Kann die Türkei mit Erdogan Mitglied der NATO bleiben?

US-Präsident Donald Trump hat telefonisch Recep Tayyip Erdogan zum Referendumssieg gratuliert. Trotz dieser Umarmung lässt sich die Frage, ob die Türkei Mitglied der NATO bleiben kann, nicht unter den Teppich kehren. Von Norbert F. Tofall

© Chris Hondros/Getty Images
Incirlik Air Force Base in der Türkei

In der neuen Lage ist die Frage, ob die Türkei aufgrund ihrer innenpolitischen Verfassung und ihres außenpolitischen Handels Mitglied der NATO bleiben kann, kein Nebenkriegsschauplatz. Erdogan ist nicht nur ein Problem für die Türkei, sondern ein geopolitisches.

I.

Am 15. Juli 2016 wurde in der Türkei geputscht. Und ab dem 16. Juli 2016 wurde in der Türkei gesäubert. Das hat die Einführung eines „Präsidialsystems“ in der Türkei überhaupt erst ermöglicht. Vor dem Putsch vom 15. Juli 2016 waren jahrelang alle Versuche von Erdogan und seiner AKP gescheitert, ein Präsidialsystem auf legalem Wege in der Türkei einzuführen.

Und auch das Ergebnis des Referendums vom 16. April 2017 ist nur unter Verletzung bestehender Gesetze zustande gekommen. Nach geltender türkischer Rechtslage hätten 2,5 Millionen ungestempelter Stimmzettel nicht berücksichtigt werden dürfen. Die Wahlkommission hat die 2,5 Millionen ungestempelter Stimmzettel trotzdem durch eine spontane Entscheidung am Abstimmungstag zugelassen, alle Beschwerden der Opposition und anderer Personen zurückgewiesen und türkisches Recht gebeugt. Der Abstimmungssieg beträgt gerade einmal 1,3 Millionen Stimmen. Ohne die Säuberungen seit dem 16. Juli 2016, durch die unzählige Staatsbeamte, Staatsanwälte und Richter aus ihren Ämtern entfernt worden sind, ist das Verhalten der türkischen Wahlkommission nicht zu erklären. Die Türkei ist weitgehend gleichgeschaltet. Eine Gewaltenteilung besteht nur noch auf dem Papier.

Geopolitisch hat sich nicht nur ein Beitritt der Türkei zur Europäischen Union auf absehbare Zeit erledigt. Obwohl US-Präsident Donald Trump in einem Telefonat Recep Tayyip Erdogan zum Referendumssieg gratuliert haben soll, wird sich die Frage, ob die Türkei Mitglied der NATO bleiben kann, nicht weiter unter den Teppich kehren lassen. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz vor wenigen Wochen wollte dieses Thema zwar noch niemand offen ansprechen. Angesichts der auch in Europa schwelenden Gefahr „Neuer Kriege“ und „Hybrider Kriegführung“ und die daraus entstandene strategische Sicherheitslücke in Europa, könnte jedoch die Ignorierung dieser Frage die NATO in eine sicherheitspolitische Existenzkrise führen. Denn Recep Tayyip Erdogan will durch die Einführung eines Präsidialsystems ein neues Sultanat als Kommandozentrale für ein neues Osmanisches Reich errichten, welches über die Grenzen der heutigen Türkei hinausreicht. Erdogan wird so zu einem geopolitischen Problem für Europa, die USA und die NATO.

II.

Sowohl aus der innenpolitischen Verfassung der Türkei als auch aus ihren außenpolitischen Zielen folgt ein sicherheitspolitisches Dilemma für Europa und die USA. Einerseits will man die „Landmasse“ Türkei nicht aufgeben, weil sie geostrategisch höchst bedeutsam ist. Andererseits könnte die Türkei unter dem Regime von Erdogan innerhalb der NATO notwendige Maßnahmen (bspw. gegen Russland) behindern oder sogar verhindern und so die ohnehin bereits bestehende strategische Sicherheitslücke in Europa vergrößern.

Konkret stellt sich damit die Frage, ab wann die türkische NATO-Mitgliedschaft den Zweck der gesamten NATO konterkariert und ab wann der Verlust der geostrategischen türkischen Landmasse schmerzlich in Kauf zu nehmen ist, um die NATO funktionstüchtig zu erhalten. Der Beantwortung dieser Frage kann nicht durch Spielen auf Zeit ausgewichen werden; denn niemand kann wissen, ob und wann in der Türkei mit einem Regimewechsel zu rechnen ist und sich so das geopolitische Problem Erdogan erledigen könnte. Es könnte sehr schnell gehen, aber auch Jahre dauern.

