Tichys Einblick
Rede des Bundespräsidenten

Der Geschichtsschinder geht um

Die Bundespräsidentenrede zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit ist ein Skandal: Steinmeier versucht sich als oberster Agitprop-Historiker

imago Images/photothek

Als der Bundespräsidentenkandidat Frank-Walter Steinmeier ausgeklüngelt wurde, unter anderem in einer süddeutschen Staatskanzlei und gegen den Willen Angela Merkels, die damals unbedingt eine Grünen-Politikerin wollte, meinte einer seiner Unterstützer, der Sozialdemokrat habe zwar noch nie einen Satz von Erinnerungswert gesagt, aber auch noch nie etwas Falsches. Bei seinen künftigen Präsidentenreden könnte man also ganz ruhig bleiben.

So stellte sich damals die Ausgangslage dar. Die Erwartungen lagen nicht hoch. Die grotesk entgleiste Rede des Bundespräsidenten zum 30. Jahrestag der deutschen Einheit in Potsdam übertrifft beziehungsweise unterbietet nun alles, was Steinmeier bisher auf historischem und gesellschaftspolitischen Gebiet vorgetragen hatte.
Und das war schon in der Vergangenheit einiges. Bei Steinmeiers Ansprache im Thomas-Mann-Haus in Pacific Palisades 2018, um ein frühes Beispiel herauszugreifen, drängte sich dem Zuhörer die Frage auf: Wer im Schloss Bellevue schreibt eigentlich seine Reden? Und spielt das Staatsoberhaupt eigentlich wie eine Jukebox jeden Text ab, mit dem ihn irgendjemand füttert? In Pacific Palisades sprach er zur Einweihung des restaurierten Thomas-Mann-Hauses. Bei diesem Anlass hätte sein Publikum, nun ja, ein wenig Spracharbeit erwarten können. Stattdessen fügte sich ein Rhetorikschrott an den nächsten, von der „faschistischen Verführbarkeit der Deutschen“ beispielsweise – also eine Adjektivverwendung ähnlich wie in „humanitärer Katastrophe“ oder „demokratische Zumutung“ (A. Merkel) – , bis zur Warnung vor „selbsternannten Kämpfern gegen die sogenannten ‚Eliten’“.

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Leider klärte der Präsident nicht darüber auf, wer Kämpfer gegen die Eliten ernennt, und warum es sich nur um so genannte Eliten handelt. Gibt es gar keine richtigen? Den „Zauberberg“ Thomas Manns, dem das Staatsoberhaupt sich aus unerfindlichen Gründen näherte, schrieb er – beziehungsweise sein Redenautor – seinerzeit mal eben um:
„In der jungen Weimarer Republik erwacht Thomas Mann aus dem völkischen Rausch. Im Zauberberg lässt er das Aufgeklärt-Rationale des Settembrini und das Völkisch-Irrationale des Naphta zum imaginären Wettstreit um die ‚deutsche Seele’ Hans Castorps antreten.“

Bei Leo Naphta, dem Steinmeier eine völkische Gesinnung anhängt, handelt es sich bei Thomas Mann um einen galizischen Juden und Jesuiten mit einer Liebe für das Mittelalter bei gleichzeitiger Sympathie für die Diktatur des Proletariats, er ist also ungefähr eine so völkische Figur wie Steinmeier ein literarischer Feingeist. Wer einen Roman im früheren Haus des Autors kontrafaktisch umdichten und in sein bundespräsidiales Raster von Hell und Dunkel quetschen kann, der wagt sich irgendwann auch an größere Brocken. Warum also am Nationalfeiertag nicht die Nationalgeschichte ein bisschen umarbeiten?

Mit der DDR, die vor dreißig Jahren endete, ist Steinmeier in seiner Rede schnell fertig. Das Kürzel SED kommt nicht vor, auch kein Wort zur Machtstruktur und zur tragenden Ideologie. Und nur eine kurze abschließende Formel (Roland Barthes) zur Gegenwart: „Ja, wir leben heute in dem besten Deutschland, das es jemals gegeben hat.“ Wenn die Staatsspitze das höchstselbst feststellt, wird es wohl stimmen. Darauf folgt die montypythonhafte Überleitung and now for something completely different:
„Jubiläen großer historischer Wendepunkte stehen für sich allein – meistens. In diesem Jahr hat das Gedenken an die nationale Einheit ein doppeltes Gesicht. Es ist ein denkwürdiger Zufall, dass sich ausgerechnet zum 30. Geburtstag der Wiedervereinigung auch die Gründung des ersten Nationalstaates vor 150 Jahren jährt. Dieser Zufall schärft unseren Blick. Denn wie gegensätzlich waren beide Ereignisse, wie verschieden die Ideen, die ihnen zugrunde lagen.“

