Tichys Einblick
Gerhard Scheuch im TE-Interview

Führender Aerosolwissenschaftler: „Großteil der Maßnahmen völlig wirkungslos“

Gerhard Scheuch war Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin. Hier erläutert er, wie und wo sich das Corona-Virus in Wirklichkeit verbreitet. Die Erkenntnisse der Aerosol-Wissenschaft stellen das Verständnis der Pandemie auf den Kopf - die Politik ignoriert sie.

Gerhard Scheuch ist Bio-Physiker und ehemaliger Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin. Er gründete mehrere Pharmaunternehmen und ist Regulatory Expert bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur EMA. Gemeinsam mit anderen Aerosol-Wissenschaftlern publizierte er einen viel beachteten offenen Brief an die Politik, in der die Wissenschaftler verschiedene Maßnahmen der Bundesregierung kritisierten und auf ihre Erkenntnisse hingewiesen haben (TE berichtete).

Jüngst startete er einen Podcast zum Thema Aerosole und Corona, der jeden Freitag neu erscheint. Hier können Sie sich die erste Folge ansehen. 


TE: Wie genau sich das Corona-Virus verbreitet, steht im Mittelpunkt der Debatte – aber irgendwie weiß man darüber eigentlich sehr, sehr wenig. Die Daten des RKI dazu sind spärlich. Sie sind Fachmann auf genau dem Gebiet. Klären Sie uns bitte auf: Wie finden Corona-Infektionen in der Regel statt?

Gerhard Scheuch: Wir glauben, dass der klassische Infektionsweg der sogenannte aerogene Übertragungsweg ist, sprich über die Luft. Das hat man am Anfang noch nicht so im Blick gehabt. Da hat man immer noch gedacht, es gäbe eine Kontaktübertragung oder sogenannte Tröpfchen- oder Tropfenübertragung, die wir Aerosol-Wissenschaftler zumindest aber immer schon etwas skeptisch gesehen haben. Es kristallisiert sich immer mehr heraus, dass der wirklich entscheidende Übertragungsweg über die Aerosole, also die Luft stattfindet.

Wenn die Übertragung über die Luft und nicht über Tröpfchen stattfindet, würde das dann nicht bedeuten, dass Abstand halten relativ sinnlos ist?

Ja, das scheint so zu sein. Gerade ist eine neue Studie vom Massachusetts Institute of Technology (MIT) erschienen, die genau das festgestellt hat: Es ist im Innenraum relativ egal, ob der Abstand nun 30 Zentimeter oder 20 Meter beträgt – die Aerosole verteilen sich einfach sehr schnell im ganzen Raum.  Es geht mehr um die Zeit, die man in einem Raum verbringt.

Und wie sieht es dann mit den Masken aus? Die halten doch auch in erster Linie Tröpfchen auf …

Am Anfang war das ganze Maskentragen ja sehr umstritten. WHO und RKI haben das zunächst überhaupt nicht empfohlen. Dann irgendwann hat man gesagt: Bindet euch irgendein Tuch um, um die Tröpfchen zurückzuhalten. Jetzt muss man chirurgische oder sogar FFP2-Maske tragen. Die halten tatsächlich auch Aerosole ab. Aber: Eine Maske nützt kaum etwas, wenn ich mir die nur so locker übers Gesicht ziehe und sie nicht dicht ist. Dann atmet man an der Maske vorbei, die Luft sucht sich den Weg des geringsten Widerstandes. Und die meisten Menschen tragen die Masken leider nicht korrekt, weil sie natürlich sonst an der Atmung gehindert werden. Die FFP2-Masken haben schließlich einen starken Widerstand, wenn man sie richtig trägt – im Arbeitsschutz darf man die nur 75 Minuten am Stück tragen, das hat schon seinen Grund.

