Merkel 1999 in der FAZ: „Die Partei muss laufen lernen“ – Und 2017?

Einst wurde Merkel von der FAZ hochgejubelt - Wird sie jetzt von der Zeitung für Deutschland zum Abschuss freigegeben?

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Merkel und die FAZ – das ist eine lange Geschichte, wahrscheinlich sogar ein Thema für eine Dissertation. Hier nur drei markante Daten in Sprüngen.

Die Beziehungskiste FAZ-Merkel beginnt so richtig zu einem Zeitpunkt, als Merkel gerade eben ein gutes Jahr Bundesministerin des Miniressorts für „Frauen und Jugend“ war. Doch schon am 4. April 1992 schrieb die FAZ: „Wenn bisher je eine Frau eine halbwegs anerkannte Aussicht hatte, die erste Bundeskanzlerin aus der Union zu werden, dann Angela Merkel – auch weil sie jung genug ist und die Zeit hat, die Leute an sich zu gewöhnen.“

Der Albtraum dieser Nacht
Jamaika Papers
Am 7. November 1998 war Merkel Generalsekretärin der CDU geworden. Wiederum ein gutes Jahr später bot ihr die FAZ am 22. Dezember 1999, schön platziert vor den leseintensiven Weihnachtstagen, die Möglichkeit, sich von ihrem bisherigen Ziehvater loszusagen. Mit einem Namensbeitrag unter dem Titel „Die von Helmut Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt“ kritisierte Merkel Helmut Kohl heftig, zugleich forderte sie die CDU auf, sich von ihrer bisherigen Führungsperson zu trennen. Wörtlich hieß es in dem Artikel: „Die Partei muss laufen lernen …“ Merkel hatte damit im Anschluss an die Spendenaffäre den Anstoß gegeben, dass das CDU-Präsidium am 18. Januar 2000 Helmut Kohl aufforderte, seinen Ehrenvorsitz ruhen zu lassen. Kohl reagierte hierauf mit einem Rücktritt vom Ehrenvorsitz.

Am 11. April 2010 schwärmte die FAZ im Titel über „Die große Vorsitzende“. Und so ging es dahin. Kritik der FAZ an Merkels Alleingängen etwa in Sachen Atomausstieg oder Grenzöffnung blieb in der Zeitung, „hinter der immer ein kluger Kopf steckt“, recht dezent. Nun gut, manche Leserbriefe hatten es in sich. Aber sie dienten wohl eher als Alibi.

All das scheint seit der FAZ-Ausgabe vom 16. November 2017 vorbei. Die FAZ lässt darin Professor Wolfgang Streeck, den vormaligen Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln, mit dem Namensbetrag „Merkel – Ein Rückblick“ zu Wort kommen. „Rückblick“ – bereits das signalisiert ein Ende.

Screenprint: FAZ

Und tatsächlich geht Streeck zur Sache. Bereits der erste Satz seines Beitrages hat es in sich: „Die Ära Merkel geht zu Ende, und das ist auch gut so. Allmählich erwachen die deutsche Politik und ihre Öffentlichkeit aus ihrer postdemokratischen Narkose.“ Streeck wirft Merkel vor, ihre immer neuen Kehrtwendungen in Richtung der linken Mitte ausschließlich auf „Machterwerb und -erhalt“ ausgerichtet zu haben.

Politiklose Politik
Frau Merkel läuft ihrer Identität davon, Jamaika soll folgen
Als Basis für Merkels Kehrtwendungen sieht der Verfasser deren „extrem niedriges persönliches Konsistenzbedürfnis gegenüber anderen und gegenüber sich selbst.“ Ja, mehr noch: „Plötzliche Politikwechsel belasten den Vertrauenshaushalt eines Staates und bedürfen deshalb besonderer Rechtfertigung.“ Ferner schreib Streeck über die „Monarchin“: „Gewählte Politiker mussten schon aus geringerem Anlass zurücktreten.“

Der Autor übersieht dabei weder den „Schulterschluss zwischen Merkel und dem linksliberalen Mainstream“ noch den Rückhalt für Merkel durch die Kirchen, in der Flüchtlingsfrage namentlich etwa den Kölner Kardinal. Zudem hätten die Medien Merkels Entwicklung „wohlgefällig als individuellen Bildungsroman“ gesehen.

Streeck macht Merkel für das Aufkommen und das Erstarken der AfD verantwortlich. Die Kanzlerin habe die AfD zum Zwecke der Disziplinierung zur Vogelscheuche machen wollen. Die von ihr mitinitiierte Immunisierungskampagne gegen die AfD habe aber das Gegenteil erreicht. Vor allem moniert Streeck, dass mit Merkel der Begriff „Volk“ in den Geruch des Rechtsradikalismus geraten sei und dass nicht wenige ihren Intellekt für immer neue Absurditäten, etwa die angebliche Unmöglichkeit einer Grenzschließung, geopfert hätten.

