Die quälend langsamen Wirkungen der Bundestagswahl 2017

Am Morgen nach Trumps Wahlsieg war die Welt bereits eine andere. Deutschland holt nur auf. Erst wenn Merkel abgelöst ist, wird das Ergebnis der letzten Bundestagswahl vollumfänglich in die politische Realität umgesetzt.

© Sean Gallup/Getty Images

In diesen Tagen zeigt sich wieder einmal, warum das anglo-amerikanische Mehrheitswahlrecht doch einige praktische Vorteile über das deutsche Verhältniswahlrecht besitzt. In den USA beispielweise führt das Mehrheitswahlrecht (wenn auch nur indirekt durch das Wahlmännersystem) zur bekannten Konzentration des politischen Spektrums in nur zwei relevanten Parteien – mit allen damit unzweifelhaft verbundenen Problemen. Jedoch sorgt das Mehrheitswahlrecht für klare Verhältnisse: Es kann nur einer gewinnen. 2016 traten in den USA zwei extrem polarisierende (und unbeliebte) Kandidaten gegeneinander an und das amerikanische Wahlvolk entschloss sich, dem weniger unbeliebten von beiden für vier Jahre die Chance zu geben, unter Beweis zu stellen, was er im (oder gegen selbigen) politischen Betrieb ausrichten kann. Seine Gegnerin wurde in der Wahlnacht vor den Augen der gesamten Weltöffentlichkeit blamiert, beendete daraufhin hoffentlich ihre politische Karriere und verdient seitdem massig Geld mit Büchern über ihre Niederlage und Vorträgen.

Das Verhältniswahlrecht besitzt diese Tendenz zu klaren Verhältnissen bekannterweise nicht. Es bietet dagegen die (theoretische) Möglichkeit zur differenzierteren Repräsentation des Wählerwillens, indem es keine der Stimmen, die die Größe einer Parlamentsfraktion bestimmen, unter den Tisch fallen lässt (sofern die Zweitstimmen für eine Partei in Deutschland die Fünfprozenthürde überspringen). Somit haben auch kleinere Interessensgruppen einen Anreiz, sich unabhängig politisch zu organisieren. Im Ergebnis sind in Staaten, die nach dem Verhältniswahlrecht abstimmen, typischerweise zwei größere Sammlungs- oder Volksparteien und eine schwankende Zahl kleinerer Parteien parlamentarisch vertreten, wobei eine der beiden ersteren oft zu Koalitionen mit letzteren genötigt ist, um eine Mehrheit der Abgeordnetenstimmen zu erzielen.

Koalieren bis zum bitteren Ende
Was kommt nach der kleinen Dreier-Gro-Ko? Die noch kleinere grün-schwarz-rote Vierer-Ko.
Je näher die im Parlament vertretenen Parteien ideologisch beieinanderstehen, desto größer ist logischerweise die Bandbreite potentieller Koalitionen. Dies kann zu der vertrauten Situation führen, dass eine Regierungschefin mit ihrer Fraktion fast neun Prozentpunkte der Zweitstimmen verlieren und trotzdem noch so etwas wie einen Regierungsauftrag für sich ableiten kann, solange nur der Fundus an koalitionsfähigen kleineren Parteien, aus dem sie schöpfen kann, noch groß genug ist. Das heißt, das Verhältniswahlrecht schränkt die Möglichkeiten des Wählers, einen radikalen Regierungswechsel à la USA herbeizuführen, deutlich ein, insbesondere dann, wenn auch die SPD als zweite Sammlungspartei, die eigentlich mit der Union konkurrieren sollte, ebenfalls nur noch als kleiner Koalitionspartner wahrgenommen wird. Momentan nicht koalitionswillige Parteien wie die nun zweistellig im Bundestag vertretene AfD sind trotzdem sehr weit von einer eigenständigen Mehrheit entfernt, weshalb ihr Wahlerfolg – wie auch der von ähnlichen Parteien in anderen europäischen Demokratien – vornehmlich eine Signalfunktion für die Wähler an das politische Establishment erfüllt: So geht es nicht weiter – und mit euch erst recht nicht.