Unhistorische und unaufrichtige Feierstunde
Angela Merkel lacht
Seltsam, bisher stehen als Daten der Reichsgründung der 1. Januar 1871 – die Verabschiedung der Verfassung – und die Kaiserproklamation am 18. Januar 1871 in den Geschichtsbüchern. Dreißig Jahre Einheit und Ausrufung des Kaiserreichs fallen also weder im Oktober noch überhaupt in diesem Jahr zusammen, schon gar nicht ausgerechnet. „Dieser Zufall schärft unseren Blick.“ Je nun. Er möchte also zum Festakt eigentlich nicht über die DDR, sondern unbedingt über das Kaiserreich reden. Das klingt dann so:
„Die nationale Einheit 1871 wurde brutal erzwungen, mit Eisen und Blut, nach Kriegen mit unseren Nachbarn, gestützt auf die preußische Dominanz, auf Militarismus und Nationalismus.“ Etwas später spricht er von „Säbelrasseln und Eroberungskriegen“.

Brutal erzwungen? Eroberungskriege, gleich im Plural? Marschierte damals preußisches Militär in Sachsen und Bayern ein? Zur Erinnerung: Im Sommer 1870 bemühten sich die seit 1868 herrschenden spanischen Offiziere unter dem Putschisten Juan Prim immer noch um einen neuen König. Dafür fassten sie nach mehreren Absagen aus anderen Herrscherhäusern Leopold von Hohenzollern-Sigmaringen ins Auge, Spross der katholischen Seitenlinie der Hohenzollern und Schwiegersohn des portugiesischen Königs. Leopold schien zunächst nicht abgeneigt. Die Regierung in Paris sah die bloße Aussicht auf Hohenzollern links und rechts von Frankreich als Provokation und verlangte von dem preußischen König Wilhelm I, Leopold die Kandidatur zu untersagen. Der Preuße erklärte Frankreichs Botschafter Graf Vincent Benedetti zwar, das liege nicht in seiner Befugnis, allerdings war er nicht gewillt, Leopold zu ermutigen. Der sagte am 12. Juli endgültig ab. Damit hätte es sein Bewenden haben können. Das reichte Paris allerdings nicht, Außenminister Gramont forderte von Wilhelm I. eine öffentliche Garantie, nie wieder einen Thronkandidaten des Hauses Hohenzollern zu unterstützen – also eine förmliche Unterwerfung Preußens unter die französische Vormachtstellung. Als der König das gegenüber Benedetti am 13. Juli 1870 auf der Kurpromenade von Bad Ems erwartungsgemäß abgelehnt und Bismarck den Vorgang presseöffentlich gemacht hatte, beschloss das Kabinett in Paris am Tag darauf die Mobilmachung, am 19. Juli erklärte es Preußen den Krieg. Einen Präventivschlag gegen den als zu mächtig empfundenen Nachbarn wünschten führende französische Kreise seit langem, spätestens seit dem Sieg Preußens über Österreich in Königgrätz 1866.

Eine Parole der Machtpolitiker lautete „Revanche pour Sadova“ (die Schlacht von Königgrätz hieß in Frankreich nach dem Dorf Sadowa). Ein Ziel des Feldzugs bestand darin, Frankreichs Grenze an den Rhein zu verlegen. Der Krieg begann mit einem französischen Vorstoß auf Saarbrücken, endete vorläufig mit der Schlacht von Sedan (1. und 2. September 1870), der Gefangennahme und Abdankung des Kaisers Napoleon III. und endgültig mit der Kapitulation der daraufhin entstandenen Republik, die den Krieg zunächst fortsetzte. Den von Frankreich begonnenen Krieg führten die deutschen Länder erfolgreich, weil ihre Einigung mit dem Norddeutschen Bund unter Preußens Führung (1867) schon weit fortgeschritten war und die Bündnisverträge mit Bayern, Württemberg und Baden griffen. Aus der Abwehr eines französischen Eroberungskriegs eine „brutal erzwungene“ Reichseinigung durch Preußen zu machen, „gestützt auf Militarismus und Nationalismus“, als hätte es den exklusiv auf deutscher Seite gegeben und nirgends sonst – eine so bizarre Geschichtsverdrehung fabrizierten noch nicht einmal DDR-Historiker. Aber damit endet Steinmeiers Parallelhistorie noch lange nicht:
„Wie grundsätzlich verschieden war 1871 von 1990. Mit eiserner Hand wurde im Kaiserreich nach innen durchregiert. Katholiken, Sozialisten, Juden galten als ‚Reichsfeinde’, wurden verfolgt, ausgegrenzt, eingesperrt; Frauen blieben von politischer Mitbestimmung ausgeschlossen.“

