ihr Autor in keinem meiner Bücher je gelesen haben konnte, so absurd waren die Anwürfe.

Niels Werber muss meine Bücher nicht lesen. Ich habe seine Bücher ja auch nicht gelesen – weder „Geopolitik der Literatur“ noch „Ameisengesellschaft“. Aber ich würde mir auch nie ein Urteil über ihren Inhalt erlauben. Ich kann nur hoffen, dass er als Buchautor sorgfältiger vorgegangen ist als bei der Abfassung der erwähnten Stellungnahme.

Wer meine Bücher Satz für Satz, Fußnote für Fußnote liest und wer der Argumentation geistig folgt – er muss ihr ja nicht zustimmen – wird nirgendwo Fremdenfeindlichkeit oder gar politischen Extremismus entdecken.

Die Probe aufs Exempel wurde ja längst gemacht: In dem Mediensturm nach dem Erscheinen von Deutschland schafft sich ab sah sich der Parteivorstand der SPD zu einem Ausschlussverfahren veranlasst. Er blamierte sich ganz grässlich. Klaus von Dohnanyi, der ehemalige Bürgermeister von Hamburg, war in dem Verfahren vor der Schiedskommmission mein Anwalt. Satzungsgemäß muss die dreiköpfige Schiedskommission aus Juristen mit der Befähigung zum Richteramt bestehen. Diese drei jedenfalls hatten das Buch vor der mündlichen Verhandlung vollständig gelesen, und sie fanden darin nichts, was sozialdemokratischen Grundsätzen widersprach. Der Parteivorstand zog im April 2011 seinen Antrag nach der mündlichen Verhandlung zurück, während ich an den Aussagen und Analysen meines Buches in vollem Umfang festhielt.

Viele Medien nahmen das sehr übel. Ich sollte zum Pariah werden, und sie waren sauer, dass das nicht gelang. Wegen meines jüngsten Buches Feindliche Übernahme betreibt der SPD-Parteivorstand jetzt erneut meinen Parteiausschluss, und er wird damit erneut scheitern. Wie Heinz Buschkowsky kürzlich öffentlich bekräftigte, ist der Text des Buches sehr nüchtern und faktenbasiert und enthält nichts Fremdenfeindliches.

Gegenteilige Behauptungen sind nur durch den fehlenden Lesewillen der Journalisten zu erklären. Weil sie meine Fragestellungen und Analyseergebnisse hassen, ziehen sie es vor, die von mir vorgetragenen Fakten und Argumente zu ignorieren und mich als Person immer wieder schamlos zu diffamieren.

Das ist eine ironische Umkehrung des Umgangs mit dem vielfach preisgekrönten und kürzliche entlarvten Journalisten Claas Relotius, der seit Jahren in großem Stil Geschichten fälschte, insb. dann, wenn es politisch korrekt gegen „rechts“ ging. Er konnte so lange unentdeckt bleiben, weil seine erfundenen Geschichten im Einklang mit dem dominierenden linken Mainstream waren, so dass die Prüfung ihrer Faktenbasis überflüssig erschien.

Merke: In der deutschen Medienwelt brauchen Geschichten, die sich stimmig anhören und ein erwünschtes Weltbild bestätigen, offenbar keine belastbare Faktenbasis. Wer aber gegen den Strich bürstet, wird selbst dann niedergemacht, wenn man weder Fakten noch Argumentation aus den Angeln heben kann. Mehr noch: Argumentation und Fakten werden gar nicht erst zur Kenntnis genommen und gern durch die persönliche Diffamierung des Autors ersetzt.

Vor dem Jahr 2010 hatte ich mich mit dem Thema Meinungsfreiheit niemals näher beschäftigt. Ich hatte Verwandte in der ehemaligen DDR und kannte die Verhältnisse dort. (Einer meiner Onkel saß dort Anfang der siebziger Jahre zeitweilig im Gefängnis. Danach verlor er seine Stelle als Wissenschaftler und musste sich bis zum Fall der Mauer 19 Jahre lang als Landarbeiter durchschlagen.) Ich war, obwohl altersmäßig zur Generation der 68er gehörend, stets ein strikter Antikommunist und traute solchen Systemen nichts Besseres zu. Ein grundsätzliches Problem mit der Meinungsfreiheit in westlichen Demokratien sah ich aber bis 2010 nicht.

