Ein Beben geht durch das Grundgefüge der Demokratie

Die Thüringer sind Anlass, nicht Ursache für eine Erkenntnis: Die Gesetze der alten Parteiendemokratie gelten nicht mehr. Deutschland erlebt eine Strategie- und eine Sinnkrise. Doch was kommt jetzt? Wie sehen künftig Koalitionen aus? Eine Analyse.

Jens Schlueterr/AFP/Getty Images

Eine besondere Aufregung hat die Demokratie in Deutschland erfasst. Da ist in den Schlagzeilen von ,Schande‘, von ,Schock‘ die Rede. Das Geschehen wird als ,verheerend‘, als ,verantwortungslos‘ bezeichnet. Und dabei handelt es sich bei diesem Ereignis-Phänomen zunächst nur um die Folgen einer Landtagswahl in einem relativ kleinen Bundesland. Es handelt sich um Thüringen. Aber zugleich geht offenbar ein Beben durch das Grundgefüge der Demokratie. Die politisch-kulturellen Fundamente scheinen zu erodieren. Es handelt sich zweifellos um einen Weckruf, über Bedingungen und Möglichkeiten langfristigen demokratischen Erfolges und politischer Stabilität nachzudenken.

Das alte Machtkalkül verlor seine Stabilität

Das, was zweifellos als eine Selbstbeschädigung der Demokratie oder sogar dramatischer als Selbstvergiftung einzuordnen ist, begann zunächst mit einer ganz normalen Landtagswahl. Das Ergebnis war nicht in jeder Hinsicht sensationell. Es lag im Trend der vorhergehenden Wahlen. Aber man konnte nicht einfach zu einem „Weiter so“ durchwinken. Die traditionellen Volksparteien hatten an Stimmen verloren und die führende Regierungspartei – die Linke – hatte dazugewonnen. Aber die bisherige rot-rot-grüne Regierung hatte ihre Mehrheit eingebüßt. Nun galt es eine neue Machtarchitektur zu entwerfen.

Mit dieser elementaren Herausforderung begann nun das eigentliche Drama: Der Wahltag gab den Auftrag, eine neue strategische Perspektive einer zukunftsfähigen Demokratiekultur zu entwickeln. Die am Wahlabend scharf formulierten Ablehnungen mussten im Laufe der Zeit ihre Wirkung einbüßen.

Aber wie konnte es zu diesem Aufbruch kommen, bei dem das alte einfache Machtkalkül seine Stabilität verlor?

Den Beobachter schmerzte nun das Deutungs- und Erklärungsdefizit der Politik. Die Erosion der politisch-kulturellen Grundlagen öffnete den Markt für extremistische, populistische Slogans. Die Politik begegnet den großen Herausforderungen entweder mit situativem Krisenmanagement oder mit Ratlosigkeit. Die Sehnsucht der Bürger nach strategischen Zukunftsperspektiven bleibt unbeantwortet. Die Politik nimmt eben Abschied vom kulturellen Horizont der Orientierungsnotwendigkeit.

„Die politischen Wirren von Erfurt“

Zu den Vorgängen in Thüringen mit bundesweiter Ausstrahlung wurden starke Begriffe gefunden: ,Politik-Chaos‘, ,die politischen Wirren von Erfurt‘, ,mit dem Feuer gespielt‘. ,unverzeihliche Schock-Wellen‘, ,Blame Game‘. Den starken Worten folgten diverse Führungswechsel. Es wurde klar, welch ein massiver Schaden in kurzer Zeit zugefügt wurde. Es schien geradezu ein Wettkampf im Verhindern zu sein. Nichts erscheint bis heute als wirklich geklärt. Keine Lösung in mittel- und langfristiger Perspektive wird greifbar.

Demokratie lebt vom Vertrauen. Es muss uns alarmieren, dass das empirische Datenmaterial uns mehr und mehr das Bild der Misstrauensgesellschft liefert. Thüringen zeigt, wie Demokratie unter Selbstvergiftung leiden kann. Wir erleben eine Vertrauensvernichtung von Politik in einer Dimension, die über viele Jahre in Erinnerung bleiben wird: Tricksen, Hakenschlagen, Widerlegung der Festlegung von Gestern.

Die Komposition der Grundlagen ist klar: Die herkömmlichen, traditionell bekannten Koalitionen finden keine Mehrheit mehr. Die Demokratie rückt von der Mehrheitsdominanz in die Minderheitenarchitektur. Neue Farben für neue Koalitionsformationen sind zu erfinden. Inzwischen sehen in Deutschland 52 Prozent der Bürger die Demokratie in Gefahr. Und mehr als 70 Prozent sagen, dass sie das alles nicht mehr verstehen. Die Antwort auf dieses Misstrauensdilemma besteht in wachsender Aggression. Im Alltag wird gerempelt. Hasstiraden erfüllen die digitale Welt. Der Markt für aggressive Einfachformeln wird weit geöffnet.