Das geopolitische Problem Erdogan stellt sich nicht nur bezüglich des Syrienkonflikts, in welchem türkische, russische, europäische, US-amerikanische und terroristische Interessen aufeinander prallen, sondern auch bezüglich des Verhältnisses von Europa und der NATO zu Russland, der Bedrohung durch Terrorismus, leicht entfachbarer neuer Balkankriege sowie der Flüchtlingskrise. Der Syrienkonflikt zeigt indes exemplarisch die höchst unterschiedliche Motivlage einzelner Akteure. Auf dem ersten oberflächlichen Blick ergibt sich ein einfaches Bild. Die Türkei, die USA, die Europäer, die IS-Terroristen und die syrische Opposition wollen den syrischen Machthaber Assad entmachten. Nur Russland will Assad an der Macht halten.

Auf dem zweiten Blick ergibt sich ein vielschichtiges konfliktreicheres Bild. Die Türkei will den syrischen Machthaber Assad stürzen, weil große Teile Syriens für Erdogan historisch zum Osmanischen Reich gehören und ein natürliches türkisches Einflussgebiet und potentielles Anschlußgebiet darstellen. Die Europäer und die USA wollen Assad entmachten, weil sie nur so die Chance für einen friedlichen Neubeginn unter demokratischen Vorzeichen für möglich halten und auch nur in einem demokratischen Syrien nachhaltig Einfluss ausüben können.

Russland hintertreibt sowohl die türkischen Ambitionen als auch die Ziele der Europäer und der USA, um eine eigenständige politische Rolle im Nahen Osten zu spielen. Die türkischen Ambitionen sind für die russische Interessenlage aber weniger gefährlich als die europäisch-amerikanischen. Russland hat sich deshalb mit der Türkei verständigt, um den europäisch-amerikanischen Einfluss zu begrenzen.

Der Autokrat Erdogan hat sich seinerseits mit dem Autokraten Putin verständigt, weil er einerseits mit dem europäisch-amerikanischen Ziel eines demokratischen Syriens nichts anfangen kann und dieses seinen eigenen innen- und außenpolitischen Ambitionen zuwider läuft. Andererseits eröffnet sich Erdogan durch die Hinwendung zu Putin zumindest zeitweise eine geopolitische Alternative zur EU und NATO.

Insgesamt haben sowohl Erdogan als auch Putin im Moment kein Interesse an einer Befriedung des Syrienkonflikts. Und die Nachrichten über mögliche Beziehungen von Erdogan zu terroristischen Gruppen wie dem IS und der Hamas sind zwar nicht neu, gewinnen vor diesem Hintergrund aber eine besondere Brisanz. Wird in Syrien überhaupt wirksam gegen den IS-Terrorismus gekämpft? Mehr als problematisch ist auf jeden Fall, dass autoritäre Regime wie das von Erdogan im Rahmen von „Neuen Kriegen“ und „Hybrider Kriegführung“ mit Terrororganisationen wie dem IS direkt und indirekt zusammenarbeiten könnten.

Dazu kommt, dass durch die militärische Intervention Russlands im Syrienkonflikt die Flüchtlingszahlen in Europa in die Höhe geschossen sind. Das aufgrund dieses ungeregelten Ansturms ausgehandelte Flüchtlingsabkommen zwischen der EU und der Türkei zeigt beispielhaft, dass die Flüchtlingskrise eine Grenzsicherungskrise ist, in der Flüchtlinge für andere politische Zwecke instrumentalisiert werden. Könnten Flüchtlingsströme sogar zu Mitteln der hybriden Kriegführung geworden sein, um betroffene Staaten oder Staatenverbände zu destabilisieren?