Denn sowohl in den USA, als auch in Deutschland ist die Ablehnung dieses Establishments auf hohes Niveau gewachsen. In Übersee stand Hillary Clinton wie keine andere für die seelenlose Machtpolitikerin, die sich mit Blick auf ihre Skandale schon längst in den Ruhestand hätte verabschieden sollen, während in Deutschland Angela Merkel auf ewig die Flüchtlingskrise anhängen wird als Prototyp des Vertrauensbruchs zwischen Politik und Volk.

Aber durch die Mehrdeutigkeit des deutschen Wahlsystems und die unklaren Machtverhältnisse dauert es in Deutschland ungleich länger, bis die Botschaft der Wähler durch die Institutionen und Parteien bis hinauf zur politischen Führungsspitze gewabert ist. Dies wird dem vielzitierten deutschen Wunsch nach Stabilität gerecht. Andererseits überschattet dieser Prozess politisch alle anderen Themen, bis er vollendet ist, was aktuell schon mehr als vier Monate in Anspruch nimmt. Merkels Partner, die SPD, die sich anschickte, die Kanzlerin humanitär noch zu überholen und die CSU, die in die Rolle einer letztendlich wirkungslosen Oppositionspartei innerhalb der Regierung gerutscht war, haben beide ihr Fett bereits wegbekommen.

CDU/CSU und SPD auf Schrumpfkurs
Den Volksparteien läuft das Volk weg
Martin Schulz wurde im Vergleich zu Hillary Clinton nicht nur am Wahlabend blamiert, er blamierte sich wenige Monate darauf erneut mit seiner Abkehr von seiner vorherigen Ankündigung, keine Große Koalition unter der Führung Angela Merkels mehr eingehen zu wollen. Die nächste Welle an Hohn und Spott brach über ihm zusammen, als er dann entgegen einer weiteren vergangenen Ankündigung auch noch einen Ministerposten in Merkels neuem Kabinett beanspruchte. Sein nun vom Rest der SPD-Führung erzwungener Abgang, den Schulz nur noch per schriftlicher Mitteilung bekanntzugeben in der Lage war, setzte den Schlusspunkt unter eine in der Bundesrepublik bisher einmalige politische Demontage. Vieles davon hatte sich Martin Schulz selbst eingebrockt, aber mittlerweile ist der Schadenfreude so umfänglich Genüge getan worden, dass man ihm glatt wünscht, eine verlorene Mehrheitswahl hätte im September einen kurzen, scharfen Schnitt gesetzt. Er wäre dabei besser weggekommen.

Mit Schulz hat es das schwächste Glied in der strapazierten Kette getroffen, die das postenverwöhnte Establishment der beiden „Volksparteien“ zum Zwecke des Machterhalts noch zusammenhält. Sein tiefer Fall in der SPD zeigt, dass es erstaunlicherweise möglich ist, die bis vor kurzem noch wichtigste Person einer Partei innerhalb von Wochen ins Nichts zu katapultieren. Aber auch der in Bayern geschasste Horst Seehofer sollte seinen Platz am Kabinettstisch besser noch nicht zu sicher wähnen. Neben Spekulationen über seinen Gesundheitszustand könnten auch seine Plaudereien darüber, wie er gleich drei verschiedene Ministerämter dem Innenminister (+Heimat) vorgezogen hätte, in diesen politisch angespannten Tagen für unerwartete Eruptionen sorgen.