Verunsicherung, Besorgnis, Frustration

Wo früher Zufriedenheit, Zuversicht, Selbstgewissheit dominierten, sind nun Verunsicherung, Besorgnis, Frustration festzustellen. Das politisch-kulturelle Unterfutter hat sich weit über Thüringen hinaus tiefgreifend verändert.

Das Bild von der Zukunftsgesellschaft, die Konzeption des künftigen Zusammenlebens, die Beschaffung von Legitimation, die Regelung der neuen weltpolitischen Risikostrukturen – alle diese Megathemen bleiben ohne präzise Behandlung. Stattdessen werden viele Details in einem situativen Krisenmagagement angegangen – vom Klima zur Migration, vom Wohnungsbau zur Landwirtschaft. Diese Sprunghaftigkeit wird begleitet von den üblichen Machtspielen. Wer wird wen wie aus der politischen Führung abräumen? Die Strategiekrise der Republik verbindet sich auf fatale Weise mit den Sinnkrisen der verschiedenen Parteien. Die diversen Rochaden der Parteien – mal dagegen, mal dafür – und die ungeklärten internen Konflikte – dies alles nagt am kulturellen Kern der Politik: Vertrauen wird angegriffen, verbraucht, ja zerstört. Und Vertrauen ist der Sauerstoff der modernen, höchst arbeitsteiligen Gesellschaft. Ohne Vertrauen finden wir nur noch eine vergiftete Gesellschaft vor – erkrankt, in schwerer Krise.

Ganz offensichtlich gilt es nun, die Kunst einer zivilisierten Auseinandersetzung wieder einzuüben. Auf dieser Grundlage ist dann gemeinsam neu eine strategische Kultur zu entwickeln. Nur auf einem solchen Weg kann aus der politischen Tragödie in Thüringen ein Lernprozess mit einer positiven Perspektive angestoßen werden.


Werner Weidenfeld ist Direktor des Centrums für angewandte Politikforschung der Universität München und Rektor der Alma Mater Europaea der Europäischen Akademie der Wissenschaften und Künste in Salzburg.


Dieser Beitrag ist zuerst bei Die Tagespost erschienen.

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Kommentare ( 42 )

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42 Comments
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Ursula Schneider
4 Jahre her

Ich bin erschüttert von diesen tiefschürfenden, ganz neuen Erkenntnissen! Vertrauenskrise – Selbstvergiftung der Demokratie – Sinnkrise der Parteien …
Die Ursachen? „Tricksen“, „Haken schlagen“ und die „Widerlegung der Festlegungen von gestern“. Hm.
Und die Lösung? „Die Kunst einer zivilisierten Auseinandersetzung wieder einüben und gemeinsam neu eine strategische Kultur entwickeln.“ Sensationell.
Noch Fragen? Natürlich nicht. Alles wissenschaftlich analysiert und erschöpfend beantwortet. Typisch TE (Smiley) …

Sonny
4 Jahre her

Verantwortlich für all dies sind unsere Altparteien und hier im besonderen Angela Merkel. Es gibt keinerlei Verlässlichkeit mehr, morgen schon kann alles ins Gegenteil verkehrt werden (Atomstrom!) und vieles sogar rückwirkend. Was also heute legitim ist, wird morgen schon rückwirkend zum Gesetzesverstoss. Gleichzeitig werden eklatante Gesetzesverstösse nicht geahndet. Der „kleine Mann“ muss bluten, während es sich „die da oben“ gut gehen lassen und außerhalb der Gesellschaft befinden. Einer Gesellschaft, die für jegliche Bagatelle schmerzhaft zur Rechenschaft gezogen wird. Wo es keine Verlässlichkeit mehr gibt, verschwindet natürlich das Vertrauen und was viel wichtiger ist – es verschwinden die Investoren. Über Demokratie… Mehr

Roland Mueller
4 Jahre her

Lieber Herr Weidenfeld, die Ursache für die von Ihnen genannten Probleme sind aus meiner Sicht Dekadenz und verbohrte Ideologie in den Reihen der Altparteien. Wer zum Beispiel gegen die Verbesserung der Wasserversorgung stimmt, weil der Vorschlag von der „falschen Partei“ stammt, ist aus meiner Sicht ein unverbesserlicher Idiot.