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Die Balkanroute ist zur Zeit zwar weitgehend geschlossen. Aber welche Auswirkungen hätten neu entfachte ethnische Konflikte auf dem Balkan? Die ethnischen Konflikte in und zwischen den Ländern des ehemaligen Jugoslawien sind bis heute nicht gelöst, sondern nur eingefroren und können leicht von innen und außen entfacht werden. Durch „Neue Kriege“, „Hybride Kriegführung“ und „Terrorismus“ kann die gesamte Region schnell zum Pulverfaß für ganz Europa werden. Da sowohl Russland als auch die Türkei den Balkan als ihr historisch natürliches Einflussgebiet ansehen, könnten beide versucht sein, hier „Neue Kriege“ zu schüren. Unter „Neuen Kriegen“ werden Kriege ohne formale Kriegserklärung und ohne immer klare Fronten verstanden. Oftmals handelt es sich um maskierte Stellvertreterkriege. In diesen „Neuen Kriegen“ werden über Wochen und Monate Auseinandersetzungen gleichzeitig geschürt und verleugnet. Und der Balkan ist als Operationsfeld für „Neue Kriege“ und „Hybride Kriegführung“ leider mehr als geeignet. Unter „Hybrider Kriegführung“ wird verstanden, dass durch politischen und wirtschaftlichen Druck, massive Propaganda, das Aufstacheln von Protesten der einheimischen Bevölkerung, durch verdeckte Militärmittel und Spezialeinheiten heute selbst ein „blühender Staat im Verlauf von Monaten in einen erbitterten Konflikt ver-wandelt werden und in Chaos, humanitäre Katastrophe und Bürgerkrieg versinken“ (Walerij Gerassimow) kann.

Russland hat durch die Annektierung der Krim und dem verdeckten Krieg im Osten der Ukraine bewiesen, dass es den Willen zu „Neuen Kriegen“ und „Hybrider Kriegführung“ besitzt und bereit ist, seine Interessen auf diesem Wege durchzusetzen. Da „Neue Kriege“ und „Hybride Kriegführung“ geeignet sind, Rückversicherungen und Beistandsverpflichtungen von Verbündeten zu unterlaufen, hat das konventionelle und nukleare militärische Potential Russlands zusammen mit seinem Willen zu neuen Kriegen und hybrider Kriegführung eine strategische Sicherheitslücke in Europa erzeugt. In dieser Lage ist die Frage, ob die Türkei aufgrund ihrer innenpolitischen Verfassung und ihres außenpolitischen Handels Mitglied der NATO bleiben kann, kein Nebenkriegsschauplatz. Erdogan ist nicht nur ein Problem für die Türkei, sondern ein geopolitisches.

(Dieser Text wurde ursprünglich als Kommentar zu Wirtschaft und Politik des Flossbach von Storch Research Institute am 21. April 2017 unter www.fvs-ri.com veröffentlicht.)

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Kommentare ( 42 )

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42 Comments
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Ivan De Grisogono
6 Jahre her

Natuerlich sind die s.g, Minderheiten in Syrien Putin ganz „wurscht“. Seit Putins aktiver Eintritt in Syrien Krieg sind ein Paar Hundertauesend Menschen mehr zum Opfer gefallen.
Putin nutzte Obamas Schwaeche und Ratlosigkeit des Westens um sich durch Aggression im Nahen Osten zu etablieren und Westen zu verdraengen!

Reinhard Peda
6 Jahre her

Es geht immer um das selbe, Ausbeutung anderer. Das Volk kann sich nur durch weitgehende Einführung der direkten Demokratie gegen die eigene Ausbeutung wehren. Im Link erstmal das von den Zecken lesen: http://www.rottmeyer.de/warum-frau-yellen-alles-nur-noch-schlimmer-macht/ Wenn diese „Zecken“ nichts mehr zu melden haben, kann die Welt so organisiert werden, das es zum Ausgleich zwischen den Staaten (Völkern) kommen kann, ohne Übervorteilung und Ausbeutung nach vorigem Muster. Zum weiteren Verständnis, Stützel / Saldenmechanik: http://www.saldenmechanik.info/ Geld fließt immer von Arm nach Reich, weil die Reichen ihre Investitionen, den Armen in Rechnung stellen! Um diesen Geldfluss zu befriedigen, und eine wirtschaftliche Rezession zu Vermeiden, muss… Mehr

Eugen Karl
6 Jahre her

Die Absicht, in Syrien demokratische Verhältnisse zu installieren, kann nur noch ….. haben, der aus sämtlichen bisher fehlgeschlagenen Versuchen nichts gelernt hat. Solche …… sind weder die Amerikaner noch die Europäer. Dieses ehrenwerte Motiv fällt als Erklärung daher komplett aus.

