Tichys Einblick
Kein Anlass zu heikel

Die alte und schlechte SPD-Idee von den Kinderrechten in der Verfassung

„Kinderrechte in die Verfassung“ fordern Sozialdemokraten seit Jahrzehnten, wenn sich ein Anlass an den Haaren herbeiziehen lässt. Ausgerechnet der letzte Missbrauchsfall sollte den liefern. Doch der ist gerade nicht auf fehlende Gesetze, sondern auf Versagen von Menschen und Behörden zurückzuführen.

imago images / Christian Spicker

Die parlamentarische Sommerpause droht, traditionell die Zeit, in der noch schnell der eine oder andere Kuhhandel, wie einst die „Ehe für Alle“ im Schnellschuss durch den Bundestag gepeitscht wird, bevor man in den Urlaub fährt. Gerade holt die SPD erneut das Thema „Kinderrechte in die Verfassung“ aus der allzeit bereitstehenden Mottenkiste nicht erledigter politischer Vorhaben.

Gut, man muss die SPD ein bisschen verstehen: Eine Partei, die nicht weiß, ob das Projekt „Einstellig“ demnächst politische Realität wird, hat keine Zeit zu verlieren. Wenn es mit den SPD-Umfragen und dem freudlosen Führungsduo Esken/Walter-Borjans so weiter geht, ist die „Alte Tante SPD“ spätestens zur nächsten Bundestagswahl erledigt und weit entfernt, noch einmal Regierungsverantwortung zu bekommen. Es ist also Gefahr im Verzug, will man noch ein paar Lieblings-Projekte in der aktuellen Legislaturperiode durchbekommen. „Kinderrechte in die Verfassung“ ist dabei ein Evergreen sozialistischer Familienpolitik, der seit über 25 Jahren und immer wieder hervorgeholt wird, wenn sich ein Anlass an den Haaren herbeiziehen lässt.

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Gerade schlägt die SPD-Justizministerin Christine Lambrecht eine Brücke zwischen dem unappetitlichen Thema Kindesmissbrauch und der Beschleunigung des Vorhabens „Kinderrechte in die Verfassung“. Erst kürzlich hatte Lambrecht den „Geburtstag“ des Grundgesetzes als Anlass aufgegriffen, um die Forderung nach Kinderrechten medial zu bekräftigen, am vergangenen Donnerstag war es nun die „Aktuelle Stunde“ im Bundestag zur Frage der effektiven Bekämpfung von sexuellem Missbrauch, die dafür herhalten musste, um schon wieder die Kinderrechte für die Verfassung zu thematisieren. Kein Thema ist offenbar zu heikel, um es zu instrumentalisieren. Dabei wirft gerade der aktuelle Aufhänger des Missbrauchsskandals in Münster das Scheinwerferlicht weniger auf fehlende Gesetzgebung, sondern eher auf menschliches und staatliches Versagen auf allen Ebenen.

Ausgelöst durch den Ende Mai aufgedeckten Fall eines 27-Jährigen Kinderschänders in Münster und mit ihm eines Rings von mindestens 18 weiteren pädokriminellen Tätern, ist zurecht im Parlament die Debatte entflammt, ob das Strafmaß für Kindesmissbrauch und auch für den Besitz von Kinderpornografie nicht endlich erhöht werden muss, schließlich geht der Produktion solcher Fotos und Videos ja immer die Tat eines Kinderschänders zuvor.

Jetzt fordert die Justizministerin also in derselben Debatte plötzlich, Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen. Explizit berief sich die Justizministerin in ihrer Rede wörtlich auf das Beispiel aus Münster, um die Forderung zu bekräftigen. Auch die Grüne Katja Dörner nutze dieselbe Debatte, um erneut die Forderung nach Kinderrechten zu wiederholen.

Der Fall Münster ist als Aufhänger nun deswegen pikant, weil er in Wahrheit nicht nur ein aufgedeckter Missbrauchsskandal ist, sondern faktisch ein grauenhaftes Versagen von Jugendamt und Gerichten darstellt. Der nun gefasste Täter Adrian V. lebt bereits seit Jahren mit einer Frau und deren Sohn zusammen, ohne dass das Jugendamt ihn daran hinderte, obwohl es sowohl 2015 als auch 2017 bereits gegen ihn Gerichtsverfahren und Verurteilungen wegen des Besitzes von Kinderpornografie auch mit sehr brutalen Videos gab. Leider bekam der Täter nur Bewährungsstrafen, was ihn de facto freistellte, einfach weiterzumachen.