Sie haben einen Podcast gestartet: „Open Air statt Ausgangssperre“. Ist es wirklich so einfach? Ist das Mittel gegen dieses Virus – das die ganze Welt seit über einem Jahr ja irgendwie in der Krise hält – wirklich einfach: frische Luft?

Ja, das scheint so zu sein. Es gibt viele, viele Untersuchungen, die festgestellt haben, dass im Außenbereich so gut wie keine Infektionen stattfinden. Das ist auch logisch: Ich sitze hier jetzt im Büro und atme ständig ein und aus und rede mit Ihnen. Ich produziere Aerosol-Teilchen, die fliegen hier im ganzen Raum herum, und je länger ich mich hier im Raum aufhalte, umso höher wird die Konzentration. Das passiert draußen nicht. Wenn ich draußen sitze, steigt die ausgeatmete Luft sofort weg, die ist schließlich wärmer als die Umgebungsluft. Wenn dann noch ein bisschen Wind weht, dann verfliegt das ohnehin sofort. Im Außenbereich kann man nur jemanden anstecken, wenn man ganz dicht beieinander steht. Eine chinesische Studie zeigte, dass auf 7.324 Infektionen insgesamt eine Infektion im Außenbereich gekommen ist.

Man muss bei den Maßnahmen die ganze Konzentration auf den Innenbereich legen, der Außenbereich muss einen eigentlich gar nicht interessieren. Was hilft es mir, diese 1 oder 0,1 Prozent zu verhindern, wenn ich 99,9 Prozent der Infektionen weiterhin stattfinden lasse? Das heißt, ich muss mich auf den Innenraum konzentrieren – und deswegen ist mein Motto: Open-Air statt Ausgangssperre. Ausgangssperre ist damit nicht politisch gemeint, sondern wörtlich: Die ist nämlich sinnlos und unsinnig, wenn man damit die Menschen ja gerade dazu zwingt, sich in Innenräumen aufzuhalten, wo die Infektionen stattfinden.

Wenn Sie Open Air sagen, weckt das Assoziationen an Open Air Festivals. Wir sehen aktuell die Bilder aus Texas: 30.000 Menschen wieder im Stadion. Wenn die ein bisschen Abstand halten, wäre da Ihrer These nach ja kaum eine Gefahr? Droht da kein Superspreader-Event?

Im Außenbereich gibt es keine Superspreader-Events, selbst in einem Fußballstadion nicht. Das hat ja letzten Sommer in Deutschland stattgefunden. Da waren Fußballspiele mit Zuschauern erlaubt, zwar mit begrenzter Zahl, aber in Dortmund bspw. waren immerhin 10.500 Leute im Stadion. Der Oberbürgermeister von Dortmund hat anschließend gesagt, dass sie dort keine einzige Infektion festgestellt haben. Das ist eben ungefährlich. Wenn Sie in einem Stadion sind, dann stecken Sie maximal denjenigen, der gerade mit Ihnen in ganz engem Kontakt steht, an. Aber Sie stecken nicht das ganze Stadion an. Das ist im Innenraum anders. Wenn wir an Ischgl oder an Heinsberg denken (das waren Innenräume): Da hat eine Person tatsächlich eine ganze Menge Leute angesteckt, weil die Aerosole sich im ganzen Raum verteilten.

Viele Maßnahmen – etwa die Schließung der Außengastronomie oder die Ausgangssperren – sollen Infektionen im Außenbereich verhindern. Jetzt sagen Sie: Die gibt es fast gar nicht. Diese ganzen wahnsinnig repressiven Maßnahmen, die Grundrechte in bisher ungekannter Weise einschränken, sind einfach grundlos? 

Aus aerosolwissenschaftlicher Sicht muss man sagen, dass der Großteil der Maßnahmen völlig wirkungslos ist. Wirkungen bringen Maßnahmen im Innenbereich. Da muss man handeln. Da bin ich sogar dafür, in Teilen noch härter zu handeln.

Aber wenn frische Luft die Lösung ist – kann man dann nicht auch die Innenräume viel einfacher schützen?