Nach Grünen und PDS die AfD
Der Parteienstaat absorbiert ein weiteres Mitglied
Dieser Begriff der Eruption beschreibt den Takt der politischen Entwicklungen seit der Bundestagswahl tatsächlich äußerst treffend. Erst sah es nach der Wahl schon beinahe so aus, als liefe alles im System Merkel so weiter wie gehabt, als die Jamaika-Verhandlungen zu ihrem Abschluss gelangen sollten. Doch der unerwartete Ausstieg der FDP trat eine erste Aufwallung los, in der die Unzufriedenheit über das Kleben der geschäftsführenden Kanzlerin an ihrem Sessel hervorbrach. Dann schien mit den erfolgreichen Koalitionsverhandlungen zwischen Union und SPD alles unter Dach und Fach zu sein. Aber die Frustration innerhalb der SPD über die neuerliche GroKo gepaart mit der Eitelkeit ihres Vorsitzenden fegten den letzteren hinweg. Möchte noch jemand Geld darauf wetten, dass diese SPD eine Mehrheit für die Koalitionsvereinbarung zustande bekommt? Zu guter Letzt scheint auch die Kanzlerin endlich auf dem Deckel eines brodelnden Schnellkochtopfs genannt CDU zu sitzen. Ob und wann auch dieser vor Unzufriedenheit an die Decke gehen wird, ist genauso schlecht vorhersagbar wie die nächste Eruption eines echten Vulkans. Deshalb liegt derzeit ständig das Gefühl in der Luft, dass doch bald wieder etwas Außergewöhnliches passieren müsse.

Am ersten Morgen nach Trumps Wahlsieg war die Welt bereits eine andere. Deutschland holt nur auf. Erst wenn Merkel abgelöst worden ist, wird das Ergebnis der letzten Bundestagswahl vollumfänglich in die politische Realität umgesetzt worden sein – und das Land wird merken, welche Tortur es bis dahin hat erdulden müssen.

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Kommentare ( 99 )

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Pierre Pollak
6 Jahre her

Treffer!

Der Ketzer
6 Jahre her

In Cottbus ruft man schon wieder „Wir sind das Volk!“ … nach den Erfahrungen mit dem DDR-Regime ist man dort deutlich sensibler als im Westen.

nomsm
6 Jahre her

M.e. gibt es neben der Tatsache, dass es ein Mehrheitswahlrecht gibt, zwei weitaus wichtigere Elemente. Um ueberhaupt für eine Partei anzutreten, muss er den innerparteilichen Wahlkampf gewinnen. Auch hier stellt er sich direkt den Wählern und nicht irgendwelchen Funktionären. So war es überhaupt möglich, dass Trump für die Republikaner antreten konnte. Zudem gibt es eine strikte Trennung zwischen der Wahl der Executive und der Legeslative, anders als in Deutschland. Zudem müssen auch die Abgeordneten der Legeslative sich innerparteilichen Wahlen stellen, bevor sie für ihre Partei antreten dürfen. D.h. auch hier haben die Wähler der Partei einen Abgeordneten zu „bestrafen“, wenn… Mehr

Wolfgang M
6 Jahre her

Das deutsche Wahlsystem gefällt mir besser als das anglo-amerikanische Direktwahlsystem, weil es dort zu Kippeffekten kommen kann, die so nicht gewollt waren. Um das krasseste Beispiel als Denkanstoß zu bringen. Eine Partei erhält in jedem Wahlkreis 51% der stimmen. Dann besteht das Parlament zu 100% aus dieser Partei und 49% der Bevölkerung sind im Parlament nicht vertreten. Was wir aber benötigten, wäre mehr direkte Demokratie. Da wählt man nicht einen bunten Warenkorb mit mehrheitlich guten, aber auch schlechten Zielen, wie bei unseren Parlamentswahlen, sondern stimmt über einen einzigen Punkt ab. Bei den Wählern gibt es im Gegensatz zum Parlament keinen… Mehr

Sabine Ehrke
6 Jahre her

Die Anfänge sind getan … #120db und … komm nach Berlin! … beweg Dich, sonst bewegt sich nichts! https://twitter.com/skorbiene/status/958472044584284160