Anmerkungen zu einer Festrede
Gott zum Gruß, Frau Bundeskanzlerin Merkel!
Streeck sieht in Merkels Willkommenspolitik den Versuch einer „Abgeltung deutscher Schuld“; das sei im Endeffekt aber um den „Preis einer Trivialisierung von Faschismus und Rassismus“ geschehen. Zudem seien die europäischen Nachbarn von dieser „germanozentrischen Flüchtlingspolitik“ überrumpelt worden. Das sei mit ein Grund gewesen, warum der Brexit eine Mehrheit fand.

Alles in allem eine aufrüttelnde und zugleich skalpellscharfe Analyse. Es wird Zeit, dass ihn sich die CDU-Granden zu Herzen nehmen, wenn sie mit ihrer CDU nicht das Verschwinden ihrer damaligen italienischen Schwesterpartei „Democrazia Cristiana“ ab Anfang der 1990er Jahre wiederholen wollen. Oder um es in den Worten der vormaligen CDU-Generalsekretärin Merkel vom Dezember 1999 zu sagen: „Die Partei muss laufen lernen.“

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Kommentare ( 53 )

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Ingolf Bernhard Pärcher
6 Jahre her

Wie Heinz schon gesagt hat, hat die CSU ihr Risikokapital bereits verspielt. Es geht an die Kernwählerschaft und ich weiß nicht, ob der Michel wirklich sooo vergeßlich ist.

Bernd Schreller
6 Jahre her

Die Welt gibt sich mit ihren Foren zu jedem Artikel demokratisch. Weichen die Beiträge nur wenig von der Welt-Linie ab, werden sie zensiert mit dem verlogenen Nettikette-‚Argument‘, das meist in keinster Weise greift. Ein scheindemokratisches Propagandablatt im Stile des Neues-Deutschland zu DDR-Zeiten ist dieses Offenheit-heuchelnde Schmierenblatt. Der Spiegel steht dem in nix nach.

Bernd Schreller
6 Jahre her

Artikel ist, nicht zufällig, im Kulturteil erschienen.

Bernd Schreller
6 Jahre her

…und, zur Gesichtswahrung der staatstragenden Presseorgane und Gruen/innen-Naivlinge, weiterhin die ‚Dunkeldeutschen‘ bleiben.

Dr Merkelstein
6 Jahre her

Mutti darf jetzt noch ein paar Wochen herumschwampeln, dann gibt es entweder Neuwahlen (Gewinner AfD) oder Deutschland wird Jamaika (Gewinner AfD). Jedenfalls ist klar, dass die Ratten begonnen haben, das sinkende Schiff zu verlassen. Merkels Vermächtnis wird trotz allem spektakulär sein: Noch nie hat es ein Politiker ausserhalb Nord Koreas geschafft, sich in jeder Stadt des Landes hunderte von Gedenksteine setzen zu lassen. Lange, lange nachdem Mutti vergessen ist, werden wir die Merkelsteine zu Deutschland gehören wie der Islam.

Bernd Schreller
6 Jahre her
Antworten an  Dr Merkelstein

Ich befürchte, dass bei Neuwahlen, selbst mit Merkel als Spitzenkandidatin, ohne sie noch stärker, die cdU ein gutes Ergebnis einfahren wird. Auch fdP und Grüne werden nicht viel schwächer abschneiden. spD wir zulegen und AfD abnehmen. Die Leute sind so verängstigt unter ihrer lächerlichen cool-arroganten Schale, dass sie sich nicht auf Experimente einlassen werden und den Status Quo, am liebsten GroKo, zementieren werden.

Gerhard
6 Jahre her

OK. akzeptiert. In einem Städtchen, wo ich mal war, war um 12 so gut wie niemand unterwegs. Dort war die SPD ziemlich gut und die AfD ziemlich schlecht. Alles relativ. Aber ich sehe die Argumentation.

Thorben-Friedrich Dohms
6 Jahre her

Da sprechen Sie mir ganz aus der gottlosen Seele.

Alfred Ost
6 Jahre her

Rennen, rennen werden die Berliner Bonzen sobald der Mob nach Zusammenbruch der Sozialsysteme das Regierungsviertel plündert. Ich nehme Wetten an.

Ilonka Müller-Getahun
6 Jahre her

Nicht nur Sie,lieber Johnboy.Ausserdem glaube ich nicht an einen echten Richtungswechsel bei der FAZ.Im höchsten Falle ein vorsichtiges testen, ob der Wind schon gedreht hat.Kritik an Merkel gehört auf Seite 1 und nicht irgendwo versteckt.

Gerd Dammhirsch
6 Jahre her

Danke für den Hinweis auf den Artikel von Streeck.
Das ist ja ein Text wie eine Sprenggranate.