Meine eigenen Erfahrungen haben mich dann nachdenklich gemacht. Ich fing an, mich mit Formen und Strukturen der Meinungsbildung zu beschäftigen. Daraus entstand mein Buch Der neue Tugendterror. Über die Grenzen der Meinungsfreiheit in Deutschland, das 2014 erschien und ein Verkaufserfolg wurde. Ich las Alexis de Tocqueville, Walter Lippman, Artur Koestler und Elisabeth Noelle-Neumann. Mir wurde immer deutlicher, in wie großem Umfang unsere Meinungen und grundsätzlichen Werthaltungen letztlich sozial vermittelt sind. Wir saugen sie praktisch auf mit dem sozialen und gesellschaftlichen Umfeld, in dem wir uns bewegen. So kommen unsere Einstellungen durch soziale Infektion quasi zu uns, ohne dass wir uns dessen bewusst sind oder uns gar dagegen wehren können oder wollen. Solche Einstellungsmuster ändern sich, ähnlich der Mode, mit der Gesellschaft; und weil man sie unbewusst aufnimmt, ist es schwer, sie rational zu hinterfragen. Wer in das Muster nicht passt, erweckt Abneigung und wird sozial ausgeschlossen. Und da Menschen Herdentiere sind, nehmen sie in der Summe genau jene Einstellungen und Meinungen an, die gerade en vogue sind. Natürlich gibt es Unterschiede nach der gesellschaftlichen Schicht und nach der ethnischen, religiösen und kulturellen Herkunft, auch die historischen Erfahrungen der Völker spielen eine Rolle.

Es gibt Trends, die wir alle teilen, und andere Trends, die sich nach sozialen Gruppen und Gesellschaften unterscheiden. So entsteht für jede Gesellschaft, für jeden Zeitabschnitt und für jede soziale Gruppe in ihr ein spezifisches Amalgam vorherrschender Einstellungen. Funktioniert die Gesellschaft, so gibt es einen Austausch, der die Unter- schiede zwischen Gruppen, die miteinander leben müssen, in Grenzen hält. Funktioniert die Gesellschaft aber nicht, so bauen sich Disparitäten auf, die ab einem bestimmten Punkt destruktiv werden, und nicht nur das soziale, sondern auch das politische System gefährden können und es zumindest weniger effizient machen.

Wenn im Durchschnitt der USA gut 50 Prozent der Wähler Trump unterstützen, in New York und Washington aber nur 5 Prozent, umgekehrt in manchen Landstrichen des Mittleren Westens 80 Prozent, so ist das neben vielem anderen auch ein Alarmzeichen für das Zusammenbrechen von Kommunikation in der amerikanischen Gesellschaft.

In meinen Büchern spreche ich durchweg Fragen und Probleme an, die von den Mainstream-Medien und den überwiegenden Einstellungsmustern in der Gesellschaft nicht beachtet werden bzw. bewusst oder unbewusst verdrängt werden. Wiederholte Versuche, den Autor und viele andere, die sich ähnlich äußern, auszugrenzen, ändern aber nichts an den beschriebenen Problemen und Gefahren.

Es wäre ein krasses Missverständnis, wollte man sagen, dass meine Bücher den Rechtspopulismus fördern. Dieser kann aber dann aufblühen, wenn die Probleme und ihre Ursachen, die ich ganz sachlich beschreibe, nicht in den etablierten gesellschaftlichen Strukturen und politischen Parteien aufgegriffen und verarbeitet, sondern quasi ins Kellergeschoss der öffentlichen Debatte verbannt werden.