Niemand interessierte sich offenbar ernsthaft dafür, ob es nicht irgendwie schwierig ist, dass ein verurteilter Mann mit pädophilen Neigungen mit einem kleinen Jungen in häuslicher Gemeinschaft lebt. 2015 war ein Familiengericht eingeschaltet, das klären sollte, ob der Junge gefährdet sei. Niemand vor Gericht hielt es für nötig, ihn auch nur zu begutachten, geschweige denn zu befragen. 2017 schaltet das Jugendamt, nachdem wieder ein Verfahren gegen Adrian V. anhängig war, die „Clearingstelle Kinderschutz“ ein, diese kam zu dem Entschluss, dass die Mutter den Jungen ausreichend schütze. Übrig geblieben ist zwischen allen Stühlen ein inzwischen Zehnjähriger, der durch den Freund der Mutter missbraucht wurde, und den man auch anderen Tätern zum Missbrauch zugeführt hat.

Es ist nun nahezu perfide, hier die Kinderrechte ins Spiel zu bringen, so als hätte ein Grundrechts-Artikel mit verbrieften Kinderechten irgendetwas in Münster oder sonst bei einem Missbrauchsfall verhindern können. Wenn eine Mutter, ein Jugendamt, ein Familiengericht und auch eine extra eingesetzte Kinderschutz-Stelle allesamt und gleichzeitig ihre Pflichten missachten, die ihnen im Namen des Kindeswohls jetzt bereits auferlegt sind, was hätte dem Jungen also ein Verfassungsrecht gebracht, außer, dass er es sich an die Wand hängen kann? Und zwar neben all die anderen Jugendschutz-Gesetze, die hier missachtet und nicht angewendet wurden. Instrumente, die bereits existieren, aber nicht ausgeschöpft wurden.

Wir haben hier ein Versagen des Jugendamtes vorliegen, ein Versagen des Familiengerichtes und ein Versagen der Mutter. Dieser Junge ist ein Mensch und besitzt damit wie alle Kinder, alle Menschenrechte der Verfassung. Er braucht kein neues Gesetz, sondern eventuell ein neues Zuhause, einen neuen Vormund und vor allem eine Justiz und ein Jugendamt, die ihre Jobs machen. Niemals hat jemand die bereits jetzt verbrieften Menschenrechte des Jungen negiert, man hat sie schlicht missachtet.

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Dass die Justizministerin hier dennoch nach Kinderrechten ruft, lässt nur zwei alternative Schlüsse zu: Sie hat als Juristin keine Ahnung, dass hier bereits geltendes Recht zum Schutz des Kindeswohls schlicht nicht angewandt wurde, was ihre Qualifikation als Justizministerin, vorsichtig formuliert, in Frage stellt. Oder sie weiß es sehr wohl, konnte aber die Gelegenheit nicht verstreichen lassen, das Thema Kinderrechte mitzunehmen, weil es sich doch so hübsch anbot, jetzt wo alle entsetzt und erschüttert sind und deswegen vielleicht williger, auch über den Kinderrechten endlich den Sack zu zu machen. Man könnte auch noch eine dritte Alternative erwägen: Dass hier mit dem lauten Ruf nach Kinderrechten die mögliche Frage übertönt werden soll, welche Verantwortung eine Justizministerin trägt, wenn im Justiz-System derart eklatante Schwächen sichtbar werden.

Dramatische Fälle vernachlässigter Kinder als Stichwortgeber für „Kinderrechte“ zu nutzen, ist ein Schema, das auch die ehemalige Familienministerin Manuela Schwesig übrigens wunderbar beherrschte. Als im Jahr 2012 die Nation unter Schock stand, weil in Hamburg die kleine Chantal an einer Überdosis Methadon gestorben war, erfreute sie uns im Deutschlandradio in Konsequenz dieses Falles mit der Forderung, man brauche Kinderrechte im Grundgesetz, denn oftmals seien „Elternrechte oder andere Rechte höher als die Kinderrechte“ und das halte sie für falsch. Sie schob gar noch nach: „Das Betreuungsgeld, das gezahlt werden soll, ist auch eine Gefahr für den Kinderschutz“. Das war ein kurzer Bogen von der toten Chantal, über das Betreuungsgeld als pauschale Gefahr für Kinder, weil sie dann zu Hause bei ihren Eltern und nicht in einer Kita sind, bis hin zu nötigen Kinderrechten. Sowas muss man sich erstmal einfallen lassen.