Der Ketzer
4 Jahre her

„Die Erosion der politisch-kulturellen Grundlagen öffnete den Markt für extremistische, populistische Slogans.“
Über diese Phase sind wir doch längst hinaus. Die „antifaschistischen“ Sturmabteilungen sind bereits auf den Straßen (und vor den Häusern gewählter Abgeordneter).
Wo sind eigentlich die „Hohen Kommissare“, wenn man sie mal braucht? (https://www.zeit.de/2009/21/D-Souveraenitaet)

ugartner
4 Jahre her

Deutschland wird in den kommenden 20 Jahren zwei Phasen erleben. Phase eins ist die komplette Umsetzung der informell bereits existierenden Linksdiktatur, zwangsläufig einhergehend mit dem Verschwinden letzter Reste bürgerlicher Werte und relevanter wirtschaftlicher Wertschöpfung. Die vermodernden Reste gehen dann auf in einer islamischen Republik.

Winni
4 Jahre her

Sinnbildlich für unsere Demokratie und unser Land steht die Situation als Merkel nach der Wahl ihrem Generalsekräter das Deutschland- Fähnchen aus der Hand riss und dieser Lakai mit Stoppelfrisur – wer erinnert sich noch an den Namen dieses Hanswurstes, der danach sogar noch Minister wurde – noch dazu blöd applaudiert hat. Man muß es nicht verkomplizieren: Die Totengräber dieser Demokratie sind nicht die Linken, es sind die verkommenen Funktionär/innen der Union. In der Führung handelt es sich mitlerweile um einen Haufen halbgebildter Karrieristen und Dummschwätzer. Die Intelligenz ist ausgetreten. **

Kunze
4 Jahre her

Diese Darstellung bleibt zu sehr im Allgemeinen und Abstrakten. Seit Schröder seine Wähler verraten hat, seit Merkel es ihm nachmachte und zudem mehrmals offensiv und willkürlich den Rechtsstaat infrage stellte und bedeutende (Fehl-)Entscheidungen einfach willkürlich durchdrückte, seitdem gibt es in Deutschland einen zunehmenden Vertrauensverlust und einen wachsenden zivilgesellschaftlichen Widerstand. Radikal waren hier die politisch Verantwortlichen und gerade auch ihre medialen Helfer, nicht irgendwelche „Ränder“ und sozialen Medien. Niemand sollte Ursache mit Wirkung verwechseln und die Täter*Innen sollten mit „Haltet den Dieb“ nicht durchkommen. Thüringen hat nur noch einmal in aller Deutlichkeit gezeigt, wie wenig wert von den Verantwortlichen inzwischen die… Mehr

Alfonso
4 Jahre her

„Ein Beben geht durch das Grundgefüge der Demokratie“

Das Grundgefüge der Demokratie ist längst zerstört. Das passierte hier bei uns in Deutschland ohne die geringste Spur von Beben, da sich die sogenannten Eliten aus Politik und Wirtschaft einig darüber sind, dass Demokratie ein Schreckgespenst ist, das man nicht braucht, um die Untertanen an der Leine zu halten.

Eberhard
4 Jahre her

„Ganz offensichtlich gilt es nun, die Kunst einer zivilisierten Auseinandersetzung wieder einzuüben.“ Da ist keiner da, dem das Kunststück zu zu trauen. Die Politik versagt zunehmend. Spaltungen wohin man sieht. Nur noch hart Links und hart Rechts? Da sind keine notwendigen Kompromisse möglich. Wo ist die gerade seit Merkel immer mehr geschrumpfte Mitte geblieben? Und selbst Links und Rechts sind untereinander nochmals gespalten. Dazu noch in Ost und West. Und als Krone des Ganzen Spaltung wegen globaler Probleme, die eine einzelne Nation überhaupt kaum beeinflussen kann. Aber der eigentliche Grund für alle diese Demokratieverzerrung sind erzeugte Ängste, die den Menschen… Mehr

Ananda
4 Jahre her

Aggressive Einfachformeln, wie jede abweichende Meinung als „Nazi“ und rechtsextrem zu diffamieren, zieht sich doch durch fast alle Parteien. Info am Rande: Die Rechtsanwälte der AfD haben eine Unterlassungserklärung erwirkt, in der der vertraglicher Unterlassungsschuldner die Bundesrepublik Deutschland ist. Weder die Kanzlerin, noch ihre Minister oder die Bundesbehörden dürfen die AfD als rechtsextrem benennen, egal ob in Stellenanzeigen oder anderswo.“ Freiwillig hören die Altparteien Hetzer wohl nicht auf. Vertrauen in Jemanden, der den Bürger chronisch belügt, uns beleidigt und den Deutschen nur schadet??? Nee, die sind eher nicht reformfähig. Es müssen sich schon beide Seiten an die ehemals selbstverständlichen Spielregeln… Mehr