Ich habe die Vermutung, das Ihr Dekan Niels Werber keines meine Bücher je auch nur aufgeschlagen hat, sonst wäre ja die Stellungnahme der Universität vom 6. November eine bewusst formulierte Unwahrheit. Das will ich weder ihrem Rektor, noch dem Dekan noch den übrigen beteiligten Professoren unterstellen. Es ist viel einfacher: Diese Leute sehen sich moralisch befugt, Bücher wie die meinen quasi auf Eis zu legen und bei den Debatten, die sie führen, und den Meinungen, die sie formulieren, zu ignorieren, weil die Fragestellungen und die Richtung der Analysen nicht zum sozial akzeptierten Mainstream passen.

So bleiben die Geisteswissenschaften und die Richtung ihrer Analyse quasi durch eine Schere im Kopf unter ihren Möglichkeiten. Zum Glück fehlt ihnen trotz des Bündnisses mit großen Teilen der Politik und der Mainstream-Medien die Macht, die Rezeption des Unerwünschten wirklich zu unterbinden. Das zeigt sich gut in meinem Fall: Mein jüngstes Buch Feindliche Übernahme wurde mit 250.000 verkauften Exemplaren zum bestverkauften politischen Sachbuch des Jahres 2018 und hält sich viereinhalb Monate nach seinem Erscheinen immer noch im vorderen Bereich der Spiegel-Bestsellerliste.

In Der neue Tugendterror habe ich 2014 ein Kapitel dem Umgang von Medien und Politik mit Deutschland schafft sich ab und seinem Autor gewidmet. Ich zeige anhand der Debatte 2010/11 minutiös die krassen Fälschungen und Entstellungen auf, mit der die schiere Weigerung verdeckt werden sollte, sich überhaupt mit meinen Aussagen auseinander zu setzen. Diese Schlacht gegen mich, die mich moralisch disqualifizieren und zur Unperson machen sollte, haben Medien und Politik damals klar verloren – auch deshalb, weil viele erkannten, dass es hier der Meinungsfreiheit an den Kragen gehen sollte. Das hindert aber Personen wie Ihren Dekan Prof. Werber nicht daran, genau diesen verleumderischen Stil fortzuführen.

Ich habe mich mit dem Thema Meinungsfreiheit 2014 mit einem sehr gründlich geschriebenen Buch auseinandergesetzt. Ansonsten schweige ich zu dem Thema. Ich nehme die Meinungs- und Redefreiheit für mich in Anspruch und kann andere nicht daran hindern, sich wie ihr Dekan und ihr Rektor selbst zu blamieren, indem sie sich feindselig oder unqualifiziert äußern. Dass ich mich zu diesem Zeitpunkt überhaupt zum Thema Meinungsfreiheit öffentlich äußere, ist allein der Einladung in dieses Seminar geschuldet.

Der Meinungskampf in der Öffentlichkeit ist genau dieses: ein mit aller Härte geführter Kampf. Die Methoden, die man dabei verwendet, fallen auf einen selbst zurück. Wenn man den anhaltenden Niedergang der klassischen Medien und die Krise der Volksparteien betrachtet, so sehe ich allerdings meinen Denkstil und die von mir vertretenen Positionen gegenwärtig eher im Aufwind.

Bei Äußerungen zu meinen Büchern und den in ihnen vertretenen Argumentationen und Meinungen wünsche ich mir nicht unbedingt Zustimmung, sondern lediglich den Respekt und die Zuwendung, die in der konkreten Lektüre und Sachbefassung liegt. Den lässt die zitierte „Stellungnahme“ Ihrer Universität vom 6. November 2018 völlig vermissen. Lektüre und Sachbefassung sind offenbar ausgefallen und wurden durch ein besinnungsloses Verbalmobbing ersetzt, wie es in den absurden Vorwürfen von „Fremdenfeindlichkeit“ und „Extremismus“ zum Ausdruck kommt.

Dabei gilt für gute Wissenschaft das genaue Gegenteil: Man sollte gerade jene Autoren besonders sorgfältig lesen, die die eigene Meinung in Frage stellen, denn nur, wenn man ihre Stärken erkennt, kann man aus ihren Irrtümern lernen. Deshalb ist es ein elementares Prinzip wissenschaftlichen Arbeitens, mit seinen Urteilen, mögen sie noch so begründet erscheinen, nicht aus Quellen zweiter Hand zu leben; und – mit Verlaub – jeder Pressebericht über einen Autor und seine Bücher ist bestenfalls eine Quelle aus zweiter Hand. Wer als Wissenschaftler seriös sein will, informiert sich aus erster Hand im Originaltext, ehe er sich äußert.