Spätestens hier muss man sich fragen: Ist der Mann irre? Juden als verfolgte Reichsfeinde, die, wie er insinuiert, eingesperrt wurden weil sie Juden waren? Beginnen wir mit dem Antisemitismus, der im Deutschen Kaiserreich tatsächlich existierte, und der Stellung der Juden ab 1871. Der Weg zur Emanzipation der Juden in Preußen war in der Tat lang. Am 15. Juni 1847 sagte Otto von Bismarck im Preußischen Landtag: „Ich bin kein Feind der Juden … Ich liebe sie sogar unter Umständen. Ich gönne ihnen auch alle Rechte, nur nicht das, in einem christlichen Staate ein obrigkeitliches Amt zu bekleiden. Ich gestehe ein, dass ich voller Vorurteile stecke, ich habe sie … mit der Muttermilch eingesogen … Ich teile die mit der Masse der niederen Schichten des Volkes und schäme mich dieser Gesellschaft nicht.“ Ganz nebenbei: Welcher Politiker würde heute seine eigenen Vorurteile und Ambivalenzen öffentlich so aufblättern, wie es der damalige Abgeordnete Bismarck tat?

Schon als Kanzler des Norddeutschen Bundes dachte Bismarck anders als der Juncker von 1847, er unterzeichnete 1869 das Gesetz zur rechtlichen Gleichstellung der Juden: „Alle noch bestehenden, aus der Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses hergeleiteten Beschränkungen der bürgerlichen und staatsbürgerlichen Rechte werden hierdurch aufgehoben“. Die Verfassung von 1871 übernahm dieses Emanzipationsgesetz. Trotzdem gab es im Reich Antisemitismus, keine Frage. Wie stark er war, ließ sich an der so genannten Judenpetition von 1880 messen. Trotz prominenter Fürsprecher wie des Hofpredigers Adolf Stoecker und des Pianisten Hans von Bülow erreichte die Forderung, Juden die bürgerlichen Rechte weitgehend zu nehmen, reichsweit gerade 225 000 Unterschriften – bei einer Bevölkerung von gut 45 Millionen. In Süddeutschland fand der Vorstoß nur eine minimale Resonanz. Bismarck ließ erklären, seine Regierung gedenke an der rechtlichen Stellung von Juden nichts zu ändern.

In den Äußerungen von Kaiser Wilhelm II. finden sich judenfeindliche Äußerungen, aber auch judenfreundliche. Wer die Briefe und sonstigen Aufzeichnungen des Jugendfreundes Philipp zu Eulenburg ein wenig kennt, der weiß, dass Majestät, sprunghaft und leicht beeinflussbar, zuweilen nicht nur dreimal am Tag die Uniform wechselte, sondern auch mehrmals seine Meinung zu allem möglichen. Umso interessanter der Blick auf das, was bei ihm länger hielt. Etwa seine Freundschaft zu dem jüdischen Reeder Albert Ballin. Ihn besuchte er sogar in dessen Hamburger Villa und durchbrach damit die ungeschriebene Regel, nach der sich ein König und Kaiser nicht als Besucher in ein bürgerliches Haus begibt. Für den Kreis der jüdischen Freunde und Bekannten um Wilhelm II., Walther Rathenau, den Mäzen James Simon und andere prägte der spätere israelische Staatspräsident Chaim Weizmann den Begriff „Kaiserjuden“. Im Jahr 1907 ernannte der Kaiser den aus einer jüdischen Familie und zum Protestantismus konvertierten Bankier Bernhard Dernburg zum Chef des Reichskolonialamtes, den jüdischen Bankier Eduard Arnhold berief er 1913 zum Mitglied des Preußischen Herrenhaus. Das alles macht den Antisemitismus im kaiserlichen Deutschland nicht zur Marginalie, aber es gehört eben zum ganzen Bild. In der Elite des Reichs pflegten etliche Adlige und Bürgerliche antijüdische Vorurteile, allerdings muss man lange suchen, um derartig hasszerfressene antisemitische Ausfälle zu finden wie bei Karl Marx, der Lassalle einen „jiddischen Nigger“ nannte.