Rheinschwimmer
6 Jahre her

Hinter allem von Herrn Tofall hier in Rede Gebrachtem stehen geopolitische Interessen der jeweils Beteiligten. Die Frage ist, können die teils gegenläufigen, teils kompatiblen Interessen „irgendwie“ auf dem Weg von Verhandlungen nach den alten Rezepten, „das gebe ich dir, das bekommst du von mir, indem du mir das gibst, was mir als angemessen erscheint indem ich dir entgegenkomme“ berücksichtigt werden oder werden die Angelegenheiten in einem Kräftemessen entschieden, in dem die eine Seite der feststellbare Gewinner, der ander der erkennbare Verlierer ist. Der ursprüngliche aussenpolitische Ansatz von Trump, als neuem player, war der des Dealmakers, der durchaus interessiert schien einen… Mehr

AngelinaClooney
6 Jahre her

„Könnten Flüchtlingsströme sogar zu Mitteln der hybriden Kriegführung
geworden sein, um betroffene Staaten oder Staatenverbände zu
destabilisieren?“ Eindeutig ja, und mit diesen Strömen lassen sich Massen von Kampfwilligen einschleusen. Unsere Regierung und die „open Boarder“-Fraktion müssen – Verzeihung – echt hirnverbrannt sein. Wenn hier auf europäischen bzw. deutschem Boden Kriege ausbrechen, dann hat der deutsche Wahl- und Steuermichel dies mit seiner Arbeitskraft (Steuerzahlung) und seinem ehrenamtlichen Engagement (Flüchtlingsbetreuung) sogar noch selbst tatkräfig unterstützt.

Der Autor gehört zu den „Warnern“ – doch werden diese an entscheidender Stelle auch gehört?

Gerd
6 Jahre her

Kann Deutschland in der NATO bleiben? Können die USA in der NATO bleiben? In Deutschland regiert eine marxistische Autokratin, die – im Gegensatz zu Erdogan – weder ihr Parlament noch ihr Volk über ihre Ermächtigung abstimmen ließ. Die USA überziehen ein Land nach dem andern mit Krieg, destabilisieren damit große Teile der Erde und bezeichnen dies als Demokratisierung und Friedenseinsätze. Die NATO war noch nie so verlogen wie heute. Da spielt es keine Rolle, ob ein
Undemokrat mehr oder weniger Mitglied in diesem Verein ist.

Schwabenwilli
6 Jahre her

Eines glaube ich auf gar keinen Fall, das Putin und Erdogan gute Freunde werden. Was da noch nachkommt, bin ich mal gespannt.

Caleb Stone
6 Jahre her

Ein Bündnis mit Menschen, welche nicht unter die selbe Menschenrechts Charta passen, sollte in sich selbst als nichtig betrachtet werden.

Kuno
6 Jahre her

Russland hat keine „Krim annektiert“ wie in obigem Beitrag behauptet. Erst nach dem Putsch in Kiew haben die Russen auf der Krim, die dort die absolute Mehrheit haben, ein Referendum zur Trennung von Kiew und Anschluss an Russland vorangebracht. Russland hat das geduldet und wahrscheinlich auch gefördert. Entscheidend ist jedoch, dass die Bevölkerung von Kiew, die bis 1956 zu Russland gehörte, das Recht zur Trennung von der Ukraine zugebilligt werden muss. Wenn sich die Nato darauf verständigen könnte, weder gegen Russland, noch gegen China Krieg führen zu müssen, dann wäre die Nato Mitgliedschaft der Türkei im Grunde unwichtig. Ein Krieg… Mehr

Ivan De Grisogono
6 Jahre her
Antworten an  Kuno

Kreml hat sich mit voelkerrechtswiedrigen Krim-Annexion und Verletzung des Budapester Memorandums, unter Putin endgueltig entlarvt. Das ist bei UNO bekannt und so sieht es auch die russische Zivilgesellschaft die unter Putin leidet. Die Kleptokraten verdienen es mit gruenem Antiseptikum im Gesicht entlarvt zu werden.

Es ist ein Maerchen zu glauben, dass nur noch Atomwaffen in Kriegen zum Einsatz kommen.

Jo
6 Jahre her

……… „Die Europäer und die USA wollen Assad entmachten, weil sie nur so die Chance für einen friedlichen Neubeginn unter demokratischen Vorzeichen für möglich halten und auch nur in einem demokratischen Syrien nachhaltig Einfluss ausüben können.“ . Diesen Satz musste ich zweimal lesen, da ich nicht glauben konnte, ………. Der EU und den USA geht es also um Errichtung einer Demokratie in Syrien und deshalb muss der Assad nun einfach mal weg. Echt ernst gemeint ? ………….. Ich erspare mir die Aufzählung der Länder, in welche die USA – meist unterstützt von EU oder zumindest wesentlicher Länder der EU –… Mehr