Das ist mir im Studium auch so beigebracht worden. Ich habe in Bonn Volkswirtschaft studiert. Im 3. Semester (Sommer 1968) belegte ich im Fach BWL ein Seminar über „Preispolitik“ bei Prof. Horst Albach, dessen wissenschaftliches Renommee als Betriebswirt damals in Deutschland ganz an der Spitze stand.

Ich bekam eine Seminararbeit mit dem Thema „Der sozialistische Preistyp“ und sollte über die theoretischen Grundlagen und den praktischen Vollzug der unternehmerischen Preisbildung in den sozialistischen Staaten des damaligen Ostblocks schreiben. Wochenlang vergrub ich mich in der Bibliothek des Gesamtdeutschen Instituts in Bonn und las in DDR-Zeitschriften zu Fragen der Preispolitik und planwirtschaftlichen Steuerung.

Die Seminararbeit begann mit einem theoretischen Teil, in dem ich die Grundlagen der Marxschen Preis- und Werttheorie erörterte. Ich hatte keine Lust, mich durch hunderte von Seiten im „Kapital“ von Karl Marx zu quälen, sondern las und zitierte in diesem Abschnitt seriöse Sekundärliteratur. Zu meiner großen Enttäuschung wurde die Arbeit nur mit Drei plus bewertet, ich hatte mir eine Zwei erhofft. Begründung des korrigierenden Assistenten: Bei der Darstellung der Marxschen Wertlehre hätte ich in die Primärquellen gehen müssen. Auch die feste Meinung, dass Marx mit seiner Wertlehre krass irrte, die der Korrekturassistent und ich teilten, gab mir nicht die Befugnis, mich in einer Arbeit, die wissenschaftliche Standards erfüllen sollte, auf Sekundärquellen zu berufen.

Diese Botschaft saß bei mir, und ich beherzige sie bis heute. Für mein jüngstes Buch über den Islam Feindliche Übernahme habe ich den Koran komplett gelesen.

(Nur am Rande: 31 Jahre später stiftete mir die Seminararbeit einen ungeahnten Nutzen. 1989, als die Mauer fiel, war ich der einzige Beamte unter den 1.800 Mitarbeitern des Bundesfinanzministeriums und fast der einzige in der gesamten Bundesverwaltung, der einen Begriff von der inneren Funktionsweise einer sozialistischen Planwirtschaft hatte, Das wurde zu einer entscheidenden Wende in meiner Berufslaufbahn. Wissen schadet also nie, selbst dann, wenn es scheinbar unnütz ist.)

Ihr Rektor und Ihr Dekan ziehen sich in der „Stellungnahme“ vom 6. November den Mantel der Wissenschaft über. Tatsächlich agieren sie aber als Westentaschen-Politiker, die noch dazu technisch unsauber arbeiten. Diese Art von „Wissenschaft“ befleckt sich selbst und raubt dem Begriff der Wissenschaft, der auf objektives Wissen um Fakten und Zusammenhänge zielt, sowohl Autorität als auch Würde. Aus meiner Sicht ist das ein Thema für die Gremien Ihrer Selbstverwaltung,

Aber was ist, wenn der darin wohnende Geist auch über der Berufungspolitik Ihrer Universität und der Ausrichtung von Forschung und Lehre schwebt? Dann wird am Ende nicht Geist und Qualität, sondern Gesinnung mit Berufungen und Forschungsgeldern belohnt. Ich fürchte, dass dieser Prozess an vielen deutschen Universitäten längst in vollem Gange ist.