Und fraglos gab es das Sozialistengesetz und den Kulturkampf gegen die katholische Kirche, die „Ultramontanen“. Aber Sozialdemokraten konnten sich unter nur leichter Tarnung als Sportvereine oder Klubs weiter treffen und als Einzelkandidaten erfolgreich für Parlamente kandidieren. Die in der Schweiz gedruckte Zeitung „Der Sozialdemokrat“ fand durch das von Julius Motteler organisierte Vertriebssystem ihre Adressaten im ganzen Reich. Sowohl die Regierung als auch die anderen Parteien achteten strikt darauf, die Sozialdemokraten nicht durch das parlamentarische Prozedere zu bekämpfen. Der Hinweis ist deshalb nicht uninteressant, da im besten Deutschland aller Zeiten die Bundestagsmehrheit der größten Oppositionspartei seit drei Jahren die Position eines stellvertretenden Parlamentspräsidenten verweigert. Im Jahr 1890 fiel das Sozialistengesetz; schon bei den Reichstagswahlen 1887 hatten die Kandidaten der eigentlich noch verbotenen Partei mehr als 700 000 Stimmen bekommen. Das war möglich, weil eben nicht, wie Steinmeier wähnt, „mit eiserner Hand durchregiert wurde“.

Der ebenfalls fruchtlose Kulturkampf endete mit der Ära von Wilhelm II. Dessen erste Auslandsreise führte ihn im Oktober 1888 demonstrativ nach Rom zum italienischen König und dessen Regierung, aber auch zu Papst Leo XIII. Ressentiments gegen Juden, Verfolgung von Sozialdemokraten und Katholiken, das alles findet sich also in der Kaiserreichsgeschichte, aber eben auch vieles andere, es ergibt sich ein komplexes historisches Bild aus vielen Schichten. Bei Steinmeier wird es zur plumpen Karikatur, zu einer Aneinanderreihung agitatorischer Überschriften ohne jeden Willen zur Ambivalenz.

„Es war ein kurzer Weg von der Gründung des Kaiserreichs bis zur Katastrophe des Ersten Weltkrieges“, behauptet Steinmeier in seiner Abrechnung. Was schon kalendarisch nicht stimmt, der Weltkrieg kam erst nach mehr als vier Jahrzehnten bei einer Gesamtdauer der Monarchie von 47 Jahren. Und es gab eben nicht den einen schon 1871 vorgezeichneten „Weg“ in den Weltkrieg. Der Bundespräsident scheint sich an die Alleinschuldthese von Fritz Fischer zu klammern („Griff nach der Weltmacht“, 1961), die heute kein ernstzunehmender Historiker mehr vertritt. Aber wer in Preußen-Deutschland schon den Kriegsschuldigen von 1871 sieht, für den muss Fischer zwangsläufig Goldstandard sein.

Noch ein Wort zu den im Kaiserreich von der Politik ausgeschlossenen Frauen: Sie konnten Mitglied von Parteien und Vereinen sein, bekamen allerdings erst im November 1918 das allgemeine Stimmrecht. Da hat Steinmeier Recht, wie nur ein Rechthaber rechthaben kann. Damit gehörte das Deutsche Reich allerdings zu den Staaten in Europa, die das Frauenwahlrecht früh einführten. In Großbritannien war das erst 1928 der Fall, in Frankreich 1944, in der Schweiz 1971. Trotzdem würde niemand bei Sinnen das Vereinigte Königreich, Frankreich und die Schweiz vor dem jeweiligen Zeitpunkt als Halbdiktatur zeichnen, wie es Steinmeier mit dem kaiserlichen Deutschland tut.

Furchtloser Historiker und Gegenwartsdeuter
Die dünne Goldschicht unserer Freiheit
Entweder besitzt Steinmeier (beziehungsweise sein Redenschreiber) überhaupt kein tieferes Geschichtsbild, sondern nur einen Zettelkasten voller einseitig sortierter Sekundärquellen. Oder er will dieses mit breitestem Pinsel à la Parteilehrjahr gekleisterte Historiengemälde unbedingt zum Nationalfeiertag abliefern, obwohl er weiß, welchen Schund er produziert. Bleibt das Rätsel: Warum arbeitet sich das Staatsoberhaupt am 3. Oktober überhaupt am Kaiserreich ab, als hätte vor dreißig Jahren nicht die DDR endgültig abgedankt, sondern Wilhelm der Letzte? Damit der Redner nicht über die DDR sprechen muss? Gibt es dafür einen Grund?