Was Schwesig damals vergaß zu erwähnen, war die Tatsache, dass die arme Chantal vom Jugendamt bei methadonsüchtigen Pflegeeltern untergebracht worden war. Warum, weiß wohl nur das Jugendamt. Auch hier hat nicht die Verfassung, sondern eklatant das Jugendamt versagt, weil Chantal nicht mit weiteren Grundrechten in der Verfassung zu helfen gewesen wäre, aber wohl mit Pflegeltern, die nicht auf Drogen sind.

All diese Beispiele taugen also nicht als Begründung dafür, gesonderte Kinderrechte in die Verfassung aufzunehmen, stellen aber zurecht die Frage in den Raum, wieviel Unfähigkeit, Unwissen und Gleichgültigkeit gegenüber dem Kindeswohl bei Jugendämtern oder auch vor Familiengerichten herrscht.

Sieht man sich die Statistiken bei den Verurteilten in Missbrauchsverfahren an, stellt sich als Mensch mit einem halbwegs intakten Gerechtigkeitsempfinden bereits seit langem die Frage, wieso Kinderschänder in diesem Land bei der Bemessung des Strafmaßes so zuverlässig auf entgegenkommende Milde bei Richtern setzen können?

Wie etwa der Gymnasiallehrer in Niedersachsen, im Jahr 2020 verurteilt wegen Missbrauch seines eigenen, zweijährigen Sohnes und Besitz von 29.000 Dateien Kinderpornografie: Er bekam zwei Jahre, netterweise nur auf Bewährung. Und er soll eine Therapie machen und sich von Spielplätzen fernhalten. Hoffentlich auch von Schulhöfen und vom Darknet. Wer kontrolliert das?

Selbst die Justizministerin wies in der Bundestagsdebatte darauf hin, dass nur bei 0,5 Prozent aller Verurteilungen wegen „schwerem Kindesmissbrauch“ der Strafrahmen von 10 bis 15 Jahren Haft ausgereizt wird. Viele Strafen würden außerdem zur Bewährung ausgesetzt.

Konkret listete es die Rednerin Harder-Kühnel von der AfD beispielhaft für das Jahr 2018 in ihrer Rede im Bundestag auf: Verurteilte Täter wegen schweren, sexuellen Missbrauchs: 464. Davon haben 143 Täter nur eine milde Strafe zwischen 6 Monaten und 2 Jahren bekommen, aber am unverständlichsten ist: Von diesen 143 Tätern haben 97,7 Prozent nur eine Bewährungsstrafe erhalten. Die Kindesmissbraucher dieser Welt kommen mit Bewährung davon und können weitermachen oder sich gar steigern, wie es in diesem Fall auch war: Kinderpornografie war nur die „Einstiegsdroge“, man vernetzt sich mit Artgenossen, tauscht Bilder und Erfahrungen und irgendwann legt der Täter dann auch selbst Hand an ein Kind. Und wo vorher „nur“ Bilder herumgereicht wurden, werden später auch Kinder herumgereicht. Es ist ekelhaft.

Und nun ist es nahezu scheinheilig, wenn die Justizministerin in der Debatte vor dem Bundestag plötzlich selbst härtere Strafen fordert und auch die Umwandlung des Besitzes von Kinderpornografie von einfachem Vergehen zu einem Verbrechen – was für das Strafmaß eine erhebliche Konsequenz bedeutet – denn noch eine Woche zuvor hatte die selbe Justizministerin sich vehement gegen eine Verschärfung der Gesetzeslage gewehrt. Gegenüber der Bild-Zeitung lehnte sie es noch explizit ab, den sexuellen Missbrauch von Kindern grundsätzlich als Verbrechen und nicht mehr als Vergehen zu klassifizieren, sie befürchtete dadurch zu harte Strafen für minder schwere Fälle. Gerichte könnten dann auf „Straftaten mit einem nur geringen Unrechtsgehalt nicht angemessen reagieren“ und als Beispiel nannte sie „einen Zungenkuss zwischen einem 13- und 14-Jährigen“.

Auch hier bleiben nur zwei Alternativen: Entweder die Justizministerin hält die versammelte Richterschaft in Deutschland für unfähig, bei der Erfassung des Tatbestandes zwischen dem Rumgeknutsche von Teenagern und dem sexuellen Übergriff eines Erwachsenen auf ein Kind unterscheiden zu können, oder sie weiß sehr wohl, dass das möglich ist, wollte aber nicht handeln. Selbst der Vorsitzende der Deutschen Kinderhilfe, Rainer Becker forderte nach dieser irrsinigen Erklärung den Rücktritt der Ministerin.