Ich betrachte die deutschen Universitäten diskontinuierlich von außerhalb. Beobach- tungen, die mich erschrecken, möchte ich deshalb nicht zu generellen Aussagen verdichten. Umso mehr haben sich gewisse Erlebnisse und Erfahrungen eingebrannt, von denen ich einige berichte:

  • An der TU Berlin kannte ich den Finanzwissenschaftler und Gesundheitsökonomen Prof. Klaus-Dirk Henke. Er hatte mich einige Male im Rahmen seiner Vorlesung zu einem Vortrag über Finanzpolitik eingeladen, so auch für das Sommersemester 2010. Damals war ich noch im Vorstand der Deutschen Bundesbank. Einige Monate vorher hatte ich mit einem Interview in Lettre International Unmut erregt. Radikale studentische Gruppen drohten mit Störung. Daraufhin untersagte Universitätspräsident Jörg Steinbach meinen Vortrag. Als ich mich brieflich bei ihm beschwerte, antwortete er sinngemäß, ich solle mich nicht so haben.
  • Unmittelbar nach Erscheinen von Deutschland schafft sich ab warf mir der Bonner Politologe Prof. Frank Decker in mehreren Medien Populismus vor. Er konnte das Buch noch nicht gelesen haben, weil es unmittelbar nach dem Erscheinen zunächst vergriffen war. Ein Leser wies ihn darauf hin. Prof. Decker antwortete ihm, seine Meinung über meine Thesen habe er sich anhand diverser Talk-Shows gebildet, in denen ich Gast gewesen sei. Das war unwahr, denn seine öffentlichen Aussagen über meinen angeblichen Populismus fielen vor dem 31. August, dem Tag meines ersten Talkshow-Auftritts zum Buch. Der Leser stellte mir die Korrespondenz mit Prof. Decker zur Verfügung, so dass ich den Wahrheitsgehalt überprüfen konnte. Der Populismus-Experte Prof. Decker ist offenbar, was seine Arbeitsmethode angeht, Ihrem Dekan ein würdiger Bruder im Geiste.
  • Anfang 2011 bat mich der Tübinger Medienwissenschaftler Prof. Bernhard Pörksen, für einen Gesprächsband zur Verfügung zu stehen, den er gemeinsam mit seinen Studenten gestaltete. Ich sagte zu. Zwei von ihm dafür eingeteilte Masterstudenten, ein junger Mann und eine junge Frau, beide etwa Mitte 20, besuchten mich im März 2011, um das Interview zu führen (Vgl. Bernhard Pörksen, Wolfgang Krischke (Hrsg-): Die gehetzte Politik. die neue Macht der Medien und Märkte, Köln 2013). Mich irritierte der aggressive Fragestil, der mich in die rechte Ecke treiben sollte. Ich unterbrach das Interview kurz und fragte, ob ich ihnen zwei Wissensfragen stelle könne. Sie bejahten. Ich fragte: Wann war die französische Revolution? Und worum ging es dabei? Sie konnten beide Fragen nicht beantworten. Sehen sie, sagte ich, wenn Sie das nicht wissen, können Sie die politische Geistesgeschichte Europa gar nicht beurteilen. Wir beendeten das Interview in gemäßigtem Ton, aber ich war zutiefst schockiert, welche gefährliche Halbbildung an deutschen Universitäten möglich ist.

Ich will Sie an dieser Stelle mit weiteren persönlichen Erlebnissen verschonen. Bezogen auf die Geisteswissenschaften war mein generelles Vertrauen in die Qualität von Forschung und Lehre an deutschen Universitäten nie ungebrochen. Es ist in den letzten Jahren nochmals deutlich gesunken.

Generell scheint mir klar, dass der Geist, der an Hochschulen weht, vom allgemeinen Zeitgeist nicht zu trennen ist. Die Hochschulen und die sie umgebende Gesellschaft teilen ihre Hoffnungen, ihre Obsessionen und ihre Irrtümer, und sie werden beide durchweht von einem ähnlichen Geist der Freiheit oder Unfreiheit.