Genau. Wir haben im Positionspapier der Gesellschaft für Aerosol-Forschung sechs Maßnahmen empfohlen. Man muss die Anzahl der Menschen, die sich gleichzeitig in Innenräumen aufhalten, reduzieren und vor allem die Zeit, die sie sich dort aufhalten (das ist ein ganz entscheidender Punkt), auch die Größe des Raumes spielt eine wichtige Rolle. Und ein wichtiger Punkt ist auch das Lüften. Wenn ich ein Fenster aufmache, kann ich den Luftaustausch eben stimulieren. Und man kann Raumluftreiniger einsetzen. Wir haben hier in jedem Büro bei uns in der Firma so ein Ding stehen. Da haben wir uns letztes Jahr schon den Mund fusselig geredet, dass man diese Geräte in den Schulen, in den Altenheimen, in den Wohnheimen, in den Pflegeheimen einsetzen soll.

Diese Idee mit den Raumluftfiltern wurde ja immer ein bisschen belächelt. Weil man es sich so schwer vorstellen kann: So ein kleiner Filter soll die ganze Luft in einem Klassenzimmer, gar einer Aula umwälzen können und von Viren reinigen?

Für eine Aula braucht man natürlich schon größere Gerätschaften. Wenn Sie so ein kleines Ding in der Aula aufstellen, dann bringt das nichts. Aber es gibt mobile Geräte, die überall dort zum Einsatz kommen können – und die filtern auch Viren, das ist einfach so. Verschiedene Studien sagen mittlerweile klar: man muss die Raumluft etwa vier bis sechsmal pro Stunde umwälzen, um effektiven Schutz zu gewährleisten. Gerade heute habe ich einen Bericht aus Kanada bekommen. In Quebec hat man mal untersucht, wie sich Schulen mit und ohne diese Rumluftfilter entwickelt haben. Und das Ergebnis ist eindeutig: Dort, wo die Raumluft Filter eingesetzt worden sind, waren drei bis vier mal weniger Corona-Fälle als in den anderen Schulen.

Als Aerosolwissenschaftler sind Sie ja eine für das Verständnis von Corona zentrale Forschungsdisziplin. Aber irgendwie hört man selten, dass ein Aerosolforscher von der Kanzlerin eingeladen wird, oder bei Markus Lanz sitzt. Warum werden Sie so wenig wahrgenommen?

Wahrscheinlich liegt’s an der Komplexität. In Deutschland gibt es bestimmt 1.000 Aerosolwissenschaftler, die sich auch organisieren. Wir haben uns regelrecht aufgedrängt. Wir haben versucht, die Leopoldina anzusprechen. Wir haben versucht, mit dem Bundestag in Kontakt zu treten. Wir haben versucht uns anzubieten, aber es wurde gerade am Anfang völlig ignoriert. Da dachte man, man muss sich die Hände waschen, oder es ging um Tröpfchen-Infektionen. In den USA vor allem: Die tragen jetzt zwei Masken übereinander, weil die immer noch diese eigentlich wirkungslosen Stoffmasken einsetzen.

Uns als Aerosol-Forscher war früh klar, was wichtig ist. Aber wir wurden oftmals einfach  ignoriert.

Glauben Sie nicht, dass es auch daran liegen könnte, dass die Politik Sie und Ihre Kollegen nicht einlädt, weil Ihre Ergebnisse nicht ins politische Konzept passen?

Das kann ich jetzt nicht beurteilen. Ich glaube, wir waren zu lange auch zu leise und zu nett. Nicht präsent genug. Wir müssen uns da auch an die eigene Nase fassen. Irgendwann haben wir diesen offenen Brief geschrieben, dann kamen viele Anfragen. Ich selbst war im Gesundheitsausschuss des Bundestages eingeladen und bin jetzt wieder auf der Liste.

Vielen Dank für das Gespräch!

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