NRW-Innenminister Reul beklagte, es läge schon seit einem Jahr ein einhelliger Beschluss der Innenministerkonferenz der Länder vor, um den Besitz von Kinderpornografie endlich nicht mehr als kleines Vergehen, sondern als Verbrechen einzustufen, diejenige, die bei dem Thema “nicht aus dem Quark“ käme, sei die zuständige Justizministerin Lambrecht.

Lambrecht entschied sich daraufhin für die Strategie des „plötzlichen Sinneswandels“ und markiert nach einer 180-Grad-Wende nun lautstark, wenn auch wenig glaubwürdig, die Spitze der Bewegung frei nach dem Motto: Was du nicht verhindern kannst, musst du anführen und wenn es gut läuft, kann man die Kinderrechte im Vorbeilaufen auch noch mit unterbringen.

Niemand hat vor allem die SPD in den vergangenen Jahren daran gehindert, die Bestrafung von sexuellem Missbrauch bei Kindern deutlicher unter Strafe zu stellen oder auch in Rechtsprechung, bei der Richterausbildung und in den Jugendämtern dafür zu sorgen, dass das Thema Kindesmissbrauch an erster Stelle steht. Im Gegenteil, seit vielen Jahren sind sowohl das zuständige Familienministerium als auch das zuständige Justizministerium in SPD-Hand. Sie hatten die Verantwortung und die Gelegenheit.

Das Familienministerium war mit Manuela Schwesig, Katarina Barley und Franziska Giffey seit 2013 bei der SPD angesiedelt. Das Justizministerium war von 1998 bis 2009 in der Hand von Herta Däubler-Gmelin und Brigitte Zypries, und seit 2013 ist es mit Heiko Maas, Katarina Barley und jetzt mit Christine Lambrecht wieder kontinuierlich SPD-geführt.

Möglicherweise hatte aber gerade die SPD eine gewisse Ladehemmung beim Thema, war man doch als Partei im Jahr 2014 durch die Affäre des Sebastian Edathy, einst Bundestagsabgeordneter der SPD, dem damals der Besitz von Kinderpornografie vorgeworfen wurde, etwas gehandicapt, sich in diesem Themenkomplex zu profilieren. Edathy verlor sein Bundestagsmandat und 5.000 Euro, mit denen das Verfahren eingestellt wurde. Die SPD verlor vor allem an Glaubwürdigkeit, da auch im extra einberufenen Untersuchungsausschuss nicht final geklärt werden konnte, ob Edathy vor seinen Hausdurchsuchungen durch Mitglieder des SPD-Vorstandes gewarnt worden war.

Es ist jetzt allerdings mehr als scheinheilig, als Retter des Kinderseelen aufzutreten, nur weil man hofft, das Thema Kinderrechte irgendwie parallel mit einschleusen zu können, nachdem man jahrelang die Chance hatte zu handeln, es aber nicht tat.
Wer Kinder besser schützen will, kann das jetzt sofort im Bundestag beschließen, ohne das Thema Kinderrechte an den Missbrauch zu koppeln. Es gibt eine breite politische Basis dafür, man darf gespannt sein, ob es nun kurzfristig vor dem Sommerloch doch noch kommt. Ob die Einsicht für schärfere Strafen bei allen Justizexperten der Politik derweil wirklich vorhanden ist, darf angezweifelt werden. Noch Anfang Juni gab die ehemalige SPD-Justizministerin Zypries der BILD ebenfalls ein Interview. Auf die Frage, ob unsere bisherigen Strafen zu lasch seien, antwortete sie, nein fände sie ehrlicherweise nicht. In schweren Fällen gäbe es ja mindestens ein Jahr (!) Für die „normalen leichten Fälle“ wie „das Berühren der kindlichen Genitalien“, war für sie die Stufe des Vergehens mit geringerer Strafe angemessen und sollte bleiben, wie es ist.

Nun weiß ich nicht, wie es anderen geht, aber allein die Worte „normale leichte Fälle“ im Zusammenhang mit „Kindesmissbrauch“ passen für mich als Mutter, aber auch als Mensch, nicht zusammen in einen Satz. In diesem Land wird viel davon geredet, dass man den Anfängen wehren müsse. Allein schon der Besitz von Kinderpornografie – und wofür sonst sollte man das besitzen wollen, wenn nicht zum Konsum? – setzt voraus, dass ein anderer Kinder missbraucht und das fotografiert oder filmt. Jeder Konsument eines Fotos nimmt in Kauf und begünstigt, dass andere dafür Straftaten an unschuldigen Kindern begehen. Mit Verlaub, aber da gibt es kein normal.

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