Auch ist Deutschland in Meinungsfragen keine Insel. Wir sind eher eine geistige Provinz und vollziehen weitgehend vor allem das nach, was uns insb. in den USA an Strömungen vorgelebt wird. Gerade an amerikanischen Universitäten gab und gibt es immer wieder heftigste Auseinandersetzungen um die Meinungsfreiheit, deren Opfer oft sehr renommierte Wissenschaftler wurden und werden. Ich denke da an den Intelligenzforscher Artur Jensen oder den Evolutionsbiologen Edward O. Wilson, die beide in den siebziger Jahren auf das Heftigste bedroht und befehdet wurden. Ihre Forschungen haben Bestand und die politischen Anfeindungen überlebt. Sie werden noch zitiert werden, wenn ihre Feinde längst vergessen sind.

Ein Fall aus jüngster Zeit ist die Auseinandersetzung um den in Harvard lehrenden britischen Historiker Niall Ferguson. Er beschreibt in seinen Werken die Gründe für die kulturelle und zivilisatorische Führungsrolle des Westens, spart aber auch die Niedergangsgefahren nicht aus. Er ist verheiratet mit der aus Somalia stammenden Menschenrechtlerin Ayan Hirsi Ali und nimmt gemeinsam mit ihr auch zum Islam eine kritische Haltung ein. Das machte ihn kürzlich in Princeton zu einem unwillkommenen Gast, was eine öffentliche Diskussion auslöste, die auch in das deutsche Feuilleton schwappte.

Beim Nachdenken über das Phänomen der politischen Korrektheit und die damit ver- bundenen Einstellungen habe ich 2011 einen Katalog von Statements entwickelt, die in der Summe den politisch korrekten geistigen Mainstream abbilden. Er enthält nur eine winzige Prise Satire, ist immer noch aktuell und wirkt im Abstand von acht Jahren geradezu seherisch. Wer hier vom „Pfad der Tugend“ abweicht und sich anders positioniert, läuft Gefahr, in die rechte Ecke geschoben zu werden. Er muss mit allerlei Sanktionen rechnen, die oft in Verunglimpfung münden, mindestens aber den Versuch des Totschweigens beinhalten:.

Dieser Katalog, den ich 2014 in Der neue Tugendterror ausführlich erörterte, umfasst 14 Feststellungen, die zusammen das Feld der politischen Korrektheit anschaulich umreißen. Unnötig zu sagen, dass ich zu jedem einzelnen dieser Statements eine abweichende Meinung habe. Hier mein Katalog der politischen Korrektheit:

  1. Ungleichheit ist schlecht, Gleichheit ist gut.
  2. Sekundärtugenden sind nicht wichtig, Leistungswettbewerb ist fragwürdig.
  3. Wer reich ist, sollte sich schuldig fühlen.
  4. Unterschiede in den persönlichen Lebensverhältnissen liegen meist an den Umständen, kaum an den Menschen.
  5. Die menschlichen Fähigkeiten hängen fast ausschließlich von Bildung und Erziehung ab.
  6. Völker und Ethnien haben keine Unterschiede, die über die rein physische Erscheinung hinausgehen.
  7. Alle Kulturen sind gleichwertig, insbesondere gebührt den Werten und Lebensformen des christlichen Abendlandes und der westlichen Industriestaaten keine besondere Präferenz.
  8. Der Islam ist eine Kultur des Friedens. Er bereichert Deutschland und Europa.
  1. Für Armut und Rückständigkeit in anderen Teilen der Welt tragen westliche Industriestaaten die Hauptverantwortung.
  2. Männer und Frauen haben bis auf die physischen Geschlechtsmerkmale keine angeborenen Unterschiede.
  3. Das klassische Familienbild hat sich überlebt, Kinder brauchen nicht Vater und Mutter.
  4. Der Nationalstaat hat sich überlebt. Die Zukunft gehört der Weltgesellschaft.
  5. Alle Menschen auf der Welt haben nicht nur gleiche Rechte, sondern sie sind auch gleich, und sie sollten eigentlich alle einen Anspruch auf die Grundsicherung des deutschen Sozialstaats haben.
  6. Kinder sind Privatsache, Einwanderung löst alle wesentlichen demographischen Probleme.

Ich halte diese Statements allesamt für falsch. Wer sie überwiegend für richtig hält, zeigt sich damit als ein perfektes Kind jenes Zeitgeistes, der gegenwärtig auch durch deutsche Universitäten weht.