In einer Sonderausgabe der „Blätter für deutsche und internationale Politik“, erschienen in dem von der DDR verdeckt finanzierten Pahl-Rugenstein-Verlag, schrieb der nicht mehr ganz junge Jurist Frank-Walter Steinmeier 1990
über die bevorstehende und von ihm abgelehnte Vereinigung der beiden deutschen Staaten: „Es führt keine demokratische Brücke von der Verfassung der BRD zur Verfassung des neuen Deutschland.“. Eine Vereinigung ginge zu Lasten der DDR, denn die bekäme „nicht einmal die Chance, ihre Geschichte, ihre Besonderheit, ihre Utopien, vielleicht ihre Identität in den Einigungsprozeß einzubringen“.

Der Steinmeier von 1990 klingt mehr oder weniger wie der von 2020. Es ist die gleiche auf schweren Füßen dahin stampfende undialektische Sprache, in der sich kein Begriff intellektuell entwickelt. Dass diejenigen, die im Oktober 1989 in Leipzig auf die Straße gegangen waren, unter ‚Utopien’ vielleicht etwas anderes verstanden als ein Redakteur des Neuen Deutschland, kam ihm offenbar gar nicht in den Sinn.
Bei vielen Gelegenheiten servierte Steinmeier bisher seine Redephrase, wir müssten in Ost und West einander unsere Geschichten erzählen. Die Geschichte, wie er als typischer Vertreter des westdeutschen linken Lagers 1990 die Einheit nicht wollte, erzählt er leider nie. Schade, denn die wäre möglicherweise sogar interessant. Sein Lob für „Mut und die Entschiedenheit der Bürgerrechtler und der Friedlichen Revolutionäre“ wäre dann nicht ganz so hohl durch seine Potsdamer Ansprache geklappert.

In seiner Rede im Thomas-Mann-Haus 2018 meinte Steinmeier, der Weg des Schriftstellers vom Autor der „Betrachtungen eines Unpolitischen“ zum Verteidiger der Demokratie lehre ihn, den Bundespräsidenten, „Demut“. Das bleibt wie alles bei Steinmeier eine rhetorische Pappfigur. Einen „Präsident der Phrasen“ hatte ihn die „Neue Zürcher Zeitung“ vor einiger Zeit genannt. Spätestens seit seiner Einheitsfeierrede reicht diese Kennzeichnung nicht mehr. Er ist auch der Präsident der Geschichtsverdrehung, des agitatorischen Eifers, des Ressentiments. Einer, der es fertigbringt, über die Vereinigung von 1990 zu sprechen, ohne dabei den Namen Helmut Kohls auch nur zu erwähnen. Im Bundespräsidialamt arbeiten auch kundige, gebildete Beamte. Schämen sie sich manchmal für diese Figur an der Hausspitze?

Und in den großen Redaktionen des Landes: Warum schneidet dort keiner diesen Sulz aus Geschichtsschinderei und bräsiger Selbstbestätigung in Scheiben? Weil das, wie wahrscheinlich jemand am Konferenztisch steinmeieresk mahnt, nur wieder Wasser auf den Mühlen der Falschen wäre?

„Die öffentliche Meinung ist oft von großer Langmut gegenüber mangelnder Sorgfaltspflicht im Umgang mit Fakten, und die Demokratie ist es auch: Man darf alles meinen und glauben, allerdings kann und sollte man nicht erwarten, dass das folgenlos bleibt“, redete Steinmeier kurz nach seiner Einheitsfeieransprache vor Führungskräften des Springer-Verlags.

Für ihn bleibt es folgenlos. Um auf den Eingangs zitierten Politiker zurückzukommen: Bei Steinmeier können sich alle sicher sein, dass er weiter das Kaiserreich, Trump, die Opposition und alle Selbsternannten kritisieren wird, aber nie ein Wort fallen lässt, mit dem er das Juste Milieu im Regierungsviertel verärgern könnte. Schließlich möchte er wiedergewählt werden.

Er kann noch so viele falsche, schiefe und groteske Sätze sagen – etwas in diesem Sinn Falsches sagt er nie.

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