Jens Mehlhorn
6 Jahre her

Ich kann das nur unterschreiben. Die Leute muessen wieder auf die Straße, wie 1989. Also organisiert Euch, tut Euch zusammen. Lasst Euch von den Luegen der Politiker und MSM nicht mehr laenger beeinflussen. Die verbrauchten, müden, verlogenen Politikerpappnasen sind so fertig, es braucht nicht mehr soviel, um diese Laienspieltruppe endgültig von der Bühne der Tagespolitik hinwegzufegen. Worauf warten wir, auf Wen oder was??? Nein, jetzt ist der Zeitpunkt fuer Alle, die noch klar und unabhängig denken können UND WOLLEN!! Auf die Straße!! JETZT!! Ich glaube, das schaffen sogar die satten und traegen Wohlstandsbuerger in den alten Bundesländern. Mit vielen herzlichen… Mehr

Marc Hofmann
6 Jahre her

Merkel isoliert sich doch immer mehr…auch das Interview in „Berlin direkt“ hat wieder einmal mehr die Merkel als Person in den Mittelpunkt gestellt…der Merkel Kult wird immer mehr sichtbar…auch für die treusten CDU Anhänger….jeder sieht es..es geht schon lange nicht mehr um die Partei, das Land und die Bürger bzw. auch die einzelnen Politiker sondern nur noch um den Machterhalt der Grün-Sozialistischen Medien Merkel auf den Kanzleramt Stuhl. Die EU-NGO Marionette Merkel muss auf den Stuhl, im Kanzleramt, gehalten werden, damit man seine EU-NGO Politik über diese Merkel Marionette weiter an das Deutsche Volk verbreiten/aufzwingen kann.

hjh skeptisch
6 Jahre her

„…während in Deutschland Angela Merkel auf ewig die Flüchtlingskrise anhängen wird als Prototyp des Vertrauensbruchs zwischen Politik und Volk….“ Genau das ist dass Problem! Wir werden von UN-Politikern regiert, die sich einen Scheißdreck um den Willen des Volkes und die Wünsche der Bevölkerung kümmern! Diese UN-Politiker sind noch nicht einmal in der Lage, die aller erste Pflicht eines Staates, nämlich die Sicherung von Grenzen und Leben und Eigentum seiner Bürger, zu erfüllen. Nach eigenem Bekunden können sie, die UN-Politiker, die Grenzen nicht schützen! Neben Unfähigkeit kommen jetzt noch Gier nach Macht, Posten und Geld hinzu. Das wohl Deutschlands und der… Mehr

Herbert Grumbel
6 Jahre her
Antworten an  hjh skeptisch

…neue Politiker und direkte Demokratie in Form von verbindlichen Volksentscheiden und endlich wieder eine freie Presse/Medien.

Doris die kleine Raupe Nimmersatt
6 Jahre her

Angenommen, die GroKo kommt, erwarten uns 3,5 Jahre Parteienstress. Kühnert ist ganze drei Jahre jünger als Kurz, er wird nach der Aktion in die Posten der SPD drängen. Nahles versucht in der SPD Merkel nachzuspielen, es scheint dort gerade jeder gegen jeden gespielt zu werden. Die Hannover-Connection dürfte spätestens mit Scholz zerbrochen sein. Diese parteiinternen Querelen werden weiter gehen. Der Bürger wird zwar Merkel an der Spitze sehen, aber für vieles was ihn betrifft werden SPD-Minister verantwortlich sein. Das wird sich auf die Umfragewerte auswirken. In der CDU sind immer mehr unzufrieden mit Merkels Politikstil. Es ist notwendig jüngeren die… Mehr

Sonni
6 Jahre her

Bezugnehmend auf den Vergleich der verschiedenen Wahlrechte in den Ländern der Welt kann ich zumindest ein wenig vergleichen, denn ich habe auch eine bestimmte Zeit in Spanien und Belgien gelebt. Bei allen Vor- und Nachteilen komme ich jedoch zu dem Schluß, dass mir das Wahlrecht in Amerika besser gefällt. Der alte Filz in Europa ist mittlerweile fast mit den alten Monarchien in Europa vergleichbar und ähnlich schwer loszuwerden. Alles was ich gelernt und gelesen habe bekräftigt mich in meiner Meinung, dass die „Erfinder“ der Demokratie nicht das gemeint haben, was wir nun erdulden müssen. Das sich die größten Wahlverlierer